Ausgabe #4
Dezember 2012

Supermarkt

Supermarkt

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Editorial
Barbara Mauck

Editorial zur Ausgabe «Supermarkt»

Einkaufen muss der Mensch. Gerade jetzt vor Weihnachten – so adventsgeläutert kann es gar nicht zugehen. Aber angesichts des vier Wochen anhaltenden, ständigen Kauft! Kauft! Kauft! regt sich auch beim friedfertigsten Gemüt Widerstand.

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Einkaufen muss der Mensch. Gerade jetzt vor Weihnachten – so adventsgeläutert kann es gar nicht zugehen. Aber angesichts des vier Wochen anhaltenden, ständigen Kauft! Kauft! Kauft! regt sich auch beim friedfertigsten Gemüt Widerstand. Im besten Fall. Und weil man schon als Kind lernen musste, dass man nicht alles haben kann, muss man sich als kluger Konsument erweisen und entscheiden. Oui!

Oder für kurz daran glauben, dass sich Konsum und Leben, vielleicht sogar mehr noch alles Mögliche miteinander verbinden lassen. Das tun wohl die meisten von uns. Wir neigen dazu und in Zeiten der Postmoderne einmal mehr. Denn: ja! Kurz vor Weihnachten und im Widerstreit von Vernunft und Gefühl denkt man mit Harald Martenstein und will alles haben. Jetzt, gleichzeitig, immer: den grossen, geräumigen Sportwagen, das praktische Samtkleid, die kalorienarme Sahneschokolade…

… und landet in jenem postmodernen „Hyperspace“, dem Raum und Zeit abhanden kommt: im Rauschen der Onlinebestellungen oder ganz real bei IKEA. Man weiss das ja: kein Produkt steht hier zufällig an seinem Platz. Das ist auch im Kaufmannsladen so. Das Mehr an Kauflust, das seit den 50er Jahren in der Warenwelt der Supermärkte mittels Verlangsamung gewohnter Bewegungsabläufe und durch ein konsequentes Linksherum erreicht wird, zeigt sich im Zeitalter der Postmoderne als Schlupfloch zwischen Billy-Regalen oder anderen Kulissen. Verwirrung pur. Davon singen auch The Clash in ihrem Song „lost in the supermarket“: http://www.youtube.com/watch?v=2Y-Ng5jxUBI

Der amerikanische Literaturwissenschaftler Fredric Jameson ist ebenfalls überzeugt, dass die Postmoderne Disparates verbindet und Fortschritt und Katastrophe gleichzeitig bringt. Auch sonst scheint die Postmoderne in seiner Beschreibung der vorweihnachtlichen Ungeduld nicht unähnlich zu sein: das Schwinden des Affekts, die Entfremdung des Subjekts vom Inhalt, die Verflachung der Dinge, die Anhäufung von Zeichen.

Da will man als Konsum-Kentaur Luftholen, Innehalten und mit den Künsten Reauratisieren gehen: mit Christian Jankowski jagen, mit dem Fort Kollektiv das leere Innenleben abgewickelter Schlecker-Märkte durchstreifen und goldene Einkaufswagen von Sylvie Fleury schieben. Man könnte auch mit Iggy Pop auf frei geräumten Regalböden sitzen und Lieder vom Anderssein pfeifen. Oder hoffen, wie der Supermarktkunde im Buch von David Wagner, beim Abwiegen von vier Äpfeln auf einen magischen Moment im Alltäglichen zu stossen, der uns in eine fremd gewordene Welt entführt. Neongrünes Display sagt: 1-0-0-0. Ganz genau!

Der Zustand der Gesellschaft, so wird behauptet, lässt sich an ihrer Werbung ablesen. Seit den Neunzigern wendet sich dieses gezielt an unser „Ich“ auf Vorteilssuche. Bei den Verheissungen von damals ganz vorne: Profit und Sicherheit. Dieser Tags aber wird im Konsum neu das „Wir“ orakelt: „Erleben, was verbindet“.

Die partizipative Wende hat auch in der Kunst Konjunktur. Nehmen wir das Künstlerpaar Tellervo Kalleinen und Oliver Kochta-Kalleinen. Sie regen an, persönliche Unzufriedenheiten in Liedform zu bringen und schaffen so „Beschwerdechöre“ voll Aktionismus und Ironie: http://www.shedhalle.ch/de/tellervo-kalleinenoliver-kochta-kalleinen-complaints-choir-birmingham-making-utopia In Anbetracht der nachweihnachtlichen Umtauschwellen keine allzu schlechte Idee!

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Text
Daniel Di Falco, Der Bund

Bild
Adrian Moser

Operation Hassloch

Die Kleinstadt in der Pfalz mit dem Namen Hassloch ist das Mekka der Marktforschung: Die Bewohner entscheiden, welche neuen Weichspüler und Fruchtgummis alle übrigen Deutschen bekommen. Der Grund: Sie gelten als total normal.

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Oberkotzau liegt in Oberfranken, Oberbillig an der Mosel, Motzen vor Berlin. Ausserdem gibt es in Deutschland Hodenhagen, Lieblos, Elend, Hölle. Und gleich hinter der bayrischen Grenze, in Oberösterreich, erreicht man Fucking.Hassloch ist aber auch nicht schlecht. Hassloch liegt in der Südwestecke des Landes, in der Pfalz, zwischen der adrett verhügelten Weinstrasse mit ihren Rebbergen und Winzerdörfern und dem Ballungsraum Mannheim/Ludwigshafen mit der ganzen Industrie. Ganz in der Nähe ist auch Oggersheim, die Heimat Helmut Kohls, der als Kanzler dafür gesorgt hat, dass Margaret Thatcher und François Mitterrand bei Staatsbesuchen sein Lieblingsessen vorgesetzt bekamen: Saumagen. Das ist eine respektable Pfälzer Spezialität, doch der Saumagen hat das gleiche Problem wie Hassloch. Den Namen.Wir haben nicht danach gefragt, und doch dauert es nicht lange, bis uns der erste Hasslocher aufklärt: Hassloch kommt von Hasalaha. Das bedeutet Bach am Haselbusch. Und trotzdem. „Wir sind schon mehrfach verulkt worden“, sagt der Bürgermeister. Er heisst Hans-Ulrich Ihlenfeld und ist von der CDU, und das mit dem Verulken war jetzt zurückhaltend gesagt.Sargdeckel und BetonfrisurenDer Bürgermeister zuckt zwar beim Thema mit den Schultern. Aber alle ein bis zwei Monate kommt wieder einer her, von der Presse oder vom Fernsehen, und angelockt werden die Medien vom Gerücht, so durchschnittlich, so mittelmässig, so spiessig sei Deutschland nirgends. Sie nennen Hassloch dann „heimliche Hauptstadt der Bundesrepublik“, noch lieber aber „Deutschtown“ oder „das ideale Kaff“ und berichten von Wirtschaften, in denen das Licht aus Lampen mit dunkelgelben Butzenscheiben kommt und die Tische aussehen wie Sargdeckel.An den Sargdeckeln sitzen dann Männer in Sandalen und Socken beim Bier; ihr Leben besteht aus diesem Bier und dem 1. FC Kaiserslautern. Draussen in den Vorgärten stehen die Frauen mit Betonfrisuren, rosa Trainingsanzügen und weissen Pantöffelchen und setzen ihre Koniferen unter Wasser. Dann zählen die Journalisten die Schilder fürs Parkieren auf dem Marktplatz (es sind 37). Oder die vielen Vereine (über hundert). Und der Erste Vorsitzende der Angler sagt ihnen dann: „Wir habens gern ordentlich hier.“So prächtig dampft und dumpft der Kleinbürger ja wirklich nirgends vor sich hin. Hassloch ist die Geisterbahn, in der sich der Mensch aus Hamburg, München, Frankfurt, dieser in allen Raffinessen des Individualismus geübte Zeitgenosse, seinen standesgemässen Grusel gönnt: den Anblick eines geschmack- und seelenlosen Hinterwäldlertums.

Motivieren, kontrollieren

Klar ist das eine Karikatur. Anderswo gibt es das auch, Mini-Kakteen hinter den Fenstern oder Schwarzenegger-Poster in den Kinderzimmern. Doch zur Karikatur passt noch eine andere Geschichte. Es ist die mit den „Versuchskaninchen der Nation“. Weil Hassloch deutscher Durchschnitt ist, hat der Marktforschungskonzern GfK den ganzen Ort zum Testlabor gemacht. Hier stehen neue Produkte in den Supermärkten, die es sonst nirgendwo gibt; Hassloch wird mit präparierter Fernsehwerbung versorgt, und mit einer persönlichen Chipkarte wird jeder Einkauf an der Kasse erfasst und in die Zentrale der GfK übermittelt.Die Hasslocher machen das freiwillig. Sie bekommen dafür die Zeitschrift „Hörzu“ und einen Teil der Kabelfernsehgebühr bezahlt. Und wer die Karte vergisst oder auch das Einkaufen, erhält einen blauen Brief, der ihn an seine Versuchskaninchenpflichten erinnert. Die GfK nennt das ein „System aus Motivations- und Kontrollelementen“; damit „wird das Vorzeigen der Identifikationskarten sichergestellt“. Hassloch ist eben nicht nur ein Ort mit 20’000 Einwohnern. Hassloch ist auch ein Marktforschungsinstrument. Die GfK nennt es BEHAVIORSCAN und bietet es Firmen an, die wissen wollen, wie ihr neuer Weichspüler oder ihre neuen Fruchtgummis ankommen, bevor sie damit ganz Deutschland beglücken. Und das funktioniert nur, wenn die Hasslocher nicht wissen, welche Fruchtgummis echt sind und welche ein Test. Sie sollen einkaufen, ganz normal einkaufen.Natürlich sind auch wir wegen der Versuchskaninchen gekommen. Und wegen der geheimen Fruchtgummis. Aber eigentlich hat alles zweitausend Kilometer weiter weg begonnen, in Kosovo. Vor drei Jahren reiste der Berner Schriftsteller Urs Mannhart dorthin; kurz nach der Unabhängigkeitserklärung berichtete er für den „Kleinen Bund“ aus einem unfertigen Land: Der Regionalzug war eine Occasion aus Skandinavien, der Bus war noch mit Liestal angeschrieben, die Telefonvorwahl von Monaco geliehen. Und dann sah der Schriftsteller einen Lieferwagen: Metzgerei Vogt, Partyservice, Langgasse 181a, Hassloch. Mannhart hat sich gewundert. Darüber, „dass diese Ortschaft nicht schon lange eine andere geheiratet hat, um zu einem anderen Namen zu gelangen“.Darum jetzt an die Langgasse 181a. Angebote der Woche sind Wacholderschinken („herzhaft“), Bierschinken („frisch“) und Geflügelsalat Hawaii („mit Ananas“). Nein, sagt die Metzgerin, und sie lacht, wie überhaupt die Hasslocher immer lachen, wenn man ihnen mit dummen Fragen kommt, und zwar auf eine Art, die man nur herzhaft nennen kann, Wacholderschinken hin oder her – nein, sagt die Metzgerin, nach Kosovo werde nicht geliefert. Der Wagen sei wohl „ein abgelegter“, ein verkaufter also. Und dann fragt sie, wo das denn liege, Kosovo.War das jetzt typisch Hassloch? Also ganz normal? Wäre das Normale dann bemerkenswert? Aber kann einem das Unauffällige überhaupt auffallen? Und wäre dann nicht der ganze Versuch, sich ein Bild von Hassloch zu machen, ein Widerspruch in sich? Man bekommt es in diesem Ort schnell mit erheblichen erkenntnistheoretischen Problemen zu tun. Vielleicht dreht man die Frage also besser um: Was sind Hasslocher Spezialitäten?Blut- und Leberwürste, sagt die Metzgerin. Und Leberknödel auch.Andere geben die Lebensqualität an. Das milde Klima. Die viele Natur vor der Tür und die gleichzeitige Nähe zum Flughafen Frankfurt. Man hört, dass sich das Leben noch ländlich anfühlt in dieser Gemeinde, die längst eine Stadt sein und sich auch so nennen könnte. Sofern es den politischen Willen dafür gäbe: „Lust aufs Dorf“, so heisst Hasslochs Slogan.Und dann gibt es noch eine Spezialität, die GfK. Vor 25 Jahren kam sie hierher, und seither klebt sie wie Teer an diesem Ort, die Sache mit „Deutschtown“.

 

Sie reden über TierchenJürgen Scholl sitzt an seinem Küchentisch und erklärt, wie es wirklich ist, das Leben hier, wo das Normale so besonders sein soll: „Am Morgen mit dem Wecker aufstehen, am Abend weiterarbeiten oder die Füsse hochlegen.“ Dann sagt er, was hier alle sagen – dass sie von der ganzen Testerei im Alltag nichts merken. „Rein gar nichts“, sagt Scholl. Er zeigt an der Kasse die Karte, das ist alles. Und das Gefühl, ein gläserner Konsument zu sein?Kennt er nicht. „Es gibt Facebook, es gibt das Internet, da steh ich ohnehin fast mit meinen kompletten Daten drin.“ Scholl arbeitet bei der Polizei. Aber wenn er sagt, die Furcht vor ständiger Beobachtung sei „nur etwas für Leute, die etwas zu verbergen haben“, dann sagt er das ausdrücklich „nicht nur als Polizist“.Allerdings sind die Leute von der GfK nicht unschuldig daran, dass man sich Hassloch zunächst vorstellt wie einen Witz von George Orwell. In ihren Papieren reden sie von der „Kontrolle sämtlicher Einflussfaktoren“ und der „Stimulation der Einwohner mit Werbung“. Ihnen geben sie „Gelegenheit, dem Produkt gegenüber eine Einstellung zu entwickeln“. Dann messen sie „Erstkaufspenetration“, „Wiederkaufsrate“, „Kaufintensität“. Und weil übermässige Aufmerksamkeit das Experiment stört, zählen neu angeworbene Versuchspersonen zunächst nicht. Die GfK nennt das „Quarantäne“; sie dauert vier bis sechs Wochen, dann werden die Konsumenten „scharfgeschaltet“.Schon etwas seltsam, von Menschen wie von Tierchen zu reden, wenn zugleich die Waren „Produktpersönlichkeiten“ sind. Aber so klingt Wissenschaft, die Eindruck machen will. Erst recht in einer Zeit, in der die Branche die Unberechenbarkeit des Verbrauchers entdeckt hat: Die Märkte sind gesättigt, die Zielgruppen zersplittern, die konventionellen Raster der Marktforschung taugen nichts mehr. Zudem können sich acht von zehn neuen Produkten nur ein Jahr halten, dann sind sie aus den Regalen verschwunden.Macht jährlich zehn Milliarden Euro Verlust für die deutsche Wirtschaft. Sagt die GfK – und empfiehlt Hassloch zur „verlässlichen Reduktion des unternehmerischen Risikos“. Verlässlich, weil die Leute real einkaufen und nicht nur Kreuzchen auf Fragebögen machen. Der Fruchtgummi, der hier ankommt, kann in Deutschland nicht durchfallen – das ist das Versprechen. Hassloch, sagt die GfK, habe in 25 Jahren nicht eine falsche Prognose geliefert.Das heisst dann wohl auch: Die Leute hier haben die Macht, das Fruchtgummiangebot der ganzen Republik zu bestimmen. Aber nicht einmal diese Vorstellung scheint sie zu kümmern. Sie haben in all den Jahren eine schlagende Antwort gefunden auf all die aufgeregten Ideen ihrer Besucher: Sie finden das Normale an Hassloch ganz normal. Das Bemerkenswerte an Hassloch aber auch.

„Das gäbe Ärger“

„Wir sehen uns hier nicht als Durchschnitt. Wir sind so bieder und so exzentrisch wie andere auch.“ So sagt es Bettina Finco. Wir sitzen in ihrem Wohnzimmer, die GfK hat den Kontakt vermittelt. Diplomierte Betriebswirtin, tätig in Marketing und Controlling, derzeit Hausfrau mit Kindern, zudem hier geboren, und falls es die typische Hasslocherin gibt – man begegnet Bettina Finco in fast jedem Zeitungsbericht.“Die Medien wollen immer mal wieder schnell sehen, was es Neues bei uns gibt. Dabei wissen wir das ja auch nicht.“ Die Dove-Seife sei hier getestet worden, das sei bekannt. „Aber sonst darf ich keine Namen nennen, das gäbe Ärger mit der GfK.“ Und wenn man in den Läden nach den Produkten suchen wollte, die es nur hier gibt? „Das ist im Prinzip aussichtslos.“Da hat sie recht, wenn man an die 20’000 bis 40’000 Artikel in einem Supermarkt denkt. Aber nur im Prinzip. Es gibt einen Weg, wie wir noch sehen werden, und er ist überraschend einfach.Nein, kein Zutritt zum Lager, in dem die GfK die Testprodukte vorrätig hat. Und auch keine Adresse für eine Aussenaufnahme. Aber gern zeigt uns Bettina Bartholomeyzik, Testleiterin der GfK in Hassloch, ihr Hauptquartier. Es liegt an derselben Gasse wie die Metzgerei Vogt, und bei Orwell sieht es anders aus: Spannteppich und Hydrokultur in einem Büro, das früher eine Wohnung war. Von hier aus sorgt Bartholomeyzik dafür, dass die Produkte in die Supermärkte kommen und dass Platzierung und Preisschilder stimmen, alles nach den Vorgaben der Nürnberger GfK-Zentrale.Eine Überdosis TVNebenan wird die Testwerbung ins Kabelnetz eingespeist. Ein altmodisches Studiopult mit drei klobigen Tasten; eine junge Frau kontrolliert die Überblendung der regulären mit den simulierten Spots, und sie gibt belustigt darüber Auskunft, dass sie dabei so viel fernsehen müsse, dass sie den Apparat daheim kaum noch einschalten möge.Dass in diesem Hassloch sogar die Organisation eines Feldversuchs mit mehreren Tausend Menschen etwas ganz Normales ist – darüber kann man sich kaum noch ernsthaft wundern. Aber die ominösen blauen Briefe? „Wir erkundigen uns nach Ferien oder Krankheit, wenn jemand seine Karte längere Zeit nicht mehr vorgelegt hat“, sagt Bettina Bartholomeyzik. „Ein Haushalt, der nichts einkauft – das ist für uns einfach nicht gut. Je nachdem fragen wir einen neuen an.“Und dann zerlegt diese freundliche Frau vor unseren Augen eine uralte Legende: Durchschnittlich ist nicht Hassloch – durchschnittlich sind die Haushalte im Testprogramm. Es sind 3000 von 10’000, und in ihrer Summe bilden sie die deutschen Verhältnisse im Kleinen ab; es geht um Einkommen, Autonutzung oder Haustierhaltung. Also um die „soziodemografische Struktur“, und darum wird man so etwas wie deutsche Normalität in Hassloch niemals zu sehen bekommen: Es gibt sie nur als statistische Abstraktion.Höchste Zeit, shoppen zu gehen. Wir stehen vor dem Zahnpastaregal und sehen: Marx hatte recht, schon mit dem allerersten Satz im „Kapital“. „Auf den ersten Blick erscheint der bürgerliche Reichtum als eine ungeheure Warensammlung.“ Es gibt die Sorten natürliches Weiss, schonend naturweiss, sanftes Zahnweiss, dentalweiss, Raucher-Zahnweiss, Schönheits-Zahnweiss, weiss & frisch, white & shine, white now, Hollywood white, 3-D white. Zudem gibt es milde Frische, extra frisch, arctic fresh und atemklar eisfrisch. Und Mint und Glamorous Mint. Und 3-fach Schutz und 5-fach aktiv. Und anti-age und Anti-Belag. Und dann noch exotic energy.Das Vorhaben, hier nach erfundenen Waren zu suchen – es hat sich damit erledigt. Braucht es überhaupt noch neue Produkte? Auch das hat der Kapitalismus längst schon entschieden. Bleibt nur noch der Gang zur Kasse. Und die überhaupt nicht ernst gemeinte Frage an die Kassiererin, welches denn hier die Testwaren seien. „Keine Ahnung“, sagt sie, „aber ich hol gleich den Chef.“ Und jetzt passiert es: „Ihnen“, sagt der Chef, „darf ichs ja sagen.“ Er zeigt uns die Bonbons gleich vor der Kasse, wo die Werbewimpel hängen: NEW, NEW. Es sind mehrere Sorten Tic Tac in grösseren Schachteln.Das nennt man wohl eine Sternstunde des investigativen Journalismus.

Grössere Ameiseneier

Wir kaufen von allem. Draussen auf dem Parkplatz der Warentest: Die Minzbonbons schmecken wie Minzbonbons, auch wenn es CHILL PARADISE MINT WITH NATURAL MINT ist. Zudem haben sie die gleiche Form von Ameiseneiern wie die alten Tic Tac. Die Innovation: Es sind jetzt grössere Ameiseneier.Dann, auf der Fahrt durch den Ort, fallen einem wieder diese alten Häuser auf. Die grauen, die sich unter dem grauen Himmel ducken, eins neben dem andern, und verschieden ist nur die Fensterladenfarbe. Wie zum Beweis für die Menschen aus Hamburg und München, dass sie schon stimmt, die Geschichte vom Dorf, in dem die Durchschnittlichkeit wohnt.

Das Glück ist ganz grau

An den Bonbons kann es nicht liegen. Aber jetzt fällt uns noch etwas auf: Hassloch ist auch darum so grau, weil nicht der ganze Ort mit Reklame tapeziert ist. Und wenn nicht alles täuscht, dann hat sich soeben mit einem feinen Ruck die Realität verschoben. Plötzlich kann man sich vorstellen, dass unter diesen Dächern nicht gleichgeschaltete Konsumkaninchen wohnen. Sondern Leute, die noch andere Hobbys haben als Shopping. Die ihr Ich nicht mit einer neuen Tasche verwechseln. Die sich unter „Produktpersönlichkeit“ nichts Vernünftiges vorstellen können.Vielleicht wissen sie ja auch, dass gerade der Kult um die Besonderheit das ist, was alle so normal macht; so konform mit den Regeln eines Konsums, der auch die Individualität in eine Ware verwandelt. Das wäre dann das Glück der Hasslocher: Sie kaufen ein. Sie kaufen nur ein.

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Text
Stefan Sulzer

Die übergewichtig amerikanische Cousine des Supermarktes – die Mall

Dem Beispiel des Dynamits folgend, durchlief der Supermarkt, oder genauer gesagt seine adipöse amerikanische Cousine, die «Mall», keine so glorreiche Entwicklung wie ihr Erfinder sie vorsah.

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Die einschneidenden Veränderungen, die beide Erfindungen provozierten, standen und stehen in krassem Gegensatz zur eigentlich vorgesehenen Nutzung. Der Österreicher Victor Gruen, architektonischer Urvater der Mall, erhoffte sich in der Schaffung lebenswerter Zentren, leicht Le Corbusier‘s Wohnmaschinen ähnelnd (allerdings mit erhöhtem Fokus auf Konsum statt Wohnen), ein holistisches Ereignis, welches sowohl der kulturellen als auch der kommerzieller Erfahrung dienen sollte. Da die aus dem Zweiten Weltkrieg heimkommenden Soldaten vielerorts jene Arbeitsplätze wiederbesetzten, die während des Krieges an  Frauen vergeben wurden, formierten sich letztere anfangs der Fünfziger Jahre in den Augen vieler Marktforscher zu einer primären Zielgruppe, wenn es um die Gestaltung vorstädtischer Einkaufsmöglichkeiten ging. Shopping Malls sollten als Plattform sozialer Interaktion im Umfeld einer aufstrebenden, meist weissen, Suburbia genutzt werden. Die sie bewohnenden Subjekte sollten, dem Wunsch Gruens folgend, in erster Linie verantwortungsbewusste Citoyens sein, nicht hedonistische Konsumenten. Öffentliche Einrichtungen wie Poststellen, Theater, Kinderspielplätze etc. sollten diesbezüglich ein Gleichgewicht ermöglichen. Alsbald führte die Einsicht, dass eine internationale Ladenkette weit mehr zur Profitabilität beiträgt als eine Poststelle, zur Aufgabe dieses Ziels. Das Kommunale wich dem Privaten. Der Konsument sollte sich uneingeschränkt der Huldigung des Kommerzes hingeben können, ohne den Tempel des Konsums durch solch unnötige öffentliche Einrichtungen entweiht zu sehen. Der Verschiebung der kaufstarken weissen Mittelschicht in suburbane Gebiete, folgte eine Verwahrlosung der Innenstädte. Zahlreiche kleine Shops litten unter dem massenhaften Abzug ihrer Käuferschaft. Die erste innerstädtische „indoor mall“, Midtown Plaza, war ein Versuch Gruens, das System der Shopping Mall in das Zentrum einer Stadt, in diesem Fall Rochester NY, zu übertragen. Er wollte hiermit dem white flight – der Migration der weissen Mittelklasse in klassen- und rassengetrennte Suburbs, entgegenwirken. Leider ohne Erfolg. Gruen war sich des Fluchs, welcher seinen Plänen wie ein Schatten folgte, bewusst als er sagte: „The spirits that I had summoned overtook the world.“ Daran änderte auch die Errichtung einer der ersten autofreien Fussgängerzonen Europas in Wien nicht viel. Sein Versuch, das Gefühl der europäische Städtezentren in die amerikanischen Suburbs zu übertragen, war gescheitert. Als er Ende der 60er Jahre nach Wien zurückkehrte, musste er feststellen, dass die „selling machines“ bereits deren Zentrum erreicht hatten.  Wer sich in heutigen Stadtkernen bewegt, entdeckt, egal ob in Belfast oder Belgrad, eine universelle, mit den selben Ladenketten bestückte, Gemeinarchitektur, an der Victor Gruen nur bedingt seine Freude haben würde.

Mehr zu den Gebäuden von Victor Gruen:
mall-hall-of-fame.blogspot.ch/2008_05_01_archive.html
(I) Gegen Insektenbefall stabilisierte Brot-Probekörper des Forschungsprojekts. Insektizid und fungizid wirkende Borsäure wurde mittels Niederdruck-Tränkung nach dem Backprozess eingebracht. (Bild: Marc Egger) Nahrungsmittel-Kunst-Konservierung – Konservierungsstrategien für Nahrungsmittel in zeitgenössischer Kunst
(I) Gegen Insektenbefall stabilisierte Brot-Probekörper des Forschungsprojekts. Insektizid und fungizid wirkende Borsäure wurde mittels Niederdruck-Tränkung nach dem Backprozess eingebracht. (Bild: Marc Egger) Nahrungsmittel-Kunst-Konservierung – Konservierungsstrategien für Nahrungsmittel in zeitgenössischer Kunst
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Text
Anna Comiotto

Einleitung
Nathalie Pernet

Kunst mit Nahrungsmitteln – Eine Herausforderung für die KonservatorInnen

Wer kennt sie nicht, Andy Warhols Campbell's Büchsen. Nahrungsmittel sind Thema in der Kunst und Kunst wird mit Nahrungsmitteln gemacht.

FB

Wer kennt sie nicht, Andy Warhols Campbell’s Büchsen. Nahrungsmittel sind Thema in der Kunst und Kunst wird mit Nahrungsmitteln gemacht. Bei Letzterem ist häufig das Element der Veränderung, die durch die Verderblichkeit oder den Zerfall der Ware hervorgerufen wird, spannend für Kunstschaffende. So sehen Werke nach einer gewissen Zeit anders aus oder beginnen gar zu riechen. Aber auch die entgegengesetzte Strategie ist reizvoll: Gerade das Verderbliche soll nicht verderben oder Nahrungsmittel nicht zerfallen – Brot für die Ewigkeit. Wie soll das gehen?

Hier hat das Forschungsprojekt „Nahrungsmittel-Kunst-Konservierung“ der Hochschule der Künste Bern eingehakt: KünstlerInnen haben mit KonservatorInnen, LebensmitteltechnologInnen und ChemikerInnen zusammengearbeitet, wie Projektleiterin Anna Comiotto erklärt: http://www.hkb.bfh.ch/materialitaet.html

(I) Gegen Insektenbefall stabilisierte Brot-Probekörper des Forschungsprojekts. Insektizid und fungizid wirkende Borsäure wurde mittels Niederdruck-Tränkung nach dem Backprozess eingebracht. (Bild: Marc Egger) Nahrungsmittel-Kunst-Konservierung – Konservierungsstrategien für Nahrungsmittel in zeitgenössischer Kunst

Ausgangslage

Nahrungsmittel sind als Materialbestandteil zeitgenössischer Kunst weit verbreitet, unterliegen aber dem Abbau durch Enzyme, Mikroorganismen, tierische Schädlinge, Sauerstoff, Licht und Feuchtigkeit. Typische sichtbare Zeichen ihres Zerfalls sind beispielsweise Veränderungen der Farb- und Formgebung sowie des Geruchs. Manch ein Kunstschaffender begrüsst Motten, Brotkäfer und Mikroorganismen als „Assistierende“ zur Umsetzung einer künstlerischen Idee. Im Gegensatz dazu entstand dieses Forschungsprojekt basierend auf dem Bedürfnis zeitgenössischer Künstlerinnen und Künstler, dem alterungsbedingten Zerfall von Nahrungsmitteln entgegenzuwirken. Diese benutzen Nahrungsmittel als Material zur Realisierung ihrer Rauminstallationen, skulpturaler Werke oder Malerei. Dabei stellen sich ihnen oft Fragen zur Alterungsbeständigkeit der Kunstwerke und Möglichkeiten ihrer Konservierung.

Methoden

Dieses Projekt vernetzte diese Künstlerinnen und Künstler mit Fachleuten der Konservierung-Restaurierung, der Chemiewissenschaften und der Lebensmitteltechnologie. Mit Fokus auf ihre Fragestellungen wurden Konservierungsverfahren für werkrelevante Nahrungsmittel entwickelt. Die Verfahrensentwicklung erfolgte basierend auf Künstlerinterviews, welche die Standpunkte der Kunstschaffenden bezüglich der zu konservierenden Erscheinungsform, der angestrebten Dauerhaftigkeit, sowie ihre Definition des zulässigen Ausmasses konservierender Eingriffe dokumentieren. Die Entwicklung geeigneter Konservierungsverfahren orientierte sich an gängigen Methoden der Lebensmittelkonservierung sowie an Erhaltungsstrategien, die üblicherweise für den Alterungsschutz von Holzwerkstoffen, Kunststoffen oder botanischen Präparaten genutzt werden. Schwerpunkte bildeten hierbei Versuche zur Prävention und Desaktivierung von Insekten- und Mikroorganismen (z. B. Einbringen von Insektiziden, Gamma-Bestrahlung) sowie die Applikation von Stabilisatoren zur Erhöhung der Farbstabilität. Die Wirksamkeit dieser Verfahren wurde im Modellversuch erprobt, wobei Methoden der Materialanalytik und -prüfung (z. B. Farbmetrik, Chemilumineszenz-Analytik, beschleunigte Lichtalterung) zum Einsatz kamen.

Ergebnisse

Es gelang die Applikation von niedrig-toxischen Konservierungsstoffen, z. B. das Einbringen von Boraten zum Schutz von Backwaren vor tierischem und mikrobiellem Befall. Zudem wurden wirksame Stabilisierungsverfahren entwickelt, um lichtbedingte Ausbleichprozesse an chlorophyllhaltigen Nahrungsmitteln zu verlangsamen. Die entwickelten Konservierungsverfahren fliessen in die zukünftige Kunstproduktion der beteiligten Künstlerinnen und Künstler ein. Die geschaffenen Grundlagen erlauben zudem eine Weiterentwicklung dieser Verfahren, um sie auch für die Langzeit-Konservierung musealisierter Objekte anzuwenden.

Projektleitung:
Anna Comiotto
Mitarbeit:
Marc Egger
Caroline Forster
Agathe Jarczyk
Helena Kneubühler, BFH-HAFL
Markus Vaihinger, BFH-HAFL
Karin Wyss
Partner:
BFH-HAFL: Hochschule für Agrar-, Forst- und Landwirtschaft Isabelle Krieg, Künstlerin George Steinmann, Künstler Eidgenössische Technische Hochschule Zürich, Institut für Polymere Leoni Studer-Hard Irish Museum of Modern Art Museum Ludwig Köln
Laufzeit:
6/2009–10/2010
Finanzierung:
Berner Fachhochschule, BFH
Kontakt:
Hochschule der Künste Bern
Forschung
FSP Materialität in Kunst und Kultur
Fellerstrasse 11
3027 Bern
anna.comiotto@hkb.bfh.ch
www.hkb.bfh.ch/materialitaet.html
Curryweltwurst (2009)
Curryweltwurst (2009)
Unerledigt, 2003–2008
Unerledigt, 2003–2008
Unerledigt, 2003–2008
Unerledigt, 2003–2008
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Hinz und Kunz, 2009
Hinz und Kunz, 2009
Hinz und Kunz, 2009
Hinz und Kunz, 2009
Abendbrot, 2009
Abendbrot, 2009
Abendbrot, 2009
Abendbrot, 2009
Die klugen und die törichten Jungfrauen, 2007
Die klugen und die törichten Jungfrauen, 2007
Die klugen und die törichten Jungfrauen, 2007
Die klugen und die törichten Jungfrauen, 2007
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Interview
Nathalie Pernet

Interview mit der Künstlerin Isabelle Krieg zum Thema "Supermarkt"

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Curryweltwurst (2009) Unerledigt, 2003–2008 Unerledigt, 2003–2008 Unerledigt, 2003–2008 Hinz und Kunz, 2009 Hinz und Kunz, 2009 Abendbrot, 2009 Abendbrot, 2009 Die klugen und die törichten Jungfrauen, 2007 Die klugen und die törichten Jungfrauen, 2007

Isabelle Krieg wurde 1971 in Fribourg/CH geboren. Nach Stu-dienaufenthalten an der Scuola Dimitri in Verscio sowie der damaligen Hochschule für Gestaltung und Kunst Luzern, führte sie ein Atelierstipendium nach Berlin, wo sie mehrere Jahre hängen blieb. Nach einem Aufenthalt am Schweizer Institut in Rom kehrte sie wieder zurück in die Schweiz. Heute lebt und arbeitet Isabelle Krieg in Dresden und Zürich.

Nathalie Pernet: Isabelle Krieg, Du arbeitest als Künstlerin in den Bereichen Installation, Skulptur, Fotografie und Performance. Während Deiner beruflichen Laufbahn kamst Du mehrfach mit unserem Thema „Supermarkt“ in Berührung. Wie?

Isabelle Krieg: Meine Ideen schöpfe ich vor allem aus dem Alltag. Das können urbane Beobachtungen sein, wie zum Beispiel meine städtische und architektonische Umgebung. Das können soziale Beobachtungen sein, die die Gesellschaft und das Verhältnis der Geschlechter beleuchten. Das können Geschehnisse aus der Weltpolitik sein, die ich über die Medien aufnehme. Das können Naturphänomene sein, sowohl formal als auch im Sinne des grossen Werden und Vergehens. Das können visuelle oder physikalische Phänomene wie Licht und Schatten oder das Fliessen von Wasser, das kann auch meine eigene Biografie mit meinen persönlichen Erlebnissen und Gefühlszuständen sein. So gehört auch der Supermarkt als DER Alltags-Ort zu meinen Beobachtungsfeldern. Und da ja Supermärkte die Tempel von heute sind (ich habe das vor allem in Berlin oft gedacht, in diesen riesigen Einkaufszentren die überall ähnlich aussehen und die stets belebt sind), und die heutige Gesellschaft vor allem auf Wirtschaftlichkeit ausgerichtet ist, ist es automatisch ein wichtiges Feld.

NP: Erzähl uns von Deinem Werk Hinz und Kunz aus dem Jahre 2009! Was beinhaltet es, und wie kam Dir die Idee dazu?

IK: Zuerst war da der Wunsch, mit Einkaufswagen zu arbeiten. Eben wegen der Wichtigkeit der heutigen „Tempel“, der Supermärkte. Ich habe verschiedene Sachen ausprobiert und Einkaufswagen einfach genauer beobachtet. Da entdeckte ich per Zufall eine Situation in einem Supermarkt: Zwei Einkaufswagen waren gerade nebeneinander hingestellt worden und ihre Ketten (diese Ketten, mit denen man einen Einkaufswagen in den nächsten hängt, und die man durch das Einschieben einer Münze voneinander lösen kann), also, diese Ketten schwangen gerade synchron im Kreis. Ich wusste sofort, dass ich genau diese kleine Situation in Kunst übersetzen wollte. Die Übersetzung war dann sehr direkt: Ich besorgte mir zwei Einkaufswagen, versteckte – von aussen unsichtbar – im Münzfach je einen kleinen Motor und eine Batterie und schweisste die Kette untendran fest. So habe ich diese Bewegung ins Absurde verlängert: Die Ketten der beiden Einkaufswagen schwingen nun „endlos“ im Kreis – manchmal synchron, dann driften ihre Rhythmen wieder auseinander. Es ist eine Art komisch-trauriger, end- und sinnloser Tanz, in dem sich die beiden Ketten nie berühren. Hinz und Kunz spielt auf das Jedermann-Phänomen des Supermarktes an, und durch das Einkaufswagenpaar vielleicht auch auf eine Beziehung, die sich totgelaufen hat.

NP: Der Supermarkt ist bekanntlich auch der Ort, wo man Lebensmittel einkauft. Auch damit lässt sich Kunst schaffen – Du hast im Jahre 2003 die Arbeit Abendbrot gemacht. Was reizt Dich besonders daran, mit Lebensmitteln zu arbeiten, und vor welche Herausforderungen stellt es Dich?

IK: Lebensmittel reizen mich durch ihre Vergänglichkeit, und dadurch, dass wir sie uns einverleiben, was etwas sehr Starkes ist. Die Arbeit Abendbrot entstand aber ursprünglich durch die beobachtete formale Ähnlichkeit von Wolken und Broten und aus der daraus resultierenden Wortschöpfung „Wolkenbrot“. Ich war fasziniert von glühenden Abendwolken, die aussehen wie leuchtende Brote, und wollte die, nach ein paar kleinen Zeichnungen, als dreidimensionale, leuchtende Objekte erschaffen. Zuerst versuchte ich es mit künstlichen Materialien, auch weil ich mich scheute, Brot als „Material“ zu benutzen (Brot ist natürlich extrem stark aufgeladen, als Symbol, nicht zuletzt religiös), aber als ich dann doch mal einen Versuch machte mit richtigem Brot (ein ausgehöhltes Brot von innen beleuchtet) war das Resultat so verblüffend nah an einer orange-glühenden Abendwolke, dass ich mich entschloss, echtes Brot zu benutzen. Ich probiere, davon alles zu verwerten und nichts wegzuwerfen: Mit dem ausgehöhlten Brot-Inneren mache ich Knödel oder bringe sie dem Zoo für die Tiere. Ich habe auch andere Arbeiten mit Lebensmitteln gemacht, zum Beispiel mit Kaffee und Kakao (Unerledigt), mit Currywurst (Die Welt entdecken) oder mit Radieschen (Die klugen und die törichten Jungfrauen). Generell reizt mich an Lebensmitteln, dass sie mal lebendig waren, ob Pflanze oder Tier, und dass sie unser Leben ermöglichen, indem sie uns zur Nahrung werden. Sie sind so vergänglich wie wir und insofern auch eine Art Memento Mori. Im Gegensatz zu zum Beispiel Dieter Roth bemühe ich mich aber, meine Lebensmittel-Arbeiten möglichst haltbar zu machen. Schädlinge, Schimmel und Ausbleichungen probiere ich zu verhindern. Ewig haltbar sind die Arbeiten sowieso nicht, aber mein Ziel wäre es, solche Arbeiten „ein Sammlerleben lang“ haltbar zu machen.

NP: Beim HKB-Forschungsprojekt „Nahrungsmittel-Kunst-Konservierung“ ging es ja darum, u.a. Erhaltungsstrategien für zeitgenössische Werke mit Lebensmitteln zu entwickeln. War Abendbrot der Grund, weshalb Du Dich für das HKB-Forschungsprojekt interessiert hast? Oder wie hat Dich Dein Weg in die Forschung geführt?

IK: Genau. Ich kannte Anna Comiotto und Marc Egger bereits persönlich und hatte sie schon mehrfach um Rat gebeten, wenn ich Konservierungsprobleme mit meinen Arbeiten hatte, auch mit Nicht-Lebensmitteln. Die Initiative, aus dem Abendbrot und aus den Klugen und törichten Jungfrauen ein Forschungsprojekt zu machen, kam dann von der Hochschul-Seite aus, worüber ich natürlich sehr glücklich war. Jetzt geht es noch darum, die gewonnenen Forschungs-Erkenntnisse für mich Atelier-tauglich zu machen, damit ich sie wirklich direkt an meinen Arbeiten als Konservierungsmassnahmen anwenden kann.

NP: Ist ein Supermarkt Deiner Meinung nach interessant für eine Kunstinstallation oder -performance? Kennst Du zeitgenössische KünstlerInnen, die sich diesem Thema widmen?

IK: Meinst Du eine Performance oder -Installation IM Supermarkt selber? Ja, ich kenne KünstlerInnen, die Performances im Supermarkt gemacht haben, zum Beispiel die Performerin Steffi Weismann. Oder die Künstlergruppe „Wojna“ hat sich beim Klauen im Supermarkt filmen lassen. Der Supermarkt wird immer wieder aufgegriffen von vielen Künstlern. Obwohl das Thema „Supermarkt“ und, allgemeiner, „Konsum“ schon sehr abgelutscht ist in der Kunst – im Prinzip ähnlich wie die Themen Sex, Vergänglichkeit und Tod – ist es noch immer ein interessantes Thema, eben genau deswegen, weil der Supermarkt in unserer Gesellschaft so eine grosse Wichtigkeit hat. Ich glaube, in der Kunst werden halt einfach die grossen Themen aufgegriffen, und „Supermarkt“, also Wirtschaftlichkeit, Kaufkraft und Vermarktung, ist gesellschaftlich gesehen ein grosses Thema heute. Bei den Jugendlichen ist Shopping extrem wichtig. Gesamtgesellschaftlich gesehen ist das Thema Ernährung enorm wichtig, im Bezug auf Hunger, Klima, Ethik (z.B. Tiere essen oder nicht) und Gesundheit.

NP: Könntest Du Dir selbst vorstellen, noch weitere Arbeiten in diesem Bereich zu machen, oder was ist Dein nächstes Projekt?

IK: Kann ich mir gut vorstellen. Meine nächsten grösseren Projekte sind aber im Freien, wo „Supermarkt“ möglicherweise nicht explizit Thema sein wird. Es kann aber gut sein, dass die Themen Lebensmittel und Vergänglichkeit darin wieder auftauchen.

NP: Vielen Dank für dieses Gespräch.

IK: Sehr gern geschehen.

 

Bildlegenden von oben nach unten:
Aus der Serie „Die Welt entdecken, 2001-2009“:
Curryweltwurst, (2009)
Ketchup und Curry auf Karton 
Unerledigt I, 2003-2008
Milchkaffee & Kakao auf Porzellan, Küchenmöbel
Grösse variabel, Installations-Ansicht Kunstmuseum Solothurn, im Rahmen von „Speicher fast voll“, 2008
Unerledigt I, 2003-2008
Milchkaffee & Kakao auf Porzellan, Plastikbecken, Wasser, Küchenmöbel
Grösse variabel, Installations-Ansicht Kunsthaus Langenthal, im Rahmen von „Fragile“, 2006
Unerledigt I, 2003-2008
Milchkaffee & Kakao auf Porzellan, Plastikbecken, Wasser, Küchenmöbel
Grösse variabel, Installations-Ansicht O.K Centrum für Gegenwartskunst Linz, im Rahmen von „Biennale Cuvée“, 2006 
Hinz und Kunz, 2009
Einkaufswagen, je ein Motor und eine Batterie
Grösse ca. 2.5 x 0.7 x 1m
Kleines und Grosses Abendbrot, 2003/2005 
Brot, Epoxidharz, Glasfasergewebe, Neonröhren bzw. LEDs, Kabel, Silikon
Grösse kleines Abendbrot: ca. 30 x 15 x 10 cm pro Brot; Installationsansicht Kulturzentrum Nairs, Scuol, im Rahmen von „Curraint d’Air“, 2003Grösse Grosses Abendbrot: ca. 100 x 35 x 20 cm pro Brot; Installationsansicht ehemaliger Paul-Klee-Platz, Bern 2005
Die klugen und die törichten Jungfrauen2007
Radieschen
Gerahmt, Ansichten aus „Pleasure Garden“, BINZ39, Zürich
72

Text
Patricia Schneider

Konsumkritik!

Gibt es Alternativen zur Konsumhysterie? Ja! Hier ein paar Vorschläge.

FB

Haluan nähdä muutakin

„Haluan nähdä muutakin” (Ich will etwas anderes sehen) Dieser Text wurde im letzten Winter eine Woche lang an 21 Bus- und Strassenbahnhaltestellen in Helsinkis Innenstadt gezeigt. Elissa Erikson von der Aalto University of Art and Design hatte die Werbeflächen als Teil ihrer Abschlussarbeit für die nicht kommerzielle Botschaft gemietet. Finanziert wurde das Projekt durch 1458 Menschen, die dem Aufruf der Studentin über Facebook gefolgt waren und sich für durchschnittlich 4,20 € sieben Tage lang eine Alternative zu den Werbeversprechen der Industrie erkauften. Um eine Debatte über die Gestaltung des öffentlichen Raums auszulösen, wurden die Teilnehmer aufgefordert zu erzählen, was sie an Stelle der Werbungen lieber sehen möchten – diese Texte wurden ebenfalls abgedruckt.?
http://haluannahdamuutakin.wordpress.com/in-english/

Michael Landy – Breakdown

Ein radikales Selbstexperiment machte der britische Künstler Michael Landy, der im Februar 2001 während der 14 tägigen Aktion „Breakdown“ seinen gesamten Besitz zerstörte und damit die Beziehung zwischen Individuum, Besitz und Identität thematisierte. Die Vernichtungsaktion sollte ihn zeitweilig aus einem System befreien, das sich ständig selber reproduziert. Welche Folgen die Zerstörung seines materiellen Lebens auf seine Arbeit hatte, erläutert er ein Jahrzehnt später: 
www.arte.tv/de/der-kuenstler-michael-landy/3807294,CmC=3836416.html

Bikinirama

Die Performance-Künstlerinnen von Bikinirama zertrümmern iPhones und Apple Computer mit Beil und Vorschlaghammer als Zeichen gegen den Markenfetischismus und den Konsumterror. Um die Aufmerksamkeit auf ihre trashigen Aktionen zu lenken, bedienen sie sich selber der einfachsten Werbemethode und zerstören die Geräte im Bikini, welches sie als Auflehnung gegen die inflationäre Nacktheit in den Medien verstehen. Inzwischen haben ihre Youtube- Filme, die sie bestimmt nur mit nachhaltig produzierten Geräten erstellt haben, Kultstatus erreicht.
?www.bikinirama.de

Neo-Minimalismus

Mit wie wenig Gegenständen kann man eigentlich in unserer Gesellschaft leben? Die Neo-Minimalisten haben keine Freude am Konsum von materiellen Gütern und sehen ihre grösst mögliche Freiheit im Verzicht von allem Überflüssigen. Ihr Zuhause ist lediglich mit einem Bett und einem Laptop bestückt und die Habseligkeiten passen idealerweise in einen Rucksack.
http://videos.arte.tv/de/videos/neo_minimialisten_weniger_ist_mehr–6270122.html

Décroissance

Sind wir im kapitalistischen System gefangen oder gibt es eine Alternative? Décroissance ist eine Bewegung von Menschen, die sich aktiv gegen den Wachtumszwang unserer Wirtschaft wendet und alternative Lösungen sucht.?
http://www.decroissance-bern.ch

Viele weitere Links unter:
php5.arte.tv/yourope/de/2011/12/11/faktencheck-konsumkritik
73

Text
Matthias Eberle, Hans-Peter Siebenhaar, Jens Münchrath, Bernd Kupilas, Axel Postinett und Christoph Kapalschinski

Das Ende der Gratiskultur im Internet

«Wer im Netz präsent sein möchte, muss seine Inhalte kostenlos anbieten.»

FB

Zwanzig Jahre nach der Erfindung des Internets bricht eine neue Epoche an. Inhalte gibt es künftig nicht mehr umsonst. Medienunternehmen führen weltweit immer mehr Bezahlangebote im Web und in der Mobiltelefonie ein und haben damit grossen Erfolg.

„Free“ – so lautet der kämpferische Titel eines Buchs von Chris Anderson. Der Chefredakteur des US-High-Tech-Magazins „Wired“ vertrat darin die These, dass die neue, schöne Medienwelt dem Umsonst-Journalismus gehöre: „Wer im Netz präsent sein möchte, muss seine Inhalte kostenlos anbieten.“ Er stellte damit das Prinzip des Mediengewerbes, dass sich am Markt automatisch ein gerechter Preis für Qualitätsprodukte durchsetze, infrage.

Das Verblüffende: Verleger und Journalisten folgten ihm. Zum Nulltarif stellten sie ihre Inhalte ins Netz und berauschten sich an den ständig steigenden Nutzerzahlen. Die Kosten für die Online-Angebote sollten durch Werbung gedeckt werden, so ihre Hoffnung in der Morgenstunde des Internetzeitalters.

Es kam bekanntlich anders. Die Umsonstkultur des Internets wies nicht den Weg in eine Ära von Prosperität, sondern löste die schwerste Medienkrise seit Erfindung der Drucktechnik aus. Die Verlage investierten weltweit Milliarden in die neue Technik, ohne je angemessene Erträge einzufahren. Der Gratisjournalismus im Internet liess zugleich die Auflagen von Zeitungen und Zeitschriften erodieren – um knapp ein Drittel seit 2000. „Das beste Restaurant der Stadt geht unter, wenn es am Hintereingang die Speisen verschenkt“, sagt Wolfgang Nowak, einst Strategieberater von Gerhard Schröder und heute Geschäftsführer der Alfred-Herrhausen-Gesellschaft. So sieht es auch Peter Gerdemann, oberster Marketingexperte von IBM Deutschland: „Wann hören Sie endlich auf, Ihre Qualitätsprodukte zu verschenken?“ fragte er in die Runde, als er am Freitag die Redaktionskonferenz des Handelsblatts besuchte.Spät, aber nicht zu spät räumt die Medienindustrie ihren Jahrhundertirrtum ein. Die ersten Verlagshäuser, vorneweg das Imperium von Rupert Murdoch und in Deutschland der Axel-Springer Verlag, steuern kraftvoll um. „Die Phase der kindlichen Begeisterung für die neue Technologie rund um das Internet geht erkennbar zu Ende“, sagte Mathias Döpfner, Chef von Europas größtem Zeitungsverlag, im Handelsblatt-Interview. Eine neue Phase beginne, die an die Prinzipien der Vor-Internet-Welt anknüpfe: gutes Geld für guten Journalismus. Döpfner spricht von der „Rückkehr zur Normalität“.

Neue Technologien machen die Trendwende möglich. Die Medienbranche profitiert vor allem von der Einführung des mobilen Internets, das mit iPhone und Blackberry, aber auch mit iPad und weiteren Tablet-Computern neue und einfache Abrechnungssysteme hervorbrachte. Diese Endgeräte sind die Basis für sogenannte Applikationen (Apps), mit deren Hilfe Inhalte von Zeitungen, Zeitschriften und Fernsehsendern zum Kunden transportiert werden. Für diese Apps gibt es – im App-Store des Steve Jobs – ein weltweit einheitliches Bezahlsystem.

Die Kehrtwende hatte ausgerechnet ein 79-jähriger Unternehmer eingeleitet. Medien-Tycoon Rupert Murdoch stellte nach und nach das Lesen auf den Onlineseiten von „Wall Street Journal“, der britischen „Times“ und der „Sunday Times“ auf neue Bezahlmodelle um. Von den Apologeten des „freien Internets“ wurde er angegiftet. Doch die Leser folgten ihm. Mit seinen fast 450 000 kostenpflichtigen E-Papers ist das „Wall Street Journal“ zum Vorbild für andere geworden.Auch in Deutschland geht die Umsonstkultur zu Ende. Springer hat bereits 280 000 Apps von „Bild“ und „Welt“ verkauft. Angesichts der Tatsache, dass es hierzulande nur knapp zwei Millionen iPhones gibt, eine beachtliche Zahl. „Bild“ ist mittlerweile die meistverkaufte Nachrichten-App des Landes.Springer macht ein Viertel des Konzernumsatzes mittlerweile im Netz – und will sich weiter steigern. Döpfner ermuntert die anderen deutschen Verleger – und ihre Journalisten – das Urheberrecht auch gegen Google und andere Suchmaschinen durchzusetzen. Der Springer-Chef spricht von „Piraten-Geschäftsmodellen“.

Auch die Werbewirtschaft unterstützt die Zeitenwende im Nachrichtengeschäft. In den USA werden Leser der gedruckten und der Online-Zeitung bei der Reichweiten-Erfassung, die relevant für die Anzeigenkunden ist, neuerdings zusammen gezählt. In den Jahren 2006 bis 2008 verbrachten die Amerikaner im Schnitt 67 Minuten pro Tag mit Nachrichten. In diesem Jahr sind es bereits 70 Minuten, hat das renommierte US-Medieninstituts Pew Research Center herausgefunden. Zwar ist die Zahl der Zeitungsleser weiter gesunken, die Zahl der Online-Nachrichtenkonsumenten jedoch stark gestiegen.Auch in Deutschland wird darüber diskutiert bei der Reichweitenerfassung durch unabhängige Institutionen wie der IVW nicht nur die verkaufte Auflage zu berücksichtigen. Springer-Chef Mathias Döpfner unterstützt diese Entwicklung: „Uns interessiert nicht mehr die einzelne Zeitungsauflage oder die Reichweite einer Website. Uns interessiert die multimediale Reichweite einer Marke und ihrer Inhalte auf allen Plattformen. So muss man Journalismus heute betrachten“, sagt Döpfner.Wie stark sich die Reichweiten im Nachrichtengeschäft verschieben, zeigt auch das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“. Im dritten Quartal 2010 ging die verkaufte Auflage im Vergleich zum dritten Quartal 2008 um 4,1 Prozent auf eine Millionen Exemplare zurück. Die Reichweite im Internet dagegen explodierte im gleichen Zeitraum. Die Seitenaufrufe bei Spiegel-Online versechsfachten sich. Unter dem Strich ist die Marke Spiegel für ihre Leser heute so attraktiv wie nie zuvor.Auf ähnliche Grössenverhältnisse kommen nahezu alle Medienmarken. Die Bild-Zeitung verlor am Kiosk zwar 1,5 Millionen Käufer in zehn Jahren, gewann aber mit seinen Print-Ablegern wie Computer-Bild und im Internet (Bild.de) deutlich mehr Leser dazu.

Derzeit explodieren vor allem die Angebote der Konzerne für das mobile Internet. Mittlerweile bietet Apple mehr als 300 000 Apps an, die meisten kostenpflichtig. Seit kurzem hat der Android-Markt des Internetkonzerns Google die Grenze von 100 000 Apps übersprungen. Während Apple bereits mit iTunes eine beliebtes Abrechnungssystem besitzt, wird Google im Android Market in Kürze seine Apps über den bekannten Bezahldienst Paypal verkaufen. Bequeme Abrechnungsmethoden gelten in der Telekom – und Medienbranche als Voraussetzungen dafür, dass sich Bezahlangebote für Handys und internetfähige Kleincomputer durchsetzen.Die Verlage stehen unter grossem Erfolgsdruck. Denn um hochwertige journalistische Inhalte zu finanzieren, können sie nicht länger ihren Inhalt verschenken. Nicht nur Springer, sondern auch Europas größten Zeitschriftenhaus Gruner + Jahr („Stern“, „Geo“) setzt auf Bezahlinhalte. So sind alle bislang in den Markt gebrachten Apps für den Minicomputer iPad kostenpflichtig. Auch die weitaus überwiegende Mehrheit der Apps für das Apple-Handy iPhone kosten Geld.

Immer mehr deutsche Zeitungsverlage setzen jetzt auf Bezahlinhalte. Seit diesem Wochenende bietet etwa die WAZ-Gruppe zwei Bezahl-Apps an. Für Fußballfans im Ruhrgebiet gibt es die App „WAZ Dauerkarte“ für 2,99 Euro. Außerdem bietet das Familienunternehmen die „WAZ Stau-Info“ für 0,79 Euro an. Sie informiert über die Verkehrslage. Die WAZ war bislang zögerlich, wenn es um Bezahlinhalte im Netz ging. Das soll sich nun ändern. „Mit den ersten WAZ-Apps werden wir viele neue Erfahrungen sammeln und von den Nutzern wertvolle Rückmeldungen erhalten, die wir auch in die Konzeption der kommenden WAZ-Nachrichten-App einfließen lassen werden“, sagt WAZ New Media-Chef Erik Peper.Auch die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (FAZ) bietet seit dem Wochenende eine App an, die nach 30 Tagen Probezeit automatisch kostenpflichtig wird. Die FAZ verlangt dann 2,99 Euro monatlich. Die Verlagsgruppe Handelsblatt vertreibt seit einige Wochen eine digitale Version des „Handelsblatt“ auf dem iPad, das sogenannte E-Paper. Im Januar werden weitere digitale Bezahlangebote folgen, darunter „Handelsblatt Exklusiv“, ein Newsservice der das Neueste aus der Welt der Wirtschaft berichtet. Firmen, Branchen und Aktien lassen sich nach dem persönlichen Interesse des Lesers konfigurieren.

Mit ihrer Paid-Content-Strategie befinden sich die Verlage in bester Gesellschaft. Auch die privaten Fernsehkonzerne wollen ihre Inhalte nicht mehr verschenken. RTL, die Fernsehtochter des Medienkonzerns Bertelsmann, ist der Vorreiter. Seit vergangener Woche können iPhone-Besitzer gegen ein monatliches Nutzungsgeld das gesamte RTL-Fernsehprogramm sehen. „Mit Hilfe der Zusatzfunktionen und exklusiven Features der RTL App sind unsere User jederzeit informiert und können sicher sein, ihre Lieblingssendung nicht zu verpassen“, sagt RTL-Internetmanager Robert Fahle. Ähnlich wie bei der FAZ ist die RTL App vier Wochen lang gratis. Danach kostet sie 1,59 Euro pro Monat.Viele Jahre haben Suchmaschinen wie Google und Yahoo, Social Communities wie Facebook oder unzählige Blogs viel Geld mit den Inhalten von Zeitungen, Zeitschriften, Radio- und Fernsehsendern verdient. Das soll bald vorbei sein. „Wir erlauben niemanden, dass er mit unseren Inhalten über Werbung Geld verdient“, sagte ein Sprecher der RTL Group. Europas grösster TV-Konzern fährt einen harten Kurs, wenn es um die eigenen Inhalte geht, die von Dritten im Internet oder auf Mobiltelefonen gewerblich genutzt werden.Berlin unterstützt indirekt das Vorgehen. Im Koalitionsvertrag wurde die Einführung eines Leistungsschutzrechts für Verlage vereinbart. Eine entsprechende Gesetzesvorlage wird derzeit vom Justizministerium bearbeitet. Demnach soll eine Verwertungsgesellschaft, so der Plan, Lizenzverträge mit Unternehmen abschliessen, die Online-Inhalte von Zeitungen oder Zeitschriften gewerblich nutzen wollen. Der politische Rückwind für das Leistungsschutzrecht ist gross. Erst vor kurzem hatte der bayerische Landeschef Horst Seehofer (CSU) die Kommunikationsbranche zu einem gemeinsamen Kampf „gegen die Gratismentalität im Netz“ aufgefordert. Hinter den Plänen stehen auch Justizministerin Sabine Leutheuser-Schnarrenberger – und Kanzlerin Angela Merkel.

© 2012 Handelsblatt GmbH – ein Unternehmen der Verlagsgruppe Handelsblatt GmbH & Co. KG
The Hunt, 1992/1996
The Hunt, 1992/1996
Kunstmarkt TV, 2008
Kunstmarkt TV, 2008
Finest Art on Water, 2011
Finest Art on Water, 2011
74

Text
Ivan Weiss

Christian Jankowski – Drei Mal Markt

Drei Arbeiten des deutschen Künstlers Christian Jankowski, die sich um das Thema «Markt» drehen.

FB

Zweimal versuchte Christian Jankowski an die Kunsthochschule in Hamburg aufgenommen zu werden: Ohne Erfolg. Nach der zweiten Absage entschied er sich als „Schwarzhörer“ die Vorlesungen zu besuchen. „Ich hatte gedacht, Kunst sei Malerei, aber jetzt hörte ich von Aktionisten und las über Performancekunst.“ Von diesen Einflüssen geprägt – und wohl auch vom Hunger getrieben – entwickelte er 1992 die Videoperformance „The Hunt“, in der er mit Pfeil und Bogen bewaffnet einen Supermarkt betritt und seine Beute aus den Regalen erlegt. Er schoss sich Butter, tiefgefrorene Poulets, Brot, legte seine Beute in den Einkaufswagen, ging zur Kasse und bezahlte. Wie er selbst sagte eine anarchistische Aktion, aber genauso ein Kommentar zum ambivalenten Umgang mit Nahrungsmitteln in der heutigen Zeit.
http://www.youtube.com/watch?v=4B08TIz4h-U

The Hunt, 1992/1996 

Einen anderen scharfen Kommentar zum Markt – diesmal zum Kunstmarkt – lieferte Jankowski 2008 im Video „Kunstmarkt TV“. Die an der Kunstmesse Art Cologne inszenierte Aktion bestand darin, dass Jankowski Kunstwerke, unter anderem Werke von Franz West oder Jeff Koons, von professionellen Teleshopping-Moderatoren live auf „Vernissage TV“ versteigern liess. Normalerweise werden in solchen Formaten Fitness- und Küchengeräte zu überteuerten Preisen gekauft – für die Kunst jedoch interessierte sich niemand. Der Medienwissenschaftler Gerrit Gohlke meinte dazu: „Die Vorankündigung klang wie ein satirischer Vernichtungsschlag: Ein Künstler würde auf einer traditionsreichen Kunstmesse eine Verkaufssendung installieren. In einer Performance würden zwei Darsteller Werke anbieten, wie sonst das Verkaufsfernsehen widerstandslosen Hausfrauen Tischstaubsauger oder Gesichtscremes alternder Schauspielerinnen anzudrehen pflege. In unerschöpflichen Dialogen voller Überbietungsformeln, euphorisierender Standardfloskeln und aggressiver Erweckungsrhetorik würde eine einfache Rechnung aufgemacht. Kunst wäre in dieser Gleichung auf einem ungebremsten, seine Regeln selbst definierenden Markt so etwas Ähnliches wie der willkürlich überbewertete Tischstaubsauger. Quälend peinlich und bis zur Verzückung erheiternd liess Jankowski sein Verkäuferduo – die mit dem Ramschfernsehen vertraute ehemalige Sonnenklar.tv–Verkaufsmoderatorin Khadra Sufi (heute Kabel1) und den Messe– und Eventsprecher John Dalke (ein früherer Musikwissenschaftler mit gediegener Erfahrung in der Firmen– und Messepromotion) – die Kunstwerke in die Kamera halten, Künstler befragen und Details bewerben. Werke von Jeff Koons, Franz West, Heimo Zobernig, Liam Gillick u.a. sowie eine Arbeit des gutgelaunten Jankowski selbst erschienen nicht als herabgewürdigte Objekte aus einer anderen Welt, sondern als Angebot mit Stärken und noch mehr Schwächen. Wer Jankowskis Aktion als Satire beschriebe, müsste ganz grundsätzlich die Methode dieses Künstlers verfehlen, der sich zu seinem regelmässig wiederkehrenden Thema – der Sprachlogik und Bildsprache in interaktiven Fernsehformaten – nicht minder nett verhält als Dalke und Sufi zur Kunst. Jankowskis virtuoses Werkzeug ist nicht die schmähende Parodie, sondern die bis zur Schmerzhaftigkeit freundliche Angleichung der getrennten Welten. Seine Medienkritik ist die herzliche Umarmung. Jankowski flirtet mit den Formaten. Jankowskis Kunst macht sich mit Khadra Sufis angestammtem Einsatzgebiet gemein und erlernt und reproduziert so die Gesetze der kommerziellen Surrogatwelten, die uns umgeben, mit schneidender Effizienz. Jede Minute Medienkritik in diesen Videos und Performances ist deshalb immer auch eine Reflexionsminute Kunstkritik. Jede Sendeminute „Kunstmarkt TV“ ist auch eine Realminute Hochkunstreflexion – nicht weil das eine Medium die Allegorie für die Verderbtheit des anderen wäre, sondern weil Kunst in der Mediengesellschaft permanent daran leidet, die Objekte ihrer Kritik mit tradierten Mitteln nicht einholen zu können. Der unhintergehbare Effekt dieser Kunst ist einzig dieser eine hervorstechende Erfolg: Dass sie die Medienwirklichkeit aufgesaugt, sich vampiristisch angeeignet hat.“
http://www.ustream.tv/recorded/351800

Kunstmarkt TV, 2008 

Und dann noch der Luxusgüter-Markt: In Zusammenarbeit mit einem Jacht-Bauer engagierte Jankowski an der Frieze Art Fair 2011 in London einen Bootshändler an einem normalen Galerie-Stand eine 68 Meter lange Luxus-Jacht zu verkaufen – und eine etwas kleinere Variante davon. Diese Jacht konnte jedoch nicht nur einfach als Jacht (zum Preis von 60 Millionen Pfund), sondern für einen Aufpreis von 10 Millionen Pfund auch als ein Jankowski-Kunstwerk mit dazugehörendem Echtheits-Zertifikat gekauft werden. Das Projekt, bekannt under den Namen „The Finest Art on Water“, sorgte für Unruhe in der Kunstwelt, da Jankowski das Projekt in expliziter Zusammenarbeit mit dem Bootsbauer CRN lancierte. Deren Brand Manager Luca Boldrini meinte dazu: „Frieze has become one of the most influential events in the art world and it is exciting that CRN will have a presence there to engage with people in this unique way. Our yachts combine cutting edge technology with stunning designs, premium materials and the finest craftsmanship. This project with Christian Jankowski allows us to work in an environment which transcends a yacht from an object to a piece of art.“ Jankowski selber sieht in dieser Aktion eine Erweiterung des Ready-Made-Begriffs – „wie Duchamps Urinoir, nur grösser und seetüchtiger“.
http://www.youtube.com/watch?v=VMggsm1GMXk

Finest Art on Water, 2011

Seit ein paar Jahren ist Christian Jankowski ordentlicher Professor an der Staatlichen Akademie der Bildenen Künste in Stuttgart.

75

Text
Stefan Sulzer

Really Andy?

Andy Warhol: «Schliess heute ein Warenhaus zu, öffne die Tür nach 100 Jahren, und du hast ein Museum moderner Kunst.» (1985). Really Andy?

FB

Okay, Andy meinte vielleicht Supermärkte an sich und nicht die sie besetzenden Waren, möglicherweise spezifische, die der 60er und 70er Jahre – who knows.  Doch weist seine Behauptung: „Schliess heute ein Warenhaus zu, öffne die Tür nach 100 Jahren, und du hast ein Museum moderner Kunst. (1985)“ etwelche Gültigkeit auf? Ohne sich hier in allzu abwegigen Interpretationen versteigen zu wollen, kann die direkte Antwort einfach so lauten: Nein. Denn nichts ist tatsächlich zeitlos. Und wenn, dann höchstens im Sinne der anhaltenden Affekte, welche einem Objekt über den materiellen Zerfall hinaus erhalten bleiben mögen. Die Attribute der zeitlichen Entstehung desselben, lassen sich aber nicht durch eine Form des ikonologischen Exorzismus vertreiben. Die Zukunft, wie wir sie aus Filmen der 70er Jahre kennen, ist und bleibt die Zukunft wie sie einzig und allein in den 70er Jahren existierte. Schönstes Beispiel hierzu ist Woody Allen’s Meisterwerk „Sleeper“, in dem er ein umwerfend komisches Bild des Jahres 2173 entwirft. Und selbst Zaha Hadid’s fantastisches Performing Arts Centre in Abu Dhabi wird irgendwann sooo 2014 sein (sollte es denn je gebaut werden). Der Versuch, die Zeitlichkeit ihrer Objekte auf eine kommende Ära des organischen Futurismus zu richten, wird in (mittel-) ferner Zukunft, so klar an unsere Zeit gebunden sein, wie die Krise, welche die Fertigstellung ihres Objekts möglicherweise verhindert.So no, Andy, if you open a supermarket after a hundred years of closure, it won’t look like a museum of modern art, it’ll just look like an outdated supermarket that needs dusting.  

Die Bilder zeigen 100-jährige Produkte, die laut Andys Theorie heute als zeitgenössische Kunstobjekte in Museen zu sehen sein müssten.

 

76

Text
artnet.de

FORT – Leck

Die Berliner Künstlerinnengruppe FORT hat in der Galerie Crone Regale aus einer ausrangierten Schlecker-Filiale aufgebaut, mit leer geräumten Regalen, Wühltisch und einem sich endlos drehenden Kassenband. Alle Schilder haben die Künstlerinnen entfernt. «Es ist in erster Linie ein leeres Gerippe eines Ladens», sagen sie. «Es ist ein antikapitalistisches Mahnmal», heisst es aus der Galerie. Das unbrauchbar gewordene Inventar wechselt von der Strasse in die Galerie und sieht dort einigermassen gespenstisch aus. Man wünschte nur, für die entlassenen Schlecker-Mitarbeiterinnen wäre auch noch Platz.

FB

  

Ende August 2012 wurde die letzte Filiale der Drogeriemarktkette Schlecker geschlossen und damit auch ein Kapitel der deutschen Wirtschaftsgeschichte. Der Metzgersohn Anton Schlecker gründete das Untenehmen 1975, zehn Jahre später war er bereits Marktführer mit 1000 Filialen deutschlandweit. Es folgte eine rasante Expansion, national wie international. In Spitzenzeiten umfasste das Schlecker-Imperium etwa 14.000 Filialen mit 50.000 Mitarbeitern in 17 Ländern. Ende der 2000er Jahre gerät der Drogerie-Discounter ins Trudeln. Das Unternehmen macht Verluste, die Liquidität ist in Frage gestellt, die Mitarbeiter sind unterbezahlt, die Läden veraltet, die Arbeitsbedingungen katastrophal. Alle Versuche, den Konzern neu auszurichten und das Image wieder aufzupolieren, scheitern. Im Januar 2012 stellt Anton Schlecker Antrag auf Insolvenz. Nachdem kein Investor für eine Übernahme gefunden werden kann, werden alle Filialen dicht gemacht und sämtliche Mitarbeiter entlassen. Europas größte Drogeriemarktkette verschwindet. Überall in Deutschland, ob in Großstädten, Kleinstädten oder Dörfern, zeugen für kurze Zeit tausende verwaiste Schlecker-Läden mit ihren leeren Regalen und nackten Wänden von diesem Verschwinden.Für ihre erste Einzelausstellung in der Galerie Crone hat das Künstlerkollektiv FORT dieses Bild in einer raumgreifenden Installation festgehalten. Die gesamte Einrichtung einer insolventen Schlecker-Filiale aus Berlin Prenzlauer Berg wurde abgebaut und im Obergeschoss der Galerie in modifizierter Form neu zusammengesetzt. Die Außenwände des Schlecker-Inventars fügen sich zu einem monumentalen Kubus, der mit einer Fläche von etwa zwölf mal sechs Metern einen eigenen Raum im Galerieraum bildet. Beim Betreten begegnet dieser Kubus dem Besucher wie die Rückseite einer Kulisse, dahinter befindet sich der Eingang zu einem dystopischen „Schleckerland“, in dem grau-weiße Flächen und blaue Leisten das vertraute Bild der Drogeriekette beschwören, das jedoch dekontextualisiert und auf seine Einzelteile reduziert fremd und verstörend wirkt. An der Decke befestigte Neonröhren hüllen leere Regalreihen, perforierte Stellwände und Einkaufswägen in grelles Licht. Die Gebrauchsspuren am gesamten Inventar erstarren zu Zeichen eines vergangenen (Produkt)Lebens. Die Installation ist statisch, die einzige Bewegung entspringt einem Laufband an der Kasse, das jeglicher Funktion entkleidet auch nur ins Leere läuft. Was bleibt, ist ein dumpfes Brummen, das bedrohlich durch den Raum hallt.Die Auseinandersetzung mit Räumen des Alltags zieht sich wie ein roter Faden durch die künstlerische Praxis von FORT. Die Installationen und Performances des Künstlerkollektivs sind an der Grenze zwischen alltäglicher Wirklichkeit und künstlicher Simulation situiert, an der dem Betrachter reale Orte als Zerrbilder einer künstlichen Welt erscheinen.

In der Ausstellung „Leck“ wird eine Schlecker-Filiale zu solch einem Zerrbild. „Schlecker“ ist hier wortwörtlich greifbar und doch so wenig begreifbar wie die Funktionsweise des Systems, dessen Scheitern es heute symbolisiert. Der Ausstellungstitel greift das Motiv des Scheiterns und des Untergangs in doppelter Weise auf. Zum einen bezeichnet er das „Leck“ in einem Schiff, den Bruch im System, das es zum Untergang bringen kann. Zugleich ist „Leck“ aber auch ein Teil des Wortes Schlecker (Sch-leck-er): „Leck“ fungiert damit als semantisches Gerippe in der selben Weise, in der das Inventar der Schlecker-Filiale das materielle Gerippe eines im Verschwinden begriffenen Ortes darstellt, der jahrzehntelang das Wahrnehmungsfeld unseres täglichen Lebens prägte. In ihrer Installation ruft FORT die spezifische Alltagsästhetik von Schlecker noch einmal ins Bewusstsein, allerdings nur noch als Fragment, dessen Präsentation im White Cube das Vertraute und Alltägliche in neuer, fremder Perspektive erscheinen lässt.

Durch die Neuanordnung und Reduzierung des Inventars entsteht ein Objekt, das sich von der ursprünglichen Bedeutung seiner Bestandteile entfernt und gerade dadurch dieser Bedeutung wieder nähert. Erinnerungen an Bilder aus Filmen wie Romero‘s „Dawn Of The Dead“ kehren ins Gedächtnis zurück. Die postapokalyptische Leere eines gesellschaftlichen Niedergangs, wie er in Science-Fiction Filmen zu finden ist, schwingt in diesem „noch“ sehr zeitgemäßen Ausstellungsstück mit. In einer fortgeführten zeitlichen Ebene, erscheint es als naheliegende Möglichkeit, dass Menschen in zwei Jahrhunderten in einem Museum vor einem Relikt kapitalistischen Scheiterns stehen könnten.

Die Dekontextualisierung der Schlecker-Filiale im Galerieraum konserviert also einerseits eine prägende Alltagsästhetik, andererseits wirft sie aber vor allem auch Fragen nach dem Verhältnis einer Praxis des Bewahrens und einer künstlerischen Verwertungslogik auf. Auf dem Prüfstand steht nicht nur das Verhältnis von Kunst und Ökonomie, sondern nicht zuletzt auch unser Verhältnis zum Niedergang eines Unternehmens und seinen sozialen Konsequenzen. FORT hat eine Installation geschaffen, die nicht nur das Antlitz eines wirtschaftlichen Zusammenbruchs festhält, sondern Besucher in unmittelbarer Konfrontation mit den materiellen Überresten dieses Zusammenbruchs zur kritischen Reflexion auffordert.

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Text
Reto U. Schneider

Preiskampf in der Bückzone

Warum Sie bei 9.95 Fr. zugreifen, wieso der Mann beim Einkauf stört, weshalb Sie einen Zahnstocherspender kaufen, den Sie nicht brauchen – Antworten aus der Shopping- Wissenschaft.

FB

Selten so eigentlich gewusst, trotzdem gelacht und zusätzlich gestaunt.Nun, was mich dann tröstet, ist das Finale:“Das grösste Hindernis bei der Umsetzung der Shoppingforschung sind jedoch Sie. Wie alle Menschen sind Sie ein Gewohnheitstier, und wenn shoppingwissenschaftlich auf dem neusten Stand zu sein bedeutet, den Bananenquark nicht mehr zu finden, dann legen Sie keinen Wert darauf – auch wenn es für seinen Umzug in die Bückzone handfeste mathematische Gründe gibt. Der Kunde steht im Mittelpunkt – und damit im Wege, heisst ein geflügeltes Wort der Ladendesigner.“Lesen sie den ganzen Artikel hier als PDF oder auf: NZZ-Folio

Reto U. Schneider ist stellvertretender Redaktionsleiter von NZZ Folio.
NZZ Folio 11/06, Thema: Shopping
Copyright © Neue Zu?rcher Zeitung AG
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Text
Stefan Sulzer

Wir sind Krise

Der vielbeschworene Markt. Von seinen Jüngern stetig als wohlwollende Entität beschrieben, deren Macht als ausgleichendes Korrektiv der Bestimmung von Verlierenden und Gewinnenden dient. Eine uns zum Nirvana des freien Handels hinführende Epiphanie. Der Frederic Jameson und Slavoj Zizek zugeschriebene Leitsatz, es sei einfacher sich das Ende der Welt, als jenes des Kapitalismus vorzustellen, wird in dem, im Jahr 2009 publizierten Buch Capitalist Realism: Is there no alternative? von Mark Fisher ausgiebig diskutiert.

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Der vielbeschworene Markt. Von seinen Jüngern stetig als wohlwollende Entität beschrieben, deren Macht als ausgleichendes Korrektiv der Bestimmung von Verlierenden und Gewinnenden dient. Eine uns zum Nirvana des freien Handels hinführende Epiphanie. Der Frederic Jameson und Slavoj Zizek zugeschriebene Leitsatz, es sei einfacher sich das Ende der Welt, als jenes des Kapitalismus vorzustellen, wird in dem im Jahr 2009 publizierten Buch Capitalist Realism: Is there no alternative? von Mark Fisher ausgiebig diskutiert. Er nimmt sich darin der seit mehreren Jahrzehnten uneingeschränkten Erstarkung des kapitalen K’s an. Der Text beschreibt den momentanen Zustand fehlender Alternativen zu einer kapitalistischen Weltordnung. Der darniederliegende Patient wird nur noch palliativ behandelt, an Heilung glauben nur noch träumende Idealisten. Wie auch, wenn selbst die bereitgestellte Abhilfe Teil der Maschinerie ist, welche sie zu bekämpfen sucht? Wird das Geld nur am richtigen Ort ausgegeben, so eröffnen sich uns Wege, zur Verbesserung des allgemeinen Leids beizutragen. Im Bewusstsein um die ökologischen Schäden der fossil betriebenen Transportgesellschaft, outsourcen wir beispielsweise die Bekämpfung derselben gern in Entwicklungsländer, eine Gutfühlstrategie, die uns weismachen will, dass es möglich ist Gutes zu tun, ohne die geringsten Einschränkungen der eigenen Lebensführung, in Kauf nehmen zu müssen. Okay, ich fliege zwar oft, dafür baut ein Bio Bauer irgendwo in Südostasien gestützt durch meine freiwilligen Abgaben eine Windanlage. Einschneidende Veränderungen der persönlichen Lebenshaltung werden dadurch bequem ausgeschlossen. Nichts darf die eigene uneingeschränkte Freiheit tangieren. Ich will zwar dass der Übergewichtige, eben erst zugestiegene und unappetitlich riechende Typ, irgendwo im Zug einen freien Platz kriegt, solange es nicht genau der neben mir ist.

Die vielzitierte Krise, welche im Sommer 2007 ihren unrühmlichen Anfang nahm, hallt, den unzähligen Stimulus Paketen zum Trotz, täglich nach. Vor direkten Auswirkungen grösstenteils verschont, mögen manche hierzulande indes nur aus der Zeitung wissen, dass gerade Krise ist. Allerdings hat sich beispielsweise der Preis für das Eintrittsticket in die soziale Mobilität (Bildung) auch in westlichen Ländern erhöht. Etwas was im schweizerischen Bildungssektor gerade diskutiert wird. Eine harte Realität, so man sie denn am eigenen Leib erfährt.

Die Ereignisse des Jahres 2008 bescherten Kapitalismuskritikern die Hoffnung, gefolgt von der, das Potenzial der Hoffnung übersteigenden Ernüchterung, nach fundamentaler Veränderung. Zizek’s Mantra fand sozialpolitische und ökonomische Bedingungen vor, welche eine Re-Evaluation dringlich erscheinen liessen. Wie Mark Fisher in seinem (von Zizek übrigens hochgelobten) Buch schreibt, sind die Konditionen, ein System einem fundamentalen „Reality Check“ zu unterziehen, dann am besten, wenn ebendieses schwächelt, oder gar zu kollabieren droht. Das war 2008 offensichtlich der Fall. Allerdings folgte in Form von Rettungspaketen, in bisher unbekannten Höhen, umgehend die unverkennbare Bestätigung, dass unserer Welt nicht ohne, genau das eben noch am Boden liegende Konstrukt einer kapitalistischen Ordnung, leben kann. Welch weitreichendere Bestätigung könnte sich ein System denn wünschen, als von den Menschen gerettet zu werden, welche es eben erst in den Ruin trieb? Wie unverzichtbar muss einen solche Struktur erscheinen? Wie unvorstellbar valable Alternativen?

Mark Fisher’s Vorschläge zur Überwindung des Kapitalismus wirken mit Blick auf die Übermacht seines ideologischen Feindes eher bescheiden, wenig einschneidend und durchaus verhalten. Trotzdem lohnt es sich seiner Suche nach einem möglichen Gegenentwurf zu folgen, selbst wenn für viele alleine der Wunsch nach einem solchen, als Beweis eines unzureichenden Realitätssinns dienen mag.

Mehr zum Thema:
Spannendes Interview mit Slavoj Zizek in der WOZ
http://www.woz.ch/1248/slavoj-zizek/lasst-doch-die-reichen-reich-sein

 

79

Tipp
Hin Van Tran

Mega-Kunstraub: was passiert mit den geklauten Meisterwerken?

Die gestohlenen Gemälde sind ab sofort «heisse Ware», als gestohlen gemeldet – an einen sofortigen Verkauf ist nicht zu denken, höchstens an Erpressung.

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Die Kunstwelt unter Schock: Sieben wertvolle Gemälde wurden aus der Kunsthalle in Rotterdam gestohlen. Picasso, Monet, Matisse – einer der grössten Kunstraube aller Zeiten. Und der frechste! Was passiert mit den Meisterwerken?

Die sieben gestohlenen Werke, die einen potenziellen Wert von mehreren Millionen Euro haben, sind weltberühmt und gelten als unverkäuflich. Es handelt sich um Pablo Picassos Tête d’Arlequin (1971), Claude Monets Waterloo Bridge, London (1901) und Charing Cross Bridge, London, Henri Matisses La Liseuse en Blanc et Jaune (1919), Paul Gauguins Girl in Front of Open Window (1898), Meyer de Haan’s Self-Portrait (um 1890) sowie Lucian Freuds Woman with Eyes Closed (2002). 

Die gestohlenen Gemälde sind ab sofort „heisse Ware“, als gestohlen gemeldet – an einen sofortigen Verkauf ist nicht zu denken, höchstens an Erpressung. War ein gieriger Sammler der Autraggeber?

Unwahrscheinlich, meint Victorine Stille, Kunstdetektivin bei der weltgrössten Datenbank für gestohlene Kunstwerke „Art Loss Register“ in Köln. Sie erklärte „Zeit Online“: „Wir haben in der jüngeren Vergangenheit 2000 Fälle untersucht und hatten letztlich nur zwei Mal einen solchen Auftraggeber im Hintergrund.“

WAS JETZT PASSIERT… NICHTS?

Oftmals verschwinden so wertvolle und bekannte Kunstwerke zunächst in irgendeinem Tresor oder Keller – für Monate, nicht selten für Jahre. Die neuen Besitzer halten sie zurück und hoffen, dass der Diebstahl in Vergessenheit gerät. Erst dann versuchen sie ihr Glück auf dem Kunstmarkt.

Auch Vincenzo Peruggia, der vor rund 100 Jahren das berühmteste Gemälde der Welt, Leonardo da Vincis „Mona Lisa“, aus dem Louvre stahl, verliess sich auf die Zeit: Zwei Jahre lang lag die unschätzbare Kostbarkeit im doppelten Boden seines Koffers in seiner Pariser Wohnung – bis er beim Verkauf festgenommen wurde.

KUNSTWERKE WERDEN WÄHRUNG

Bilder seien oft auch eine Art Währung im Waffen- und Drogenhandel, sagte Julian Radcliffe, Präsident des „Art Loss Registers“ in London laut der Zeitung „DIE WELT“. Die Werke kursieren demnach so lange in kriminellen Kreisen, bis jemand sich traut, sie zum Kauf anzubieten. Ein simpler Tausch, immer wieder: Ware gegen Kunst.

Letztlich bliebe für die Diebe nur die Möglichkeit, das Museum oder die Versicherer zu erpressen sagte Julian Radcliffe weiter. Bei einem Verkauf auf dem Schwarzmarkt müssten sich die Kriminellen mit Einnahmen zufrieden geben, die deutlich niedriger seien als der Wert der Werke.

Robert Wittman, FBI-Experte für Kunstraube, hält einen Verkauf ebenfalls für ausgeschlossen. „Die Diebe werden die Bilder auf keinem Markt verkaufen können, sei es der Schwarzmarkt oder irgendein anderer“, sagte der US-Amerikaner im Interview mit The Atlantic. Wittman blickt auf mehr als 20 Jahre als Ermittler zurück. Bei Kunstrauben dieser Grösse ständen die Diebe oft vor einem Dilemma, sagte er: In den meisten Fällen seien die Täter zwar exzellente Diebe, aber hätten nicht die nötigen Kenntnisse, um die Beute zu Geld zu machen. 

Radcliffe erklärte: „Bleiben Gemälde länger als 20 Jahre verschwunden, tauchen nur noch 20% wieder auf.“

Bestes Beispiel: Pablo Picasso. Laut „Daily Mail“ sind in der Datenbank von „Art Loss“ bislang unglaubliche 1147 Picasso-Werke als gestohlen gemeldet – so viele wie von keinem anderen Künstler. Seit sein Gemälde „Tête d’Arlequin“ am Dienstag aus der Kunsthalle in Rotterdam gestohlen wurde, ist es eines mehr.

Manchmal sind solche grossen Coups aber auch nur seltsame Mutproben: 2004 wollte eine Gruppe gerissener Diebe anderen Gaunerbanden zeigen, wie professionell sie arbeitet – und raubte am helllichten Tag Edvard Munchs weltberühmten „Schrei“ aus einem Museum. Das eigentliche Kunstwerk ist dabei kaum von Bedeutung. Drei Jahre später tauchte das Bild stark beschädigt wieder auf, die Täter kamen in Haft.

„Rund 20 Prozent der gestohlenen Gemälde werden zerstört – entweder versehentlich oder mit voller Absicht, wenn der Besitz der Bilder zu heiss wird. Weitere 20 Prozent behalten die Diebe selbst, um sie wenn nötig als Druckmittel einzusetzen, falls sie wegen anderer Vergehen festgenommen werden“, sagte Radcliffe.

UNVERHOFFTE GLÜCKSFÄLLE

Selten tauchen gestohlene Werke auch nach vielen Jahren wieder auf. 42 Jahre dauerte es, bis das Gemälde „Electric Cord“ des amerikanischen Pop-Art-Künstlers Roy Lichtenstein zurück zu seinem rechtmässigen Besitzer fand. Leo Castelli hatte das Bild zur Reinigung an einen Restaurator übergeben und nicht zurückbekommen. Erst Jahre später fand es die Witwe des mittlerweile gestorbenen Restaurators in dem Spind eines seiner Angestellten.In diesem außergewöhnlichen Fall ein Segen, dass das Gemälde so lange eingestaubt war: Castelli hatte es in seinem Entstehungsjahr 1961 für 750 US-Dollar gekauft – heute wird sein Wert auf rund vier Millionen US-Dollar geschätzt.

© die Zeit, Zeitverlag
Gerd Bucerius GmbH & Co. KG

 

80

Text
Patricia Schneider

Kunstsupermarkt in Solothurn

Zum 13. Mal findet in Solothurn der «Kunstsupermarkt» statt – wo Kunst zu Discout-Preisen gekauft werden kann.

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In Solothurn buhlen zwei Kunst-Discouter um die Gunst der Schnäppchenjäger. Der Kunstsupermarkt in der RotHusHalle findet bereits zum dreizehnten Mal statt und erhält nun Konkurrenz durch die erstmals durchgeführte Gegenveranstaltung „Kunst findet Stadt“, die ihre Tore gleich gegenüber im Restaurant Volkshaus geöffnet hat. Während der Kunstsupermarkt vorwiegend auf ausländische Kunst im Tiefpreissegment setzt, konzentriert sich die neue Konkurrenz auf das regionale Schaffen.Beide Veranstalter betonen die hohe Qualität ihrer Kunstwerke, aber es stellt sich dennoch die Frage, wieso diese Kunstwerke so viel günstiger sind, als in einer Galerie. Handelt es sich um die Werke von Künstlern, die von den etablierten Institutionen abgewiesenen wurden, sind es verbilligte Restposten, die in den Galerien nicht verkauft werden konnten oder bieten die Discounter schlicht eine neue Plattform für günstige Kunstwerke an? Im Interview mit Claudia Badertscher vom Bund verriet Peter-Lukas Meier, der Organisator vom Kunst-Supermarkt, dass mit den billigsten Kunstwerken kaum etwas zu verdienen sei. Wie das in einem Supermarkt halt üblich sei, dienten die Sonderangebote vor allem dazu, möglichst viele Leute anzulocken. Bei den zahlreichen Besuchern scheint das Konzept des Kunst-Discounters zu funktionieren. Sie interessieren sich für gefällige Kunstwerke, die keiner Erklärung bedürfen und schätzen daher die Warenhausatmosphäre und natürlich die günstigen Preise. Die Solothurner Künstler konnten dem Kunst-Supermarkt nichts abgewinnen und sahen darin eine billige Konkurrenz, die ihnen das Wasser abgräbt. Mit dem neuen Format „Kunst findet Stadt“ hat Roland Wittwer nun eine ähnliche Plattform für die regionale Kunst geschaffen. Die Bieler Kunstkritikerin Anneliese Zwez hat bei der Eröffnung ein ausführliches Plädoyer für den neuen Kunst(super)markt gehalten.

Weitere Links zum Thema:
http://www.solothurnerzeitung.ch/solothurn/stadt-solothurn/solothurn-und-seine-kunstsupermaerkte-125529356
http://www.solothurnerzeitung.ch/solothurn/stadt-solothurn/kontrastprogramm-gleich-vis-vis-125559488

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Tipp
Stefan Sulzer

Buchtipp: Confessions of a Poor Collector

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Das grossartige Büchlein „Confessions of a Poor Collector“ von Edition Taube. Das perfekte Geschenk für Leute die gleichermassen an Kunst, Geld und Prestige interessiert sind.

Online bestellen unter:
http://editiontaube.de/2012/confessions-of-a-poor-collector
Graphics Handbook
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HA ZA VU ZU
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The Master
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HOMELANDS
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The Catalogue of Reason
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Nijverdal/Hellendoorn
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Hardau
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Bettie Kline
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Poemotion
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Himmel
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M to M of M/M
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Places and Spaces I've Been
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Russische Gestalten und Ereignisse
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vasarely
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Paspels
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Appenzeller Bauernmalerei
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Rare Spelllings
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Teilzeitkraft
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Peripheriewanderung Bonn
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iSee
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Art Freaks
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Maximum Animals
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40 Jahre Kernspaltung
40 Jahre Kernspaltung
Structure and Substance
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Nimmt Schaden
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BilderBuch 7
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Heute und Danach
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Il Libro illeggibile MN 1
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CLUB 13
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VOL.I
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All Beauty Must Die
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The Pier
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Two Lines
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Fora de Escala
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Animals That Saw Me
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Europa Two
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Die Wolken
Die Wolken
I Love Fast Cars
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Lisboa, Cidade Triste e Alegre
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Rymd-plats-rum
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Dust & Shadow
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Whop Whop Whop
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Video
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The Art of Design
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Oh, no, no...
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Parade
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Cyanotypes
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Bildkolumne
unfolded

ohne Titel

neueingänge im bücherregal, oder a personal shopping tale

updated: 12/12/31
updated: 13/1/7
updated: 13/1/31

to be continued ('til ding dong #5)

unfolded, 2012, 2013

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Graphics Handbook HA ZA VU ZU The Master HOMELANDS The Catalogue of Reason Kraft Nijverdal/Hellendoorn Hardau Bettie Kline Poemotion Himmel M to M of M/M Places and Spaces I've Been Russische Gestalten und Ereignisse  vasarely Paspels Appenzeller Bauernmalerei Rare Spelllings Teilzeitkraft Peripheriewanderung Bonn iSee Art Freaks Maximum Animals 40 Jahre Kernspaltung Structure and Substance Nimmt Schaden BilderBuch 7 Heute und Danach Il Libro illeggibile MN 1 CLUB 13 VOL.I All Beauty Must Die The Pier Two Lines Fora de Escala Animals That Saw Me Europa Two Die Wolken I Love Fast Cars Lisboa, Cidade Triste e Alegre Rymd-plats-rum Dust & Shadow Whop Whop Whop Video The Art of Design Oh, no, no... Parade Cyanotypes

neueingänge im bücherregal, oder a personal shopping tale. Ken Garland – Graphics Handbook, Studio Vista, London, 1966, Gestaltung: Ken GarlandHA ZA VU ZU, FRAC des Pays de la Loire, Carquefou, 2009, Gestaltung: AbäkeJürgen Teller: The Master: v. 2, Steidl, Göttingen, 2010HOMELANDS, selfpublished, Zürich, 2012, Gestaltung: Piero GlinaRonan & Erwan Bouroullec – The Catalogue of Reason, Images Modernes, Paris, 2002, Gestaltung: Laurent Fétis–Archiv Peter Piller – Kraft, Christoph Keller Editions, JRP, Zürich, 2011, Gestaltung: Christoph KellerPeter Piller – Nijverdal/Hellendoorn, Christoph Keller Editions, JRP, Zürich, 2007, Gestaltung: Christoph KellerHardau, 2008, Salis Verlag, Zürich, Gestaltung: Südpol–Richard Prince – Bettie Kline, Purple Institute, Paris, 2012Takahiro Kurashima – Poemotion, Lars Müller, Baden, 2012, Gestaltung: GYMAndreas Züst – Himmel, Edition Patrick Frey, Zürich, 2011, Gestaltung: buero146Emily King – M to M of M/M (Paris), Thames & Hudson, London, 2012, Gestaltung: Graphic Tought Facility–Pharrell: Places and Spaces I’ve Been, Rizzoli, New York, 2012, Gestaltung: Li, Inc.–Waldemar Jollos – Russische Gestalten und Ereignisse, Buchverlag der Neuen Zürcher Zeitung, Zürich, 1953vasarely, Fernand Hazan Éditeur, Paris, 1973Valerio Olgiati – Paspels, Edition Dino Simonett, Zürich, 1998Appenzeller Bauernmalerei, Verlag Arthur Niggli, Teufen, 1975, Gestaltung: Arthur NiggliRoni Horn – Rare Spelllings, Richter Verlag, Düsseldorf, 1993–Peter Piller: Teilzeitkraft, Christoph Keller Editions, JRP, Zürich, 2007Archiv Peter Piller – Peripheriewanderung Bonn, Revolver, Frankfurt, 2007, Gestaltung: Christoph KellerReeto von Gunten – iSee, Echtzeit, Basel, 2008, Gestaltung: Müller+HessOlaf Breuning – Art Freaks, Acme, Lausanne, 2012–Maximum Animals, everyedition, Zürich, 2012, Gestaltung: Sebastian Cremers–Peter Tillessen – 40 Jahre Kernspaltung, Kodoji Press, Baden, 2012Ken Garland – Structure and Substance, Unit Editions, London, 2012, Gestaltung: Spin–update: 12/12/31Peter Piller: Nimmt Schaden, Christoph Keller Editions, JRP, Zürich, 2008Hans-Rudolf Lutz – BilderBuch 7 (SchriftBilder), Verlag Hans-Rudolf Lutz, Zürich, 1986/1997Heute und Danach, Edition Patrick Frey, Zürich, 2012, Gestaltung: PrillVieceliCremers–Bruno Munari – Il Libro illeggibile MN 1, Corraini, Mantova, 2011Nils Petter Löfstedt – CLUB 13, Pierre von Kleist Editions, Lisbon, 2009Pauliana Valente Pimentel – VOL.I, Pierre von Kleist Editions, Lisbon, 2009Patrícia Almeida & David-Alexandre Guéniot – All Beauty Must Die, GHOST, Lisbon, 2011Nils Petter Löfstedt – The Pier, Pierre von Kleist Editions, Lisbon, 2010–Pedro Campos Costa, Nuno Louro – Two Lines, selfpublished, Lisbon, 2009Manuel Baptista – Fora de Escala, Athena, Lisbon, 2011 – update: 13/1/7Ed Panar – Animals That Saw Me, The Ice Plant, Los Angeles, 2011Jane & Jeremy – Europa Two, selfpublished, London, 2010Erik van der Weijde – Die Wolken, 4478ZINE, Natal, 2012Craig McDean – I Love Fast Cars, powerHouse Books, New York, 1999, Gestaltung: M/M (Paris) Victor Palla & Costa Martins – Lisboa, Cidade Triste e Alegre, Pierre von Kleist Editions, Lisbon, 2009 (1959) – update: 13/1/31Visslingar & Rop – Rymd-plats-rum, Stockholm, 2000, Gestaltung: RealaCharlie Duck – Dust & Shadow, Duke Press, London, 2009Cathy Wilkes – Whop Whop Whop, Revolver, Frankfurt, 2002, Gestaltung: Martha StuttereggerAndreas Schimanski – Video, selfpublished, Bremen, 2006, Gestaltung: Markus Klinkusch – The Art of Design, Mudac, Lausanne, 2010, Gestaltung: Gregor Huber & Ivan SterzingerSetareh Shahbazi – Oh, no, no… – The Crystal Series, 2004, Gestaltung: Aude LehmannPhilippe Parreno – Parade, JRP, Zürich, 2009Christian Marclay – Cyanotypes, JRP, Zürich, 2011, Gestaltung: Norm– to be continued (‚til ding dong #5)–unfolded, 2012, 2013

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Text
Anatol Heib, Tagesanzeiger

Filmtipp: Taste the Waste

Der Dokumentarfilm «Taste the Waste» zeigt, wie täglich tonnenweise noch einwandfreie Lebensmittel weggeworfen werden – weil es sich rechnet. Ein Interview mit dem Produzenten des Werks.

FB

Der Dokumentarfilm „Taste the Waste“ zeigt, wie täglich tonnenweise noch einwandfreie Lebensmittel weggeworfen werden – weil es sich rechnet. Ein Interview mit dem Produzenten des Werks.

Der deutsche Filmemacher Valentin Thurn zeigt in „Taste the Waste“ den täglichen Wahnsinn in der Lebensmittelbranche: Supermärkte, die täglich noch geniessbare Artikel entsorgen oder Gurken und Kartoffeln, die gar nicht erst in den Regalen landen, weil sie optische Vorgaben nicht erfüllen. In der EU wird täglich tonnenweise Essbares entsorgt. Mehr als die Hälfte unserer Nahrung landet im Müll, alleine in Deutschland werden jährlich 500’000 Tonnen Brot weggeworfen, wie Thurn recherchiert hat.

„Wollte herausfinden, was da schiefläuft“

Aufmerksam auf das Thema wurde Thurn während einer Reportage über junge Menschen in Deutschland, die Lebensmittel aus den Abfalltonnen der Supermärkte fischten. „Das hat mir die Augen geöffnet. Bei vielen Lebensmitteln war zwar das Haltbarkeitsdatum abgelaufen, aber geniessbar waren sie immer noch. Vieles war sogar noch nicht abgelaufen. Mit meiner Dokumentation wollte ich herausfinden, was da schiefläuft – die Unternehmen machen doch sonst auch nichts, was sich nicht rentiert“, sagt Thurn im Gespräch mit Tagesanzeiger.ch/Newsnet. Doch genau das Wegwerfen scheint sich für die Supermärkte zu rechnen. „Im Preis jedes Joghurtbechers, den wir kaufen, ist bereits ein weiterer eingepreist, der weggeworfen wird.“

Supermärkten ist das Thema peinlich

Weder Hersteller, Fabriken noch Supermärkte in Deutschland liessen das Filmteam drehen – und erst recht nicht, wie sie Lebensmittel in die Tonne werfen. „Das Thema ist ihnen peinlich, deshalb wollen sie nicht darüber reden. Einzelne Pressestellen behaupteten gar, dass sie gar nichts wegwerfen“, sagt Thurn. Für die Dreharbeiten musste er nach Frankreich ausweichen, die Zahlen hat er in England und Österreich recherchiert. „Dort gibt es Studien über Lebensmittelverschwendung, die zudem stark in der Öffentlichkeit diskutiert wird.“

Im günstigsten Fall landet die Ware bei Suppenküchen

Mit Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums geht die Haftung vom Hersteller der Lebensmittel auf die Supermärkte über. „Sie halten es für zu kompliziert, bei mehreren Tausend Produkten den Überblick zu behalten und werfen sie eben lieber weg. Bei Gemüse und Obst gibt es kein Datum, aber hier sind die Märkte überzeugt davon, dass sie mehr verkaufen, je makelloser die Ware aussieht. Deswegen wird Obst und Gemüse bereits mit kleinen Makeln weggeworfen.“Bei seinen Recherchen stiess er auf Supermarkt-Filialleiter, die ihm sagten, dass eben immer bis Ladenschluss alles vorrätig sein müsse. Frische Ware, die kurz vor dem Ablaufdatum stehe, müsse raus. Den Kunden solle nur allerfrischeste Ware präsentiert werden. „Gemüse und Früchte werden teilweise schon nach einem Tag entfernt. Im günstigsten Fall landet die Ware bei Suppenküchen. Aber so viele Bedürftige gibt es gar nicht, wie weggeworfen wird“, sagt Thurn.Vorsorge bei Frischwaren sei grundsätzlich in Ordnung. „Es gibt Waren wie Fleisch, Fisch oder Ei, wo es beim Verbrauchsdatum keinen Spielraum gibt. Aber bei einem Joghurt, das vielleicht drei Tage über dem Datum ist, merkt man nach einem Löffelchen ja selber, ob man es noch essen kann. Und nach dieser Kostprobe besteht auch keine Gesundheitsgefahr. Aber leider klären uns die Hersteller nicht darüber auf, weil sie dann weniger verkaufen würden.“

Die krumme Gurke

„Taste the Waste“ zeigt, dass die Absurdität bereits auf dem Feld beginnt: In Deutschland werden laut Thurn knapp die Hälfte der Kartoffeln aussortiert, weil sie nicht den optischen Anforderungen der Detailhändler genügen. „Von den Supermärkten heisst es dann, dass das die Konsumenten so wünschen. Aber ich zweifle daran, ob die Kundschaft wirklich Mühe hat mit einer ungewöhnlichen Kartoffelform oder einer krummen Gurke.“Oft werde die EU für die Normen verantwortlich gemacht. Das stimme zum Teil. „Wenn Brüssel wie kürzlich bei den Gurken eine Norm streicht, dann behält der Handel diese einfach bei, weil man nur gerade Gurken einfach verpacken kann“, so Thurn. Da würden nur noch industrielle Prozesse im Mittelpunkt stehen. Durch die ganze Normierung würden die Käufer in der Stadt auch verlernen, wie unterschiedlich Gemüse aussehe, wie man es richtig lagere und zubereite. „Letztlich ist es auch eine Frage von Erziehung und Gewohnheit, ob man als Käufer auch Gemüse akzeptiert, das vielleicht optisch nicht perfekt ist.“

„Bewusster einkaufen“

Auch wenn im Film die Lebensmittelindustrie und der Detailhandel im Fokus stehen, ist für Thurn klar, dass auch der einzelne Konsument zu viel wegwirft. Wenn man in die Abfalleimer schaue, sehe es überall gleich aus. Ob England, Deutschland, Österreich oder Japan: Der Hausmüll besteht zu 10 Prozent aus essbaren Lebensmitteln. Sogar bei Leuten aus ärmeren Schichten steige die Menge kontinuierlich an. Allein deutsche Haushalte werfen jährlich Lebensmittel für 20 Milliarden Euro weg.“Wir müssen wieder lernen, Lebensmittel zu schätzen und bewusster einzukaufen. Nach einem Grosseinkauf wird leider zu viel weggeworfen. Hat man nach dem Kochen noch etwas übrig, kann man es einfrieren. Es gibt so viele kreative Resterezepte. Oder nach der nächsten Party ergreift man die Initiative, packt die übrig gebliebenen Lebensmittel ein und fragt, wer etwas mitnehmen will.“Es spiele auch eine Rolle, ob man selber kocht. „Dann kaufe ich vielleicht eher regional ein und werfe weniger weg, weil ich dem Lebensmittel mehr Wertschätzung entgegenbringe.“Das Problem mit dem Wegwerfen von Lebensmitteln kennt Thurn aus eigener Erfahrung: „Heute Morgen musste ich schnell weg, auf dem Tisch blieb ein halbes Brötchen liegen. Das passiert mir täglich und lässt sich nicht ganz vermeiden. Es geht nicht darum, dies auf null zu reduzieren. Aber wenigstens um die Hälfte sollte man die Lebensmittelentsorgung reduzieren können. Das kratzt nicht an unserem Lebensstandard.“

84

Text
Charlotte Jacquemart, NZZ am Sonntag

Bild
Luca Fascini

Die letzten Steueroasen

Zollfreilager sind eine Art riesige Tresore – und sie drohen heute wegen der Krise aus allen Nähten zu platzen. Allein in Genf liegen Güter im Wert von über hundert Milliarden Franken. Weiter

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Man wolle keine Journalisten empfangen, sagt die Marketingchefin des Zollfreilagers Genf. Das ist verständlich: Zollfreilager boomen – und zu viel mediale Aufmerksamkeit macht Kunden kopfscheu. Nicht dass Besucher vor Ort in dem tristen Betonbau beim Flughafen in Cointrin viel sehen: Selbst wer Zutritt erhält in die 140 000 m2 von les Ports Francs de Genève, wie das Lager heisst, bekommt ausser Betongängen, Stahltüren, Brandschutzwänden nichts zu Gesicht. Ausser man kennt jemanden, der einem Zutritt verschafft zu den mit Zahlenkombinationen gesicherten Kojen oder Räumen, in denen nicht nur Picassos, Van Goghs, Lamborghinis, Porsches eingestellt sind, sondern auch das Beste aus den Kellern des Château Mouton Rothschild oder Château Petrus. Zwei Millionen Flaschen Wein sollen es sein. Die Kunden, die hier Güter horten, sind reiche Sammler, Galerien, Auktionshäuser. Sie lagern Gemälde, Antiquitäten, Kunstgegenstände, Münzen, Briefmarken, Besteck, Schmuck, Wein, Oldtimer in einer Art begehbarem Tresor alias «Fort Knox» – oft jahrzehntelang. Genf ist nicht nur hier, sondern weltweit eines der bedeutendsten Lager. Und es ist randvoll. Doch nicht nur hiesige Lager platzen aus allen Nähten, auch jenes in Singapur, das erst 2010 eröffnet wurde. Den Aufschwung der Zollfreilager kann Dietrich von Frank, Leiter internationale Kunstversicherung von Nationale Suisse, erklären. In erster Linie sei die Finanzkrise dafür verantwortlich. Die Nachfrage nach sicherer Lagerung sei explodiert. «Es herrscht fast eine Art Vorkriegsmentalität. Aus Angst vor Inflation, Rezession, Gewalt, finanzieller Repression wollen reiche Leute ihre Wertgegenstände an einen sicheren Ort bringen. Zollfreilager sind dafür am besten geeignet», sagt von Frank. Insbesondere seien die Güter dem Zugriff des eigenen Staates entzogen.  

Klumpenrisiko für Versicherer 

Experten beobachten beispielsweise eine Zunahme von wertvollen Transporten aus Griechenland in Richtung Schweizer Zollfreilager. Offiziell bestätigen will das zwar niemand, doch neu ist das Phänomen in der Geschichte nicht: Als Fidel Castro die Macht in Kuba übernahm, brachten reiche Kubaner ihre Schätze in Zollfreilagern in Miami in Sicherheit. Wieso aber ist Genf derart wichtig geworden? Von Frank: «Die Schweiz galt immer schon als Ort des sicheren Aufbewahrens. Gleichzeitig hielt man steuerliche Diskretion hoch.» Genf ist auch ein Magnet, weil die Stadt ein bedeutendes Auktionszentrum für Kunst, Juwelen, Uhren, Wein ist. Will man einen Schatz aus dem Zollfreilager loswerden, gehen in der Calvin-Stadt Deals in Rekordzeit über die Bühne. Mittlerweile aber hat Singapur den Genfern den Rang abgelaufen. Die Reichen leben zunehmend in Asien und wollen ihre Schätze in der Nähe haben. Das Zollfreilager in Singapur ist an Perfektion kaum zu überbieten. Die Zollfreilager sind nicht nur randvoll, die Wertkonzentration in ihnen hat überproportional zugenommen. Angeheizt wird diese Akkumulation von den Preisen für Kunst, die in die Höhe geschossen sind. Laut gesicherten Quellen ist allein am Standort Genf ein dreistelliger Milliardenbetrag eingebunkert. Andreas Matti, Chef Sektion Zollverfahren bei der Oberzolldirektion, bestätigt, dass die Wertkonzentration in den Lagern enorm zugenommen hat: «Mitverantwortlich ist die Finanz- und Währungskrise.» Keine Freude an dieser Wertsteigerung haben die Versicherer: Zollfreilager wie das von Genf sind für die Branche zum Klumpenrisiko geworden. Nationale Suisse versichert Werte nur noch bis zu einem gewissen Plafond. Wo dieser liegt, wird nicht kommuniziert. Von Frank lehnt täglich Anfragen ab. Sein Kollege von der Allianz Suisse, Oliver Class, bestätigt: «Es gibt Kunstwerte in den Zollfreilagern, die nicht mehr versicherbar sind.» Die Lager sind zwar gegen Feuer, Wasser, Diebstahl gesichert, doch Katastrophen wie ein Flugzeug, das in das Lager donnert, wären verheerend. Weil Kunst traditionell eine der besten Methoden ist, um Geld zu waschen – Gemälde lassen sich ohne Rahmen rollen und leicht transportieren –, sind die Begriffe Zollfreilager und Schwarzgeld seit je ineinander verzahnt. Man versuche sich so gut als möglich über den Hintergrund der Besitzer der Sachwerte zu informieren, sagen die Versicherungsspezialisten. «Bei allem professionellen Bemühen gibt es jedoch keine vollständige Sicherheit», sagt von Frank. Auch mit Fälschungen oder gestohlenen Wertsachen ist man immer wieder konfrontiert. Das Genfer Zollfreilager war in den letzten Jahren mehrmals Opfer von illegalem Kunsthandel. In den 90er Jahren wurden 3000 archäologische Schätze aus Italien entdeckt; 2003 Hunderte von archäologischen Funden aus Ägypten. 

Mehr Druck aus dem Ausland? 

Seit 2009 sind die hiesigen Zollfreilager transparenter. «Im Zusammenhang mit dem Kampf gegen die international organisierte Kriminalität müssen die Lagerhalter neu über bestimmte Waren Bestandesaufzeichnungen führen», sagt Matti von der Oberzolldirektion. Diese Inventarisierung muss bei allen «sensiblen Gegenständen» Wert, Besitzer, Ort der Herkunft aufführen. Die Erfahrung zeigt, dass ein grosser Teil der Kunden der Zollfreilager nicht in der Schweiz wohnt. Die Inventarisierungsdaten werden aber nicht an ausländische Behörden geliefert – auch wenn diese gerne im Besitz dieser Daten wären, gelten Schweizer Zollfreilager doch im Ausland als «rechtsfreie Räume». Matti räumt ein, dass Zollfreilager zur Steueroptimierung genutzt werden könnten. Das sei aber legitim, wenn die zollrechtlichen Bestimmungen eingehalten würden. Eine Datenbekanntgabe an ausländische Behörden erfolgt laut Matti nur im Rahmen der Amts- oder Rechtshilfeabkommen. Versicherungsspezialist von Frank rechnet damit, dass der Druck ausländischer Steuerbehörden auf die Zollfreilager steigen wird. «Wenn Staaten ihre Steuereinnahmen steigern müssen, werden sie früher oder später auch Zollfreilager ins Visier nehmen.» Die Zollfreilager hätten eine ähnliche Dimension wie Banktresore oder Konti, sagt sein Kollege Class: «Es wäre absurd, anzunehmen, dass alles Eingelagerte versteuert ist.»

Quelle: http://www.nzz.ch/nzzas/nzz-am-sonntag/
Mit freundlicher Genehmigung der NZZ am Sonntag
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Text
Christoph Cadenbach

Improv Everywhere

FB

Improv Everywhere ist eine Performance-Gruppe, die 2001 in New York City von Charlie Todd gegründet wurde. Nach dem Motto «We Cause Scenes» hat die Gruppe seit 2001 etwa 100 Aktionen, von einstudierten Theaterszenen mit wenigen Schauspielern bis zu Flashmobs mit mehreren hundert Teilnehmern, im öffentlichen Raum durchgeführt. Die Ideen zu den Aktionen stammen von Todd selber oder werden von Mitgliedern auf der Website vorgeschlagen. Dort werden diese auch von der Gruppe dokumentiert.

Best Buy

In der Performance «Best Buy» wurden im April 2003 die Mitglieder dazu aufgefordert, in blauen Poloshirts – und damit fast identisch angezogen wie die «Best Buy»-Angestellten – eine bestimmte «Best Buy»-Filiale in New York zu betreten. Sie sollten nicht so tun, als würden sie arbeiten, jedoch bei Fragen von Kunden freundlich Auskunft geben.

http://improveverywhere.com/2006/04/23/best-buy/

Black Friday Dollar Store

In einer Performance am «Black Friday» im November 2012 kampierten 100 Menschen vor einem «99 cent store» bevor dieser geöffnet wurde. Dadurch sah es so aus, als hätten die Menschen die ganze Nacht vor dem Store verbracht. Als der Laden dann öffnete, stürmten die Teilnehmer rein und kauften in panikartigen Käufen die Waren für 99 Cent. Zusätzlich dazu war eine Schauspielerin vor Ort, die als NBC-Reporterin auftrat und von dem Geschehen berichtete. 

http://improveverywhere.com/2012/11/26/black-friday-dollar-store/
Ein Artikel im Spiegel zu «Improv Everywhere» 
http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/new-yorker-strassen-comedy-hosen-runter-passanten-munter-a-536511.html
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Text
Jordan Mejias, FAZ

Bild
Scott Rudd

«Everything clean – nothing guaranteed!»

Die amerikanische Performance-Künstlerin Martha Rosler hat im MoMA einen Flohmarkt aufgebaut. Unter dem Titel «Meta-Monumental Garage Sale» verkauft sie Alltagsgegenstände und versucht mit den Museumsbesuchern ins Gespräch zu kommen. Es bleibt allerdings fraglich, ob die Besucher diese Aktion als kritische Hinterfragung des Kunstmarkts und nicht eher als Erweiterung des Museumsshops betrachten.

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Schnäppchen sind hier nicht zu haben. Unter ein und demselben Dach mit Picassos, Cézannes und Pollocks muss ein dezent abgeschabter Rucksack an Wert und offenbar auch Geldwert gewinnen: Aber im Gegensatz zu den Gemälden wird er tatsächlich zum Kauf angeboten. Wie viel also? Jeder Preis, den ich zu hören und sehen bekomme, ich war gewarnt, sei ein Verhandlungspreis. Aber auch wer Feilschen als Sport betriebe, hätte sich wohl nur widerwillig in einen Handel um einen ausgedienten Leinenrucksack eingelassen, dessen Verhandlungsbasis bei sechzehn Dollar lag. 

New York ist ein teures Pflaster, wie allbekannt, und wenn das Museum of Modern Art mit Zahlen ins Gespräch kommt, dann sind es in der Regel Millionen. Es sei denn, der Besucher begnügt sich im Gift- Shop mit einem schwarzen oder roten Kaffeebecher, der samt MoMA-Logo für zwölf Dollar verkauft wird. Ich aber stehe jetzt nicht im Gift-Shop, sondern im Atrium des hohen Hauses, wo auch überm marktplatzähnlichen Treiben sonst die unverkäufliche Kunst schwebt. Derentwegen bin ich allerdings nicht gekommen. Ich will auf dem Flohmarkt fündig werden, in den sich das Atrium verwandelt hat. Shopping im MoMA, mal anders, mal umgeben von leicht modrig duftendem Krimskrams, den auch kein Museum zu adeln vermag.

Bis zu einem Mercedes-Kombi, Baujahr 1981, leider ohne Motor und trotzdem mit einer Preisvorstellung von 4000 Dollar versehen, reicht die Angebotspalette, die im Übrigen mit dem Standardsortiment der originalamerikanischen Übung namens garage sale aufwartet. Will heissen, dass nichts fehlt zwischen Bettvorlegern, Unterhosen, fleckigen Krawatten, zersessenen Sofas, ausrangierten Keyboards, antiken Computern, verrosteten Schlittschuhen, Kinderfahrrädern, malerisch zersprungenem Geschirr, klebrigen Bestsellern, batterielosen Weckern und anderen garantiert sensationellen Dachboden- oder Kellerfunden.

Solche Privatflohmärkte, die zumal an sonnigen Wochenenden in den Einfahrten von Einfamilienhäusern sprießen, gehören zum ländlichen und vorstädtischen Amerika wie patriotisch beflaggte Veranden. Ein gigantischer Sternenbanner segnet nun auch das MoMA-Konsumevent, dem die Künstlerin Martha Rosler den pompösen Titel  «Meta-Monumental Garage Sale» verliehen hat.

Ach so, eine Performance! Nein, ist es eben nicht, soll es wenigstens nicht ausschliesslich sein. Es wird völlig ungeniert gekauft und verkauft, gefeilscht und geschachert. Rosler hat das seit 1973 schon rund um die Welt ausprobiert, aber den Museumsgipfel des MoMA durfte sie erst jetzt erklimmen. Neuerdings passt sie halt wunderbar ins Programm eines Museums, das wie viele andere Mitspieler auf der globalen Bühne damit beschäftigt ist, vertraute Rollen über Bord zu werfen. Auktionshäuser versuchen sich als Galerien, Galerien fordern Museen mit museumswürdigen Ausstellungen heraus, Museen drängen zum Theater, zum Konzert, zur Performance. So hatte das MoMA sein Atrium den Elektronikpionieren von Kraftwerk und zuvor wochenlang Marina Abramovic, der Mutter der Performance, für eine öffentliche Séance überlassen.

Martha Rosler, Konzeptpionierin auch sie, mag einst den New Yorker Kunsttempel als «Kreml des Modernismus» verspottet haben, soll ihn nun aber einmal mehr aus der traditionellen Reserve locken. Mit einer Performance. Wer’s immer noch nicht glaubt, kann’s auf der Schiefertafel lesen, die mitten auf dem Flohmarkt steht und zu bedenken gibt: «Vielleicht ist der garage sale eine Metapher für den Geist.» Spätestens da hat der Flohmarktbesucher keine andere Wahl, als die fleckige Krawatte, die er in der Hand hält, im Kontext mit Pollocks Tröpfelkunst wahrzunehmen.

Was lassen sich hier, im Unterschied zum Urschauplatz in Suburbia, nicht auch kunst- und kulturtheoretisch die herrlichsten Pirouetten drehen. In konzeptuellen Schwung versetzt, wirft der umfunktionierte Museumsraum ein Schlaglicht nach dem andern aufs Geschäft mit der Kunst, auf ihren Warencharakter, ihre Konsumierbarkeit, die Stadien ihrer kommerziellen Auswüchse und Verirrungen. Alles aber ein bisschen gar zu offensichtlich? Nicht für die Zeitung zum Event, den «Garage Sale Standard», der sich erkühnt, die imposantesten Querverbindung zu ziehen, Kafka und Edith Wharton ins Spiel ums Horten und Verscherbeln zu bringen, utopistische Züge und marxistische Fetischelemente aufzudecken und auch eine feministische Note aufklingen zu lassen.

Dabei hat Rosler ja recht, wenn sie dem Museum vorwirft, den Wert der Kunst und ihre Verwendung auch in Geld zu messen, das aber nie offen einzugestehen. Wie der Zufall es will, zeigt das MoMA gerade ein paar Rolltreppen höher die Version von Munchs «Schrei», die im Mai mit fast hundertzwanzig Millionen Dollar einen neuen Auktionsrekord aufstellte. Ob von Roslers Museumskritik im Verkaufsgewusel viel übrig bleibt, ist eine andere Frage. Ein Publikum, das sich auch unterhaltungstechnisch an den interaktiven Umgang gewöhnt hat, steht jedenfalls Schlange, um hineinzukommen. Der Museumsflohmarkt floriert. Als kulturkritische Gaudi verbrämt, scheint Shopping noch mehr Spass zu machen.

Vom Warenangebot zurück auf den Verkäufer zu schliessen, wie das beim echten Garagenverkauf durchaus möglich wäre und immer Teil und Reiz der Transaktion ist, will im MoMA jedoch nicht so recht klappen. Zusammengetragen wurde der Plunder nämlich nicht allein von der Künstlerin, sondern auch von Künstlerkollegen, Mitarbeitern des Museums und allerhand Freunden und Bekannten, die etwas loszuwerden hatten.

Das verwässert schon ein wenig den Performancecocktail. Egal, sein Ertrag soll wohltätigen Zwecken zugutekommen. Und dagegen ist überhaupt kein kritisches Kraut gewachsen. Darum: If you can’t beat them, join them. Noch so eine amerikanische Weisheit, die auch im Museum ganz pragmatisch weiterhilft. Das  «Sinatra Christmas Album», eine CD in verkratzter Plastikhülle, lockt mit einem gelben Fünf-Dollar-Aufkleber. Ich biete der netten Flohmarktangestellten im roten Überzieher drei. Für vier werden wir handelseinig.

Quelle: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kunst/meta-monumental-garage-sale-auf-dem-flohmarkt-im-moma-11969637.html

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Recherche
Hin Van Tran

Secondary Market

Diskretion ist das wichtigste Gebot im globalen Kunstmarkt.

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Diskretion ist das wichtigste Gebot im globalen Kunstmarkt. Der Prozess gegen Larry Gagosian gibt Einblicke in die Mechanismen des milliardenschweren Kunsthandels sowie die zweifelhaften Geschäftspraktiken des mächtigsten Galeristen der Welt. Gagosian hat sich auf den sogenannten secondary market spezialisiert, bei dem der Galerist als Käufer und Verkäufer von etablierter Kunst auftritt. Er hat den Ruf, dass er jedes Bild besorgen könne. Dabei kommt es schon mal vor, dass er eine 100-prozentige Vermittlungsgebühr einkassiert und Kommissionsgeschäfte tätigt, bei denen er beide Parteien gleichzeitig vertritt.

http://www.zeit.de/2012/47/Kunstmarkt-Galerist-Larry-Gagosian
http://de.blouinartinfo.com/news/story/839665/larry-gagosian-verteidigt-seine-geschaftspraxis-und-was-lernen
http://de.blouinartinfo.com/news/story/857577/gagosian-verliert-zweiten-prozess-um-unrechtmassig-verkauften
http://www.welt.de/kultur/kunst-und-architektur/article113386596/Galeristen-Koenig-verhaelt-sich-wie-Schulhof-Rowdy.html
http://www.art-magazin.de/div/heftarchiv/2003/5/EGOWTEGWPPEPSPOGWTRWOPSA/Dubiose-Scheingesch%E4fte
In der Monopol-Ausgabe Februar 2013 gibt es ebenfalls einen längeren Artikel zu Fall Larry Gagosian.
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Text
Ivan Weiss

M-Buget: Billig muss nicht hässlich sein

Über die Verpackungen von M-Budget-Produkten wird in Zeitungen immer wieder geschrieben – meist entstehen dabei zweifelhafte Urteile.

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Website von «Netto Marken-Discount»
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