Editorial Barbara Mauck
Was also ist der Superlativ von Dummheit
Editorial Barbara Mauck
Was also ist der Superlativ von Dummheit
Kinder machen Dummheiten. Später, in der Jugend, werden Sünden begangen. Massenweise. Das zeigt allein das vor zwei Jahren im Spiegel herausgegebene Lexikon der Jugendsünden, das sich als geschmäcklerisch-zeitgeisternde Mischung einstiger Jugendsorgen liest: Alf, Haarbänder, Joystick, Vanilla Ice-Spray, Zahnspangen und Zeltpullover.(1) Soweit so gut. Jede/r erinnere sich im Stillen mit wohligem Schaudern.
Aber was, fragt man sich jenseits der 35 und somit am Zenith gesellschaftlicher Rechtschaffenheit angekommen, wäre die Steigerung von Sünde? Was kommt in dem Moment, wenn man es besser, nein, nun endlich am besten wissen müsste? Dann, wenn mündig, volljustiziabel und voll zurechnungsfähig? Zero Tolerance. Es muss fürchterlich sein. Warum sonst würde man auch noch mit 45 das Alter in Lenzen berechnen? Oder spätestens ab 47 von einem zweiten Frühling und dem damit verbundenen Recht auf Menschsein, anders: auf Sünde, träumen?
Kurz: Was also ist der Superlativ von Dummheit, wenn der Komparativ Sünde lautet?
Skandal! In all seinen Skalierungen. Denn das skandalon, wortwörtlich: Fallstrick zur Empörung, ist das Martinshorn sozialer Normkontrolle. Immer dann im Einsatz, wenn Gruppierungen der Aktualisierung ihrer Macht- und Statusverhältnissen bedürfen. Immer dort, wo den vom rechten Pfad Abgekommenen der Weg zurückgewiesen werden soll in die gesellschaftliche Norm.(2) Sei das bei Liebesaffären, öffentlichem Rauchen, Schnellfahren und anderer Promille, sei das bei modischen, aber auch verbalen Entgleisungen aller Couleurs… alles in allem der menschliche Normalfall also. Wenn aber unter die Lupe des Boulevards gerückt: Skandal, Skandal, Skandal.
Zurück, fragt man sich, aber wohin? Dereinst im Alten Testament zu Gott. Sein Regelwerk: zehn überschaubare Gebote. Du sollst nicht dies, Du sollst nicht das… Neid, fremde Götter, Ehebruch, Eltern oder Nachbarn ärgern, Diebstahl, Mord, Verleumdung, Falschaussage und sonntags arbeiten. Dazwischen ist einiges an Sünden möglich, zumal (die 34 Lenze Christi mal abgezogen) seit 1980 Jahren mit Garantie auf Vergebung belegt. Der Weg dorthin ist durchaus formelhaft: Zahle Ablass, sage drei Vater-Unser, drei Rosenkränze, ein Ave Maria. Möglich ist auch das berühmte Eingangsbekenntnis der Anonymen XYZ: mein Name ist Peter oder Veronika, ich bin sex-, alkohol-, spiel-, ess- und/oder drogensüchtig. Sorry! Und weiter geht’s.
Es ist viel über die Kraft öffentlicher Medienbeichten gesagt und geschrieben worden und auch darüber, dass das nicht nur Promis können dürfen. Die daher seit den 80ern in basisdemokratischer Vergebungsmission reisenden Kreuzritter trugen tugendreiche Namen: Bärbel die Gute, Vera die Tatkräftige, Ilona die Moderate, Richter Holt der Harte oder Frau Kallwas die Beharrliche. Sie waren oder sind täglich aktiv, am liebsten um 14 Uhr. Seit vierzehn Jahren aber geht der Trend in der Tugendwacht verstärkt zur Gruppentherapie. Nicht Vergebung, sondern Mitleid, Gruppenkonsens, ist gefragt.(3) Ob einst Big Brother oder heute Dschungel-Camp und Promi Shopping Queen: sie alle sichern einer zunehmend alternden Gesellschaft ihr Recht auf lebenslanges Lernen, auf mediale Dauerpubertät.
Man kann Harald Martenstein also getrost beruhigen: die Jugendsünde ist nicht vom Aussterben bedroht, nein, in einer politisch korrekt zensierten, zugleich aber wertinstabilen Welt kungelnder Multi-Kultis erfährt sie ihre Konjunktur.(4) Das Whatever mit gelebter Sonderfall-Rhethorik hat Tradition – zu Shakespeares Zeiten war es in den zwei Körpern des Königs bekannt. Der eine hurt, der andere herrscht. Daran haben auch Robbespierre und Danton und ihr jakobinischer Entwurf der modernen Gesellschaft nichts geändert. Der eine tugendsam, der andere korrupt. Willkommen bei den Mad Men! Da hat Martenstein wohl recht: Hier haben Abwarte und Nachbarn, die ihren Wohnblocks auf die Finger schauen, Nostalgiewert und moralintuschelnde Bürokollegen auf den Fluren – Vintagecharme. Man tut dieses nicht und jenes? Macht ja nichts. Passt schon. Whatever. Es geht um Nichts! Hauptsache: es darf irgendwo in den Abseiten geraucht und getrunken werden und Frauen, die sich auch heute noch der Heilwirkung wohltemperierter Ohrfeigen verschliessen, gelten den anderen als unfrei und blockiert.(5)
Sicherlich. Die Welt von heute ist weiter gefasst. Soziale Netzwerke, Youtube, Twitter, WikiLeaks und Blitzlichtgewitter legen die hiding places von heute im Mainstreaming des Kleingeistigen frei. Zeiten des Aufruhrs? Überall. Jugendsünden? Für alle, immer, keine Frage. Auf dass sich keiner empöre und erhebe über den anderen: Zeigt Euch! Vermehret Euch! Werdet die Norm!
1 http://www.spiegel.de/thema/lexikon_der_jugendsuenden – Herausgegeben als Buch unter: Lisa Selig, Elena Senft, Wir waren jung und brauchten das Gel. Das Lexikon der Jugendsünden. FfM: Fischer Verlag, 2012. 2 Jens Bergmann, Bernhard Pörksen (Hrsg.): Skandal! – Die Macht öffentlicher Empörung. Edition Medienpraxis, Bd. 6. Köln 2009.3 Vgl. hier die jüngste Debatte um Thilo Sarrazins Buch «Der neue Tugendterror. Über die Grenzen der Meinungsfreiheit». Erschienen im Februar 2014 bei DVA, München: http://www.zeit.de/gesellschaft/2014-03/sarrazin-tugendterror-greiner-fuenf-vor-acht4 http://www.zeit.de/2012/24/DOS-Tugend/seite-45 http://www.weltwoche.ch/weiche/hinweisgesperrt.html?hidID=550789 siehe auch http://blog.tagesanzeiger.ch/blogmag/index.php/34997/soll-man-frauen-ohrfeigen-duerfen/
Interview Aram Lintzel, NZZ
Tipp Ivan Weiss
Die Erfindung der Jugend
Interview Aram Lintzel, NZZ
Tipp Ivan Weiss
Die Erfindung der Jugend
Aram Lintzel: Jon Savage, warum eigentlich war gerade die Phase zwischen 1875 und 1945 so entscheidend für die historische Genese des Teenagers?
Jon Savage: Ich habe mich durch verschiedenste literarische und wissenschaftliche Texte gelesen und festgestellt, dass im späten 19. Jahrhundert einige massgebliche Werke entstanden sind, in denen das durch die Jugend dominierte kommende Jahrhundert vorgezeichnet wurde. Neben L. Frank Baums «The Wizard of Oz» und James Matthew Barries «Peter Pan», in denen ein spezifisch jugendliches Empfinden dargestellt wird, war das 1898 erschienene Buch «Adolescence» des Psychologen G. Stanley Hall sehr einflussreich, da es eine neue Wahrnehmung der Jugend forcierte. Hall trug nicht nur alle existierenden Daten zusammen, er erkannte auch erstmals die prekäre Grauzone zwischen Kindheit und Erwachsenenalter und gab ihr einen Namen – eben «Adoleszenz». Mit dieser umfangreichen Arbeit wurde eine Entwicklung eingeläutet, die 1945 zu einem Abschluss kommen sollte. Der Teenager kann dann als neue Figur mit eigenen Bedürfnissen die Weltbühne betreten und zum internationalen Träger und Vertreter des «American way of life» werden.
Aram Lintzel: Der Teenager wurde also sozusagen erfunden – von Schriftstellern und Psychologen?
Jon Savage: Natürlich gab es daneben gesellschaftliche Entwicklungen, die das Thema Jugend in die öffentliche Aufmerksamkeit rückten. Die gesellschaftlichen Umwälzungen im Westen – Industrialisierung, Massenproduktion, Urbanisierung, Übergang zur Demokratie – lösten bei vielen Menschen Befürchtungen aus. Erwachsene projizierten ihre Ängste auf die Jugend, was heute ja auch oft genug geschieht.
Aram Lintzel: Die Jugend war eine Bedrohung, gleichzeitig doch aber auch ein Versprechen für die Zukunft. Die USA definierten sich selbst als junge und jugendliche Nation . . .
Jon Savage: Ja, die Jugend war für die Erwachsenen immer eine zweischneidige Angelegenheit: Bedrohung und Versprechen, Himmel und Hölle zugleich. Bis heute kann man diese Ambivalenz erkennen. Das hat aber nicht nur mit Sex, Drogen und Gewalt zu tun. Die Ängste der Erwachsenen kommen auch daher, dass die Jungen sie unvermeidlich überleben werden. Im Generationenkonflikt haben sie sozusagen die Zeit auf ihrer Seite.
Aram Lintzel: In Ihrem Buch beschreiben Sie, wie bestimmte Jugendgruppen – in Deutschland etwa die Wandervögel und die Hamburger Swing-Jugend – ein unabhängiges «jugendliches Bewusstsein» zu entwickeln versuchten. Gleichzeitig haben staatliche und nichtstaatliche Organisationen – Sportverbände, das Militär, später kapitalistische Unternehmen – immer wieder versucht, solche Emanzipationsversuche zu kanalisieren und zu kontrollieren. Hat es einen unmittelbaren, authentischen Ausdruck der jugendlichen «explosiven Bedürfnisse», wie Sie es nennen, somit niemals gegeben?
Jon Savage: Die entstehende Teenager-Kultur war ein fein ausbalancierter Mix aus Ausbeutung und Autonomie, Kontrolle und Unabhängigkeit. Die aufregendsten Momente sind aber jene, in denen die adoleszente Erfahrung alle Kontrollversuche durchbricht und reale lebensweltliche Veränderungen bewirkt. Die amerikanischen Flappers der zwanziger Jahre – die sogenannten «Backfische» – wagten zum Beispiel eine neue, kühne Form von Weiblichkeit. Natürlich gibt es so etwas nicht oft. Aber wenn es passiert, kann das für die Beteiligten ein euphorischer Augenblick sein, in dem sich das Gefühl einer «grenzenlosen Gegenwart» einstellt.
Aram Lintzel: Ihr Buch beginnt mit jugendlichen Erlebniswelten wie den Decadents, in denen Pop-Musik noch nicht im Zentrum stand. Im Laufe der Geschichte wurden Musikstile wie Jazz, Ragtime oder Swing dann immer wichtiger für die Identitätsbildung von adoleszenten Jugendlichen.
Jon Savage: Mit dem aussergewöhnlichen Erfolg von Swing wird die populäre Musik in den späten dreissiger Jahren zum zentralen Scharnier, an dem Lifestyle und Kommerz zusammenkommen. Ragtime, die sogenannten «Tiertänze», Jazz und Charleston hatten diese elementare Rolle von Musik seit dem späten 19. Jahrhundert vorbereitet. Aber es war der Swing, der die volle Bestimmung des Adoleszenten als Konsumenten – des modernen Teenagers im eigentlichen Sinne – heraufbeschwor.
Aram Lintzel: Wie sehen Sie vor diesem historischen Hintergrund die Rolle, die Pop-Musik heutzutage für Jugendkulturen spielt?
Jon Savage: Ich glaube, Pop-Musik ist zum Opfer ihres eigenen Erfolgs geworden. Sie ist allgegenwärtig in Filmen, Werbung, Magazinen und Handys und längst keine privilegierte Ausdrucksform der Jugend mehr. Das alles hat zu einem Verlust an Fokus und Konzentration geführt, die irrige Vorstellung, dass Musik umsonst sein sollte, ist Symptom einer allgemeinen Entwertung von Musik. Ob Pop eines Tages seine frühere Macht zurückerlangen wird, vermag ich nicht zu sagen.
Aram Lintzel: Ein zeittypisches Phänomen scheint zu sein, dass Jugendlichkeit nicht mehr unbedingt vom Alter abhängt. Wenn die Codes von Jugend allen und jedem zur Verfügung stehen, verliert dann Jugendkultur ihre aufbegehrende Energie und wird beliebig?
Jon Savage: Es stimmt, in den achtziger Jahren wurde das «Teenage-Marketing», das vorher auf die 15- bis 24-Jährigen beschränkt war, sowohl auf die 30- bis 40-Jährigen als auch auf Kinder ausgedehnt. Dies war Teil einer grossangelegten Expansion der Medien- und Unterhaltungsindustrie. Aber die besondere emotionale, psychologische und physiologische Verfasstheit des Adoleszenten bleibt altersabhängig und kann auch von expansivem Jugend-Marketing und von Rock-Opas nicht weggeleugnet werden. Deswegen werden wir auch weiterhin Konflikte zwischen den Generationen erleben.
Aram Lintzel: In der Einleitung zu «Teenage» schreiben Sie, dass Sie sich dem Thema romantisch nähern wollten. Stellte sich während des Schreibens auch ein melancholisches Gefühl ein? Hatten Sie den Eindruck, dass im Laufe der Geschichte bestimmte subversive und rebellische Aspekte von Jugend- und Pop-Kultur für immer verloren gingen?
Jon Savage: Man darf nicht in diese typische Falle laufen – nach dem Motto: Weil meine Jugend vorbei ist, ist auch die Jugendkultur vorbei. Dem ist ganz offensichtlich nicht so. Was sich verändert hat, ist der Grad, in dem Jugend Warenform angenommen hat. Das ist tatsächlich eine strukturelle Verschiebung, die sich mit der vollständigen Inkorporierung der Musikindustrie in andere Medien- und Unterhaltungsindustrien vollzogen hat. Die heutige Selbstwahrnehmung von Teenagern ist deshalb natürlich eine völlig andere als die meinige in den sechziger Jahren. Aber als Romantiker glaube ich, dass man niemals «nie wieder» sagen sollte.
Jon Savage und die Teenager
Anfang 1945 erschien im «New York Times Magazine» eine «Teen-Age Bill of Rights». Der Teenager war damit endgültig in der neuen Massengesellschaft angekommen. Bis sich die Vorstellung einer eigenständigen Phase zwischen Kindheit und Erwachsenenalter durchsetzen konnte, musste der «Teenager» aber erst in einem längeren historischen Prozess erschaffen werden. Jon Savage, Jahrgang 1953, renommierter englischer Musikjournalist, ein Ex-Punk und Autor der vielgelobten Punk-Geschichte «England’s Dreaming», geht in seinem 500 Seiten starken Buch der Entstehungsgeschichte des modernen Teenagers in den Jahren von 1875 bis 1945 nach. Anhand von Tagebüchern, Kleidungsstilen, politischen Debatten, Jugendbewegungen, Medienereignissen und anhand von Pop-Musik erzählt Savage materialreich und spannend von der Erfindung einer Figur, die im 20. Jahrhundert zum Protagonisten der Pop-Kultur werden sollte. Das Buch behandelt die Entstehung eines adoleszenten Selbstbewusstseins ebenso wie die diversen Versuche des Staates, dieses unter Kontrolle zu bringen.
Artikel erschienen unter www.nzz.ch/aktuell/feuilleton/uebersicht/ein-gefuehl-grenzenloser-gegenwart-1.922222
www.campus.de/buecher/wirtschaft-gesellschaft/wissen/teenage-3116.htmlDer Dokumentarfilm von Matt Wolf in Zusammenarbeit mit Jon Savage «Teenage: The Creation of Youth Culture» erschien 2013 und lief bisher auf verschiedenen Festivals.
Das Buch von Jon Savage «Teenage – Die Erfindung der Jugend (1875–1945)» ist in Deutsch bei Campus erschienen.
www.teenagefilm.com
Text Stefan Sulzer
Thank God
Text Stefan Sulzer
Thank God
Das Stück, welches von der Geschichte des Glaubens handelt, bestückt mit seinem klar erkennbaren Regisseur, seinen Beleuchtern, Souffleusen und Garderobieren, den technischen Helfern, den Schauspielerinnen und Statisten – das Stück, welches über Jahrtausende hinweg aufgeführt wurde, hat nicht nur sämtliche Adaptionen über sich ergehen lassen müssen, in vielen Teilen der heutigen Gesellschaft wurde es gar abgeschafft. Die religiösen Theaterhäuser schliessen wegen Mangels an Interesse und Relevanz, die Türen bleiben zu, an ihnen hängend ein Schild mit der Aufschrift: Wegen Todes geschlossen. Wenn sich die grossen Erzählungen der Moderne, wie Lyotard die nach Allgemeingültigkeit strebenden Welterklärungsmodelle nennt, auch in einer Vielfalt an Diskursen zersetzt haben, ganz ohne theoretische oder ideologische Krücke gehen die wenigsten Menschen durchs Leben. Dabei veränderte sich die Bedeutung der Sünde nicht lediglich seit den Zeiten der Aufklärung. Selbst während der letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts erfuhr sie eine Wandlung von der die fromme Gesellschaft straff strukturierenden Instanz, zu einer in der Bedeutungslosigkeit versinkenden Nebensächlichkeit, welcher der ranzige Ruch des Biederen und Prüden anhaftete. Zu sündigen ist längst keine Sünde mehr.
Wurde die Beichte derselben vom Philosophen Agamben noch als wirksame Methode der Subjektivierung beschrieben, so hat sie ihre Funktion, der breiten Masse als potentes Korrektiv zu dienen, zumindest bei uns grösstenteils verloren. Früher kam, korsettiert durch parochiale Regeln und Glaubenssätze, noch die Pein hinzu, sich konstant seiner Verfehlungen bewusst zu werden und sich dadurch selbst «mit Schmerzen zu durchbohren» (1.Timotheus 6:10). Füllen noch 613 Vorschriften die Tora (248 Gebote, 365 Verbote), so verkürzte Jesus das ganze Konvolut an Regeln auf zwei alles umfassende Grundgesetze: Erstens Gott, zweitens seinen Nächsten zu lieben (Markus 12:28-31). Was unverändert bleibt ist das konstante erinnert werden an die eigene Fehlbarkeit, an die Notwendigkeit, sich anhand gewagter Metaphern freizukaufen. Von der Selbstkasteiung über die Enthaltsamkeit bis zur Opferung von Tier oder Mensch, die Methoden, sich unter widrigen Umständen von der Sünde zu reinigen, scheinen heute so aus der Zeit gefallen, dass es uns schwer fallen mag, uns ihrer konstitutionellen Macht überhaupt zu entsinnen.Dementsprechend fehlen heute nicht nur die altbekannten Verfahren Busse zu tun (wer beichtet heute noch?), aus strafrechtlicher Sicht sah sich der Gesetzgeber gezwungen, sich der veränderten gesellschaftlichen Wirklichkeit anzupassen, indem er beispielsweise das Konkubinatsverbot aufhob. So geschehen im Kanton Zürich im Jahr 1972, zwanzig Jahre später im Wallis. Die kollektive Apostasie scheint trotz kurzzeitigem Aufblitzen von neo-hippiesken oder kabbalaähnlichen Lifestyle-Religionen voranzuschreiten.
Zizek sieht in der christlichen Lehre des Freikaufs von Sünde durch Jesus‘ Opfertot ein weiteres Problem. Nämlich die Unmöglichkeit, einem solchen Opfer überhaupt gerecht zu werden. In Die gnadenlose Liebe schreibt er: «Gott hat seinen Sohn geopfert, um uns durch die Liebe an ihn zu binden. Es geht also nicht nur um Gottes Liebe zu uns, sondern auch um sein (narzisstisches) Begehren, von uns Menschen geliebt zu werden.» Gott ermöglicht durch die Installation des Baumes der Erkenntnis von Gut und Böse erst die Versuchung, welche von ebendiesem ausgeht, «er befreit uns vom Chaos das Er selbst angerichtet hat». (Zizek)Die Adoleszenz mit dem Begriff der Sünde zu verknüpfen, deutet einen Übergang zum Erwachsenensein und die Reflexionsfähigkeit, das eigene Handeln betreffend, an. Kinder, mutmasslich frei von Sünde, erhalten im Entwicklungsschritt des Teenagertums die Möglichkeit und Chance, sich zu versündigen und somit gegen externe, durch wen oder was auch immer sanktionierte Normen zu verstossen. Über die Unbedarftheit des Kinderdaseins legt sich ein Schatten der Schuld, des Falschmachens, der Täterschaft. Allerdings wird diese Schuld durch eine mit dem Vergehen einhergehende Geringfügigkeit verbunden. Der Mord an James Bulger durch zwei Zehnjährige war keine Jugendsünde. Der Begriff der Jugendsünde bezieht sich also nicht nur auf die Phase, während der die Übertretungen geschehen, sondern vielmehr auch auf die Schwere des Verbrechens. Das Stehlen unterhalb eines Bankraubes, das Ausprobieren bewusstseinserweiternder Substanzen diesseits des Junkytums, erste Sexuelle Erfahrungen vor dem Ausleben ungehemmter Promiskuität, dies alles gehört/e irgendwie zu der Phase des Erwachsenwerdens. Genauso wie die Möglichkeit, Dinge auszuprobieren und Situationen auszuloten, für welche es zwar genaue Anweisungen geben mag, deren Anziehungskraft aber einen Erfahrungswert versprechen, der gerade durch die Möglichkeit des Scheitern, Schmerzes oder Verlustes anziehend erscheint. Auch geht es um genuin gemachte Erfahrungen, welche nicht als blosser Beisatz verstanden werden, sondern konstitutiv das Ich formen. Und das nicht immer unter klaren Verhältnissen, bereits bekannten Konsequenzen oder stabilem Boden.Doch egal unter welchen religiösen oder säkularem Glaubensbild wir unser Leben stellen, der Wunsch nach allgemeingültigem, konklusiven Wissen (und entsprechenden Antworten) bleibt unerfüllt. Genau darin sieht Zizek die eigentliche Aporie der menschlichen Existenz: «Der Mensch strebt zwangsläufig einen alles umfassenden Begriff der Wahrheit, eine universelle und notwendige Erkenntnis an, doch zugleich bleibt ihm diese Erkenntnis für immer verwehrt».Die Verfehlung, auch die jugendliche, bleibt uns als mehr oder wenig abstrakter Begriff erhalten. Vielleicht sollte wir uns die Kategorisierung des grossen Helmut Schmidts zu eigen machen: «Ich teile die Menschheit in drei Kategorien: Wir normale Menschen, die irgendwann in ihrer Jugend mal Äpfel geklaut haben, die zweite hat eine kleine kriminelle Ader, und die dritte besteht aus Investmentbankern.» In unsere Zeit übertragen könnte man die Kategorien vielleicht so ordnen: Wir normale Menschen, die irgendwann in unserer Jugend Grand Theft Auto 2 für die PS3 geklaut haben, die zweite mit dem Bedarf eines Sondersettings, und die dritte aus Investmentbankern.Gewisse Dinge ändern sich nie. Thank God!
Weiterführende Lektüre:? Slavoj Zizek, Die gnadenlose Liebe, Suhrkamp 2001
Text Dorothea Schmidt, wissen.de-Redaktion
Tipp Hin Van Tran
Dr. Sommer, Starschnitt und Tokio Hotel – die Zeitschrift BRAVO
Text Dorothea Schmidt, wissen.de-Redaktion
Tipp Hin Van Tran
Dr. Sommer, Starschnitt und Tokio Hotel – die Zeitschrift BRAVO
Wie war es doch prickelnd, wenn man mit Freunden heimlich die Zeitschrift «Bravo» durchblätterte – natürlich immer zuerst die Foto-Love-Story und die Fragen an Dr. Sommer. Wer wissen wollte, welche intimen Fragen sich Altersgenossen stellen, welche Küsse erlaubt sind oder besonders kribbeln, der schaute in die Bravo. Die Zeitschrift Bravo feierte im Jahr 2011 ihr 55-jähriges Bestehen. Wir haben uns die Geschichte vorgeknöpft; die Sache mit dem Index, die Tabus, die Krisen, die grössten Abhängigkeit, das böse Web – und die wenig erotischen Themen wie Waschmaschinen und Lehre.
Der Name «Bravo» war lange Zeit wie ein Omen oder ein Maskottchen: Viele Jahre war die Zeitschrift erfolgreich, bravo eben. Sie startete wie eine aufstrebende Aktie steil bergauf. Und das, obwohl sie noch nicht gleich auf die Themen setzte, die eigentlich immer ziehen: Liebe und Sex. Als die Bravo am 26. August 1956 in Zeiten des Wirtschaftswunders erstmals erschien, sprach sie auch gar nicht primär die Jugend, sondern Erwachsene und Familien an. Und das auch noch mit Fragen, die recht unsexy waren: «Zahlt sich eine Lehre noch aus?» zum Beispiel. Oder es ging um Haushaltsgeräte. Wow! Das klingt heute recht verstaubt, traf damals aber mit den beiden anderen Hauptthemen Film und Fernsehen den Nerv des Publikums. In den 1950er Jahren war Kino unglaublich beliebt, TV-Stars und Sternchen waren willkommen. So lautete denn auch der Titel des Magazins «BRAVO – Zeitschrift für Film und Fernsehen». Auf der ersten Ausgabe lacht Marilyn Monroe vom Titelblatt, daneben steht Westernheld Richard Widmark, der gerade eine Brünette knutschen will. Die Frage zum Foto von Monroe, die damals frisch vermählt war, lautete: «Haben auch Marilyns Kurven geheiratet?» Der Hauch an Sex, Kitsch und Knutsch war also vom ersten Augenblick an da, was sich beim Thema «Film» auch gar nicht vermeiden lässt.Die Stars kamen so gut an, dass der erste Chefredakteur der Bravo, Peter Boenisch, die Film-Infos bald aus dem Blatt warf. Er setzte den Fokus auf die Schauspieler, brachte noch im Erscheinungsjahr mit James Dean als ersten Held die Star-Stories ins Blatt und boxte schon nach einem halben Jahr den neuen Untertitel «Die Zeitschrift mit dem jungen Herzen» durch, später fiel der Untertitel ganz weg. 1959 startete er die Poster-Serie mit Brigitte Bardot in Lebensgröße.Bis in die 1960er Jahre gewann die Bravo mit den Leinwandstars stetig neue Leser hinzu und hielt sich die alten warm. Dann schwenkte das Blatt auf Ikonen aus der Musikszene um. Schreiber und Chef witterten Erfolg, wenn sie dem Beatles-Hype folgen würden. So war es denn auch: Die Auflagenzahlen schossen geradezu in die Höhe. Nachdem sie sich zwei Jahre nach der ersten Ausgabe mit 30.000 Heften ohnehin schon vervierfacht hatte, knackte die Bravo diesmal die Millionengrenze.Und allmählich entdeckte die Bravo ihr Herz für die Jugend und für Themen aus dem weiten Feld Liebe und Beziehungen. In den 1960ern eröffnete Dr. Sommer alias Martin Goldstein seine fiktive Praxis. Mit Gynäkologen, Psychologen, Kinder- und Jugendärzten beantwortete er Briefe von Jugendlichen zu Liebe, Sex und Zärtlichkeit. Ohne Rücksicht auf Verluste. Goldstein war so liberal, dass er das Blatt später als erster und gleich mehrmals auf den Index katapultierte. Er hatte 1972 Texte übers Masturbieren verfasst und veröffentlicht. Damals ein absolutes No Go . Das unfreiwillig komische Statement der Jugendschützer lautete: «Die Geschlechtsreife allein berechtigt noch nicht zur Inbetriebnahme der Geschlechtsorgane.»Der Jugend aber gefiel gerade das. Und den Bravo-Redakteuren ebenso. Die machten genauso weiter, brachten die Foto-Love-Story, Kuss-Kurse oder die Aufklärungsserie der «Knigge für Verliebte» heraus, die 1962 startete. Die Bravo brach nach und nach alle Tabus. Ganz klar, dass sich die Leserschaft allmählich verjüngte. 2011 ist der durchschnittliche Bravo-Leser gerade einmal 13,7 Jahre alt.Übrigens: Nicht die Liebesthemen, sondern Stars waren immer schon die eigentlichen Geldeintreiber der Bravo. Mit ihnen fand das Blatt reißenden Absatz. Um nicht zu sagen: Die Bravo lebte von ihnen und die Stars lebten von der Bravo, eine Art Symbiose mit Tendenz zu größeren Abhängigkeit seitens der Bravo. Beatles, Nena, Abba, Slide, Smokie oder später Kelly Family und Backstreet Boys – das zog. Promis bekamen kostenlose PR. Doch dann ging es schlagartig bergab. Wie eine erfolgreiche Aktie, die urplötzlich auf Talfahrt geht – so erging es der Bravo, ausgelöst durch die Boy Group Take That, die 1996 zerbrach. Da konnten auch Britney Spears, die Backstreet Boys oder Christina Aguilera nicht helfen. Die Auflage brach ein. Seit der Jahrhundertwende hoffe das Blatt mit den richtigen Chefs an der Spitze zurück zum einstigen Erfolg zu finden. Vergeblich.Die Chefredakteure gaben sich jahrelang die Klinke in die Hand. Das Poster von dem «Star» Papst Benedikt im Jahr 2005 wirkte wie ein hilfloser Versuch, nach dem Fall wieder aufzustehen. Er scheiterte kläglich. Dann kam die zündende Idee: Die Bravo holte die Boy Group Tokio Hotel ins Blatt. Skurril, schrill, abgefahren – und ein wahrer Genuss für die jungen Leserinnen. In der Redaktion gingen im Herbst 2005 rund 56.000 Liebesbriefe an die Tokio-Jungs ein.Die Band war für die Bravo wie ein Überlebenstrunk. Allmählich erholte sich die Auflage zwar, der Erfolg von einst blieb aber aus, von einigen Spitzen mit Justin Bieber und Lady Gaga etwa einmal abgesehen. Verkaufte die Bravo 1996 noch etwa 1,4 Millionen Exemplare, waren es Ende 2010 keine 400.000 mehr, auch Dr. Sommer bekam weniger Post. Die Bravo hält sich seitdem über Wasser – irgendwie.An den einstigen Erfolg kann die Bravo dennoch nicht anknüpfen. Es sieht so aus, als habe es eine Bravo vor der Webzeitrechnung gegeben und eine danach. Wie viele Zeitschriften in Internetzeiten ums Überleben ringen und neue Absatzmöglichkeiten suchen, musste sich auch die Bravo neu orientieren. Nur: Sie tut es nicht sonderlich professionell. Als das Blatt die Homepage einmal überarbeitet hatte, war es schon 2010. Das Tal war längst erreicht. Bis heute ist der Traffic auf der Homepage eher bescheiden. Das Alexa Traffic Ranking zeigt die Bravo im August 2011 auf Platz 2.130 in Deutschland. Die Bravo ist ambivalent. Einerseits versucht sie wie zu ihren Anfangszeiten auf der aktuellen Trendwelle zu rudern, also die richtigen Stars an Land zu holen. An anderer Stelle schwimmt sie kraftlos hinterher: Bis heute bietet sie keine Apps, iPhones oder iPads an, wie man es gerade von einer Jugendzeitschrift erwarten würde und wie es ihrer Leserschaft durchaus angemessen wäre.Wo die Bravo wiederum punktet, sind die sozialen Netzwerke. Im August 2011 gefällt 135.781 Lesern die Bravo-Facebook-Seite. Dem Bravo-Twitter-Account folgen genau 24.644 Personen. Verglichen mit anderen Zeitschriften, wie etwa der Gala mit gerade mal 4.436 und der Bunten mit 7.279 Fans, hat die Bravo in den Social Networks also durchaus ein Potenzial entdeckt, um Leser zu binden. Das funktioniert im Printbereich nur punktuell – je nach Star und trotz der breiteren Aufstellung mit«Bravo Girl», einem Spielemagazin, einer Sportausgabe, Starklatsch als sms, Bravo-TV und Bravo-Hits. Dennoch muss man der Bravo eines lassen: Sie ist nicht totzukriegen. In der entscheidenden Zeit hat sie sich einen Namen gemacht. Man kennt die Bravo einfach. Und das war dem Landesmuseum Kärnten Grund genug, dem Kultmagazin zum 55. Geburtstag eine Ausstellung zu widmen. Die Schau zeigt, wie die Bravo damals provozierte, wie sich die Jugend mit der Bravo die Freiheit erlas. Mode, Drogen, Sex, Stars aus fünf Jahrzehnten sollen zum Schwelgen in Erinnerungen animieren. Vielleicht kauft dann einer der älteren oder sogar ersten Leser-Generation dann doch wieder ein Bravo-Magazin und liest sie – natürlich heimlich unter der Bettdecke!
Text und Bildrecherche Patricia Schneider
Auf jeden Fall «fad»!
Während im Englischen fad [fæd] «Fimmel», «Masche», oder kurzlebiger «Modetorheit» bedeutet, steht der deutsche Begriff fad für abgestanden, farblos, langweilig oder geschmacklos. Obwohl die beiden Begriffe weder wortgeschichtlich, noch von der Bedeutung her eine Gemeinsamkeit haben, treffen sie oft zeitversetzt für das gleiche Phänomen zu. Was heute im Bereich der Mode, im Design oder auch im Sprachgebauch als hip gilt, wird morgen schon belächelt. Die Faszination am Neuen und Anderen hält eben nur solange an, bis die Masse den Spleen adaptiert und alle mit dem selben Accessoire oder der selben Frisur herumlaufen. Dann müssen sich die Trendsetter was anderes einfallen lassen, um sich wieder von der Masse abzuheben. Dabei darf auch mal was von gestern aufgewärmt werden. Die Schnäuze sind schon wieder en vogue – wir sind also gespannt, wann die Achselpolster und die blonden Dauerwellen wieder trendy sind.
Text und Bildrecherche Patricia Schneider
Auf jeden Fall «fad»!
Während im Englischen fad [fæd] «Fimmel», «Masche», oder kurzlebiger «Modetorheit» bedeutet, steht der deutsche Begriff fad für abgestanden, farblos, langweilig oder geschmacklos. Obwohl die beiden Begriffe weder wortgeschichtlich, noch von der Bedeutung her eine Gemeinsamkeit haben, treffen sie oft zeitversetzt für das gleiche Phänomen zu. Was heute im Bereich der Mode, im Design oder auch im Sprachgebauch als hip gilt, wird morgen schon belächelt. Die Faszination am Neuen und Anderen hält eben nur solange an, bis die Masse den Spleen adaptiert und alle mit dem selben Accessoire oder der selben Frisur herumlaufen. Dann müssen sich die Trendsetter was anderes einfallen lassen, um sich wieder von der Masse abzuheben. Dabei darf auch mal was von gestern aufgewärmt werden. Die Schnäuze sind schon wieder en vogue – wir sind also gespannt, wann die Achselpolster und die blonden Dauerwellen wieder trendy sind.
Interview Patricia Schneider
Pimp my Painting
Interview Patricia Schneider
Pimp my Painting
Karoline Schreiber und Julia Sheppard
14. Oktober bis 16. November 2013, Perla-Mode und message salon40 Malerinnen und Maler wurden eingeladen, uns ein misslungenes, unfertiges oder anderweitig problematisches Gemälde aus deren Werk zur Verfügung zu stellen, das wir im temporären Atelier im Perla Mode verbessern und/oder vollenden werden.Das Projekt beinhaltet Fragen nach Autorenschaft, Scheitern und Zweifeln, Einmaligkeit versus Veränderbarkeit und Art Appropriation. „Pimp my Painting“ ist ein zutiefst malerisches Projekt, das sowohl Praxis beinhaltet als auch den Diskurs über dieses Medium fördern soll. Wir haben explizit solche Positionen angefragt, deren Arbeit wir schätzen. Das Projekt wird durch ein Programm begleitet. (Eröffnung des Pimpshops, wo die unbearbeiteten Bilder als Ausgangslage des Projekts gezeigt werden, Gastmalen, offenes Atelier in der Mitte des Projekts, Werkgespräch mit Karoline Schreiber, Julia Sheppard, Thomas Müllenbach und Samuel Herzog)
In der Ausstellung wird dem Publikum die Vorher-Situation in Form von kleinen Fotografien der Gemälde gezeigt, die neben den neuen Originalen platziert werden.Mit Werken von Urs Aeschbach, Kevin Aeschbacher, Wamidh Al-Ameri, Gen Atem, Zahra Atifi, Anton Bruhin, Ralph Bürgin, Pascal Danz, Andreas Dobler, Marc Elsener, El Frauenfelder, Marcel Gähler, Monica Germann & Daniel Lorenzi, Philippe Glatz, Clare Goodwin, Patrick Graf, Christian Grogg, Corinne Güdemann, Valentin Hauri, Christoph Hüppi, Andrea Muheim, Thomas Müllenbach, Bettina Mürner, Maria Pomiansky, Albrecht Schnider, Karoline Schreiber, Julia Sheppard, Jeroen Singer, Loredana Sperini, Nora Steiner und Hans Witschi.
Ein Interview von Patricia Schneider mit Karoline Schreiber und Julia Sheppard
PS: Ihr habt mit der Aktion Pimp my Painting Malerinnen und Maler dazu aufgefordert, ihre unvollendeten oder misslungenen Bilder zur Überarbeitung in den Message Salon in Zürich zu bringen. Haben die Kunstschaffenden, die der Einladung gefolgt sind, eher ihre alten Leinwände aus der Studienzeit „entsorgt“ oder waren es aktuelle Arbeiten?
JS: The paintings that were offered up to us for the project were at times obviously rather old and dusty relics from their studios but for the most part the various artists contributed quite recent and typical works from their current production series.
PS: Weisst du warum sich die MalerInnen von ihren Werken getrennt haben, oder hat es zum Setting gehört, dass die problematischen Werke unkommentiert abgegeben wurden?
KS: Durch die Atelierbesuche haben sich natürlich Gespräche ergeben, in denen die Arbeiten nicht umkommentiert bleiben konnten. Je nach Temperament des/der jeweiligen Malers/in wussten wir mehr oder eben weniger. Die Bandbreite reichte von Material-Tests bis hin zu Arbeiten, die ambitioniert begonnen hatten und dann zu einem gewissen Zeitpunkt ins Stocken gerieten und dann zu Ladenhütern und Atelierleichen mutierten. Für viele MalerkollegInnen war es erfrischend, über misslungene oder problematische Arbeiten zu sprechen. Ich glaube aber, dass wir uns dadurch in unserem Lösungsansatz nicht haben beeinflussen lassen. Julia und ich haben die Eingriffe gemeinsam besprochen und dieser Dialog war letztlich entscheidend für unsere weiterführende Arbeit.
PS: Waren die Malereien aus deiner Sicht technisch schlecht gemacht und/oder war vor allem ihr Inhalt problematisch? Habt ihr auch Bilder abgelehnt, die aus eurer Sicht keine Überarbeitung nötig hatten?
JS: From the beginning, the concept challenged the invited painters themselves to decide what they considered a failed, unfinished, or problematic painting. We perhaps had our own opinion of the technical or thematic issues with each work but generally exercised an objective and empathetic diagnosis on each intervention. And yes, there were a couple of pieces we felt needed none or very little „pimping“…sometimes just changing the title was enough! But I admit, that is a huge alteration.
PS: Kannst du uns näheres zu den Bildmotiven sagen, mit denen ihr konfrontiert wurdet? Gibt es bestimmte Themenfelder, die häufiger zum Scheitern führen?
KS: Da kann ich nichts Generelles sagen. Je nach Wunsch des Malenden kommt es wohl zu einem Scheitern, wenn er oder sie Vorstellungen vom Bild hatte und diese Vorstellung nicht in Malerei umgesetzt werden konnte. Es kann sein, dass das für einen Aussenstehenden gar nicht unbedingt nachvollziehbar ist. Ich befürchte, dass Malerei mit figurativem Ansatz anfälliger ist zum offenkundigen Scheitern.
PS: Hatten die Urheber der Gemälde ein Mitspracherecht bei der weiteren Bearbeitung? Wurde ihre Maltechnik übernommen und fiel es dir schwer, dich auf die verschiedenen Themen, Bildsprachen und Malweisen einzulassen?
JS: The artists signed over a „Pimp Contract“ leaving us more or less the freedom to proceed as we pleased with their „babies“, with an unspoken agreement that we would treat them with respect. They left them in our hands without discussion as to what would become of them. A few of the artists did visit us during the very public Pimp-process and voiced their opinions, surprise or apprehension towards the sometimes drastic changes in the paintings but overall, their reactions were rather positive, even inspired.
PS: Den Begriff aufpimpen kennt man hauptsächlich im Zusammenhang mit Fahrzeugen, die wieder flott gemacht werden. War es euer Ziel, die abgegebenen Bilder im Sinne der bestehenden Arbeit zu ergänzen und zu verbessern, oder waren es eher farbige Leinwände, die euch zu einer eignen, unabhängigen Arbeit inspiriert haben?
KS: Es war uns wichtig, auf jede Arbeit ganz individuell einzugehen. Wir wollten nicht, dass unsere typischen Bildsprachen durchgehend erkennbar wären oder die gepimpten Bilder aussähen, als wären sie alle durch den gleichen Waschgang gegangen. So konnte es sein, dass wir ganz in der Bildsprache der entsprechendes Gemäldes geblieben sind und nur ergänzend und kommentierend agiert haben oder wir haben ganz radikale Eingriffe vorgenommen, die das Ursprungsbild nicht haben wieder erkennen lassen, die aber durchaus eine Antwort darauf waren.
PS: Ist eure Aktion demzufolge als eine Serviceleistung an die Künstler zu verstehen, oder stand die Performance und die Diskussion über die Malerei im Vordergrund?
JS: Definitively the latter! The project was conceived as: An experiment in consensual art appropriation. A way in which to bring the painting process to light; to open a discussion about artistic perception in all it’s aspects.
PS: Wann ist aus deiner eigenen Erfahrung als Malerin ein Gemälde misslungen?
KS: Das kann ich tatsächlich nur aus meiner eigenen Praxis sagen und auch dann nur, wenn ich das anhand von einem Beispiel erklären könnte, was in dieser Interviewform nicht geht. Aber ganz grundsätzlich kann ich wohl sagen: wenn keine Magie aufkommt, wenn ich das Bild nicht immerzu und weiterhin im Atelier anschauen möchte – dann hat es wohl nicht die Ausstrahlung und Stimmigkeit, die ich mir erhofft hatte. Die Beurteilung eines Bildes unterliegt auch einem zeitlichen Kontext und erst Jahre später kann abschliessend über Gültigkeit und Grösse eines Bildes geurteilt werden. Und dennoch fanden wir wirklich beinahe alle Bilder, die uns gegeben wurden, problematisch. Mir war es ja wichtig, Malerinnen und Maler anzufragen, deren Werk wir grundsätzlich schätzen. So war es durchaus nachvollziehbar, warum es dieses oder jenes Werk in das Pimp my Painting-Projekt geschafft hatte weil wir es in Relation zu dem entsprechenden Gesamtwerk setzen konnten, aus dem es stammte.
PS: Gibt es für dich Bilder, die mit der Zeit ihre Gültigkeit verlieren und zu denen du nicht mehr stehen kannst?
JS: Since the end of the project, I have a few of the unsold collection hanging in my living room. As with my own work, I can be critical at times and tempted to make further changes but feel that the resulting paintings were part of a process that ended with the exhibition opening and reflect this experiment conclusively.
PS: Waren alle gepimpten Bilder nach der Aktion qualitativ besser als vorher? Gibt es auch welche, die missraten sind?
KS: Wir selber haben uns mit diesem Projekt einem Risiko ausgesetzt. Wir fanden es im Vorfeld amüsant, dass wir uns sozusagen in eine Position gebracht hatten, die es uns erlaubte, über die Güte einer Arbeit zu urteilen und dann auch noch über deren weiteres Schicksal zu bestimmen. Je näher unser Projekt rückte, desto grösseren Respekt hatten wir, denn wir wussten, dass unsere Eingriffe auf fremden Originalen stattfinden würden und irreversibel wären und zudem noch einer Öffentlichkeit unter der Prämisse des selbstbewussten Titels Pimp my Painting gezeigt würden. Daher haben wir das Motiv der berühmten missglücktesten Restauration zu unserem Flyer-Motiv gewählt. Damit machten wir schon mal allen klar, dass es auch ganz schief laufen kann und dass unser Projekt ein Risiko beinhaltet, dass aber auch überaus lustige Wendungen nehmen könnte. Wir hatten am Schluss bloss eine Arbeit, die es nicht in die Ausstellung geschafft hat, weil wir sie als missgeglückt empfunden haben. Das Ausstellungskonzept war so angelegt, dass man die Vorher-Situation anhand einer Fotografie neben dem bearbeiteten Original anschauen konnte, was eine stimulierende Wirkung auf das Publikum hatte, das sich sehr mitteilsam gezeigt hat.
PS: Nach einem dreiwöchigen Arbeitsprozess wurden die überarbeiteten Bilder ausgestellt und zum Kauf angeboten. Wieso wurden alle Bilder unabhängig von ihrer Grösse, ihren Autoren und ihrer Qualität zum Einheitspreis von 999 Franken angeboten? Eine differenzierte Preisgestaltung hätte doch interessante Aufschlüsse zu eurer Haltung gegenüber den jeweiligen Resultaten gegeben.
JS: The performance was not about sales, it was about painterly process. Of course, the pricing of art is another important issue which we touched upon lightly by giving all the works no matter the size or time spent pimping them, the same value.
PS: War die Ausstellung schliesslich ein finanzieller Erfolg? Wie wurde der Erlös zwischen den verschiedenen Akteuren aufgeteilt?
KS: Der Erlös der verkauften Arbeiten ging zu einem Drittel an uns, zu einem Drittel an den/die Ursprungsmaler/in und zu einem Drittel an Esther Eppstein, Kuratorin und Betreibern vom message Salon. Unter ökonomischem Gesichtspunkt war das Projekt trotz einigen Verkäufen kein Erfolg. Wir hatten es auch nicht darauf angelegt, obschon wir unser Projekt ganz bewusst in einer Verkaufsausstellung haben münden lassen. Ganz besonders in der Malerei ist dieser Aspekt zentral und wird auch häufig kritisiert weil sich dieses Medium so gut einbinden lässt in ein kapitalistisches, werkorientiertes und konservatives Kunstsystem. Aber, und das gefällt mir immer noch ganz besonders an Pimp my Painting, haben wir performativ und mit „Ausschuss- Material“ gearbeitet und damit die Möglichkeiten der Malerei alternativ erprobt. Wir haben das Scheitern an einem Werk thematisiert und auch das Ringen ums Gelingen.
PS: Vielen Dank für das Gespräch.
Text Kathrin Hofmann und Marc Egger
Einleitung Nathalie Pernet
Anti-Aging
Text Kathrin Hofmann und Marc Egger
Einleitung Nathalie Pernet
Anti-Aging
«Der Traum von der ewigen Jugend» klingt etwas abgedroschen. Doch viele Menschen träumen ihn. So auch die Band Alphaville, die ihm den Song Forever young (1984) gewidmet hat.
Die einen leben diesen Traum mit ihrer «Midlife-Crisis» aus: Kaufen sich einen roten Sportwagen, laufen Marathon, nehmen sich eine/n jüngere/n Partner/in. Die Klassiker.
Den anderen sind Äusserlichkeiten wichtiger: Sie lassen sich unnatürlich verjüngen. Fett absaugen. Botox spritzen. Anti-Aging eben.
Heute muss alles schnell gehen, effizient, mit minimalem Aufwand. So, wie es unsere Zeit von uns abverlangt. Zeit, die wir nicht haben; oder zumindest nicht zu haben glauben.
Dieser Jugendwahn ist nicht ganz ohne. So hat erst kürzlich ein Forscherteam der Universität Zürich in einer Studie festgestellt, dass «…Botox glättet nicht nur Falten, sondern vermindert auch Hirnimpulse…» (SRF, 10vor10, 23.11.2013). Zudem: Was exzessives Botox anrichten kann, kennen wir von Bildern der Stars und Sternchen in der «Bunte», beispielsweise: «Die Stars im Botox Wahn».
But why do we really want to be forever young?
Mit dem Thema Anti-Aging befasst sich auch eine Forschungsgruppe der HKB. Aber nicht mit Botox, sondern mit dem Anti-Aging von Kunstwerken aus Kunststoff. Die altern nämlich auch, respektive das Material. Und das will man ja nicht (immer). Da hilft Wachs. Vielleicht?
Von Kathrin Hofmann und Marc Egger
Die im Zusammenhang mit Kunst- und Kulturgütern eher kurze Lebensdauer vieler Kunststoffe stellt für den Erhalt von Werken und Objekten aus diesem Werkstoff ein bisher in weiten Bereichen ungelöstes Problem für Konservator/innen dar. Der meist durch Oxidationsprozesse hervorgerufene Abbau der Kunststoffe kann zu optisch auffälligen Veränderungen in der Oberflächenschicht bis zum kompletten Materialversagen führen. Ob Polyolefinwachs-Folien hier helfen können, untersucht zur Zeit ein Forschungsteam der HKB. Eine möglichst sprühbare, filmbildende Rezeptur aus Polyolefinwachs soll entwickelt werden, die als Barriere-, bzw. Schutzschicht appliziert werden kann und den behandelten Kunststoffoberflächen einen effektiven Schutz gegen Abbauprozesse bietet.
Mikrokristalline Wachse haben sich in der Restaurierung bereits als beständiges Konservierungsmittel bewährt und erscheinen nach Beobachtungen in der Praxis prinzipiell auch als Oxidationsschutz für Kunststoffe wirksam. Aufgrund ihrer hohen Kriechneigung sind sie jedoch trotz ihrer Löslichkeit meist nicht vollumfänglich reversibel. Konservierungsmassnahmen mit Wachs, wie sie in der Metallrestaurierung üblich sind, kommen deshalb bei vielen Kunstwerken oder Designobjekten aus Gründen der Reversibilität nicht in Frage. Daraus entstand die Idee, das schützende Wachs in einer Art Matrix einzubinden, um damit eine Reversibilität des Schutzüberzuges zu gewährleisten.
Die Entwicklung einer reversiblen Adhäsionsfolie aus vollsynthetischen Polyolefinwachsen ist aufgrund der ausgezeichneten Beständigkeit des Materials naheliegend, die erfolgreiche Realisierung nach ersten Vorversuchen durchaus vorstellbar.
In einem ersten Schritt werden vier bis fünf Formulierungen aus den Grundstoffen entwickelt. Zur Abklärung der Eignung als Schutzbeschichtung und um ein allfälliges Schädigungspotential ausschliessen zu können, werden damit umfangreiche Tests auf verschiedenen Kunststoffen durchgeführt.
Zur Überprüfung der Stabilität und Reversibilität der Folien erfolgen Reiss- und Peeltests. Die chemische Stabilität der Folien wird mittels beschleunigter Alterung unter Licht- und UV-Exposition erprobt werden. Farbmessungen der Kunststoff-Proben vor und nach den Alterungstests erlauben erste Prognosen zur konservatorischen Wirksamkeit.
Das angestrebte Produkt kann als Archivbeschichtung für Sammlungen oder auch als abschliessende Schutzbeschichtung nach einer konservatorischen Bearbeitung wie zum Beispiel einer Oberflächenreinigung eingesetzt werden. Von weiterer Bedeutung ist die Möglichkeit des partiellen Auftragens, so dass ausgesuchte Bereiche unbedeckt bleiben. Dies wäre vor allem für Mixed Media Objekte bzw. technisches Kulturgut von hohem Interesse und auch für die Erhaltung von Kunststoffteilen an Grossobjekten, wie zum Beispiel Fahrzeugen.
Durch gezieltes Einfärben der Lösung kann dem Produkt ein weiteres Einsatzgebiet eröffnet werden, zum Beispiel in Form von reversiblen Inlays zur optischen Beruhigung von Fehlstellen in Lackschichten von Metallobjekten oder auch bei Fehlstellen in einer Email-Beschichtungen.
Kann die Machbarkeitsstudie mit mehrheitlich positivem Ergebnis abgeschlossen werden, soll die Weiterentwicklung der Formulierung – bis hin zur Marktreife – in einem Folgeprojekt angestrebt werden.
Text NZZ Redaktion, 29. Mai 2006
Tipp Hin Van Tran
Ein Kind früher geistiger Landesverteidigung
Text NZZ Redaktion, 29. Mai 2006
Tipp Hin Van Tran
Ein Kind früher geistiger Landesverteidigung
Der lange Weg der SJW-Hefte von den dreissiger Jahren bis zur Internetgeneration
Wer in der Schweiz aufgewachsen ist, kennt die SJW-Hefte, die regelmässig im Herbst in den Schulen vorgestellt und verkauft werden. Das Ritual in den Klassenzimmern, das den Schulkindern den ersten selbständigen «Buchkauf» ermöglicht, findet dieses Jahr zum 75. Mal statt. Anlass für einen Rück- und Ausblick auf die Tätigkeit der Organisation, die hinter den Schriften steht, welche die Jugend zum Lesen animieren sollen. 2006 feiert das Schweizerische Jugendschriftenwerk (SJW) sein 75-jähriges Bestehen. Vertreter unterschiedlichster Institutionen gründeten am 1. Juli 1931 in Olten den gleichnamigen Verein. SJW-Heftli, wie sie der Volksmund bis heute nennt, sollten künftig die Schweizer Jugend mit unterhaltsamer, anspruchsvoller und preisgünstiger Literatur zum Lesen anspornen. Seither sind über 2300 Titel in allen vier Landessprachen erschienen, häufig in Auflagen von 20 000 Exemplaren und mehr. Gegen 50 Millionen Hefte fanden eine junge Leserschaft, jährlich kommen 200 000 bis 300 0000 dazu. Die Ziele des Schweizerischen Jugendschriftenwerks sind weitgehend die gleichen geblieben: Kindern soll Freude an der Sprache vermittelt werden, sie sollen zum Lesen angeregt werden und dadurch erfahren, dass dies gleichzeitig spannend und lehrreich sein kann.
Eine Art geistige Landesverteidigung
Anlass zur SJW-Gründung war ein Artikel in der NZZ vom 29. April 1929. Unter dem Titel «Wuchernde Schundliteratur» wurde von einer Untersuchung über die Lesegewohnheiten der Schüler in Zürich berichtet. Das Resultat wurde als alarmierend erachtet:Mit einer «unheimlichen Lesewut» verschlängen die Jugendlichen Hefte primitivster Qualität, nicht wenige geprägt von nationalsozialistischem Gedankengut, hiess es. Der Lesestoff kam mit Lastwagen aus Deutschland und wurde zu Spottpreisen abgesetzt. Knaben wie Mädchen aus allen sozialen Schichten tauschten und handelten die Billigware an geheimen Börsen auf Schulhöfen und in Schulhäusern. In der «Frank-Allan-Hölle», einer der Hauptvertriebsstellen in Zürich, wurden Hunderte von Titeln wie «Der Vampyr von Amsterdam», «Das Frauenhaus in Kairo» oder «In Würgekrallen» verkauft.Der NZZ-Artikel löste eine Debatte über das mangelnde Angebot an Literatur für Jugendliche aus. 1929 bildete sich eine Arbeitsgemeinschaft, der Persönlichkeiten aus allen Landesteilen angehörten, unter ihnen Otto Binder, Lehrer und späterer Zentralsekretär der Pro Juventute. Ihm gelang es, die Arbeitsgemeinschaft für die Idee eines Schweizerischen Jugendschriftenwerks auf breiter weltanschaulicher, sozialer und wirtschaftlicher Basis zu begeistern. An der SJW- Gründungsversammlung vom 1. Juli 1931 nahmen Vertreter der Lehrerschaft, der Erziehungsbehörden und gemeinnütziger Kreise teil. Albert Fischli, Lehrer und Schriftsteller, wurde zum ersten Präsidenten ernannt. Nach nur drei Monaten konnte eine fünfköpfige Redaktion aus 68druckbereiten Manuskripten ein Programm mit den Rubriken Erstes Lesealter, Reisen und Abenteuer, Literatur und Theater, Forschung und Biografien vorstellen.
Erfinder und Abenteurer
1932 eröffnete «Der Klub der Spürnasen» das Verlagsprogramm, es folgte eine Biografie des Erfinders der Glühbirne, Thomas Alva Edison. Sechs der zwölf ersten SJW-Hefte waren von Schweizer Autorinnen verfasst. Unter ihnen waren Olga Meyer, Elisabeth Müller, Martha Ringier (eine Weggefährtin Friedrich Glausers) und Anna Schinz mit ihrer Abenteuergeschichte «Jonni in Südafrika». Das SJW-Format hat der Verlag bis heute beibehalten: 13,5 cm × 21 cm, 24 bis 32 Seiten, Klammerheftung. Der Verkaufspreis von 25 Rappen musste wegen der anhaltenden Teuerung bereits in der Vorkriegszeit auf 30 Rappen erhöht werden.
Gegen nationalsozialistische Gedanken
Reaktionen deutscher Verleger auf die Aktivitäten in der Schweiz blieben nicht aus. Dem SJW wurde ein schneller Untergang vorausgesagt. Die Kritiker hatten nicht damit gerechnet, dass sich Lesebegeisterung der Schweizer Jugend auf das SJW-Angebot übertragen liess. Die meisten Titel mussten nach kurzer Zeit nachgedruckt werden. «Die Pfahlbauer am Moossee» und «Die zwölf Batzen» erreichten über 200 000 Schulkinder.Das SJW konnte nicht verhindern, dass weiterhin nationalsozialistisch gefärbte Schriften aus Deutschland die Schweizer Jugend erreichten. Dem begegnete der Vereinspräsident Albert Fischli mit einem unmissverständlichen Votum: «Wir wollen nichts wissen von Rassenhass und Führervergottung; wir begehren nichts besseres als einträchtig und brüderlich beieinander zu wohnen.» Fischli zitierte einen Aufruf Albert Schweitzers im SJW-Heft Nr. 49, einem Porträt des Urwalddoktors, das im selben Jahr erschien. Um sich von der deutschen Blut-und-Boden-Literatur abzugrenzen, setzte das SJW verstärkt auf Schweizer Themen, geschrieben von Schweizer Autoren und Autorinnen. Auch bei den Illustratoren wurde auf die Herkunft geachtet.
Über die Sprachgrenzen hinweg
1935 erschien das erste französischsprachige SJW, vorerst mit mässigem Erfolg. Die Verlagspräsenz an der Landi 1939 brachte neue Beziehungen zur Lehrerschaft der anderen Sprachregionen. Im Tessin konnten 1940 dank Unterstützung der Stiftung Pro Helvetia und des Kantons Zürich die ersten drei italienischen Ausgaben gedruckt werden. Zum durchschlagenden nationalen Erfolg führte 1941 das SJW-Heft «650 Jahre Eidgenossenschaft» auf Deutsch, Französisch, Italienisch, Ladinisch und Surselvisch mit einer Auflage von 614 000 Exemplaren. Das Heft, ein Auftrag des Bundesfeierkomitees, wurde jedem Schweizer Schulkind als Festgabe überreicht.
Subventionen, Spenden, Vertrieb
Es war ein kleines Budget, mit dem das SJW begann. Der Schweizerische Schriftstellerverein spendete an das Anfangskapital 200, der Schweizerische Lehrerverein 1800, der Zürcher Frauenbund 50 Franken. Ein erster finanzieller Engpass 1937 konnte dank einem Spendenaufruf bei der Schweizer Jugend überbrückt werden. Die Sammelaktion unter dem Vorsitz von Bundesrat Etter brachte einen Reinerlös von 60 000 Franken.1957 wurde der Verein in die SJW-Stiftung umgewandelt. Daraufhin bewilligten die eidgenössischen Räte eine jährliche Subvention von 30 000 Franken mit der Auflage, dass die Kantone einen gleich grossen Unterstützungsbeitrag freistellten. Spenden, Vermächtnisse, Zuschüsse von Kantonen und Gemeinden, später auch des Migros-Genossenschafts-Bundes und der Pro Helvetia, sicherten über Jahre das regelmässige Erscheinen der SJW-Hefte in den vier Landessprachen. Das grosse Interesse in Lehrerkreisen öffnete dem SJW von Anfang an den direkten Zugang in die Schulhäuser und damit zu den Schulkindern. Engagierte Freiwillige, in den sechziger Jahren über 5000, unterhalten treu ein komplexes Vertriebssystem. Ihnen verdankt das SJW seinen anhaltenden Erfolg. In den siebziger Jahren reagierte der Verlag mit neuen Themen wie Ökologie, Umweltschutz und bedrohte Tierwelten auf aktuelle Fragen der Zeit. Eine SJW-Reihe «Die andern und wir» griff die Migranten- und Rassenproblematik auf. Hefte über Sucht, Sexualität und Sektenbildungen führten erst zu heftigen Diskussionen, die sich aber angesichts der grossen Nachfrage in den Schulen schnell legten. Etwas verspätet eröffnete 1988 das SJW-Heft «Die Himmelsstürmer» den Schweizer Schulkindern auch dieWelt der Comics.
Von Emil Zopfi bis Meret Oppenheim
Das jüngste Verlagsprogramm bietet neben den traditionellen Printmedien Lesestoff auf CDs in Tamilisch, Serbisch, Albanisch und anderen Migrantensprachen an, auf dem Internetportal www.schultraining.ch stehen SJW-Texte für Sprachübungen bereit. Bis heute ist der SJW- Verlag auch für erfolgreiche Schweizer Schriftsteller und Illustratoren eine geschätzte Plattform.Unter vielen anderen werden Titel von Emil Zopfi, Eveline Hasler, Lisa Tetzner, Franz Hohler und Peter Hartmann geführt. Das 1935 von Lisa Wenger verfasste und von ihrer Enkelin Meret Oppenheim illustrierte SJW «Aber, aber Kristinli» stellt eine kleine Kostbarkeit dar. Das längst vergriffene Heft wird als Jubiläums-SJW neu aufgelegt.Wie bei den meisten Printmedien sind auch beim SJW seit den neunziger Jahren die Verkaufszahlen rückläufig. Dem will der Verlag mit mehr Experimentierfreudigkeit bei der Themenwahl, in der Gestaltung und im Vertrieb begegnen. Ab dem laufenden Jahr arbeitet er mit dem Verkehrshaus und der Hochschule für Gestaltung Luzern sowie mit Kulturschaffenden zusammen. Wo das SJW-Verlagsprogramm die Kinder erreicht, ist das Interesse nach wie vor beachtlich. Und in Anbetracht der Diskussion über mangelnde Sprach- und Lesekompetenz Jugendlicher bleibt das Anliegen des SJW ohnehin aktuell.
www.sjw.ch
© NZZ AG – Alle Rechte vorbehalten
Text Jürgen Kaube, FAZ Feuilleton
Jugend und soziale Netzwerke «Generation Facebook?»
Text Jürgen Kaube, FAZ Feuilleton
Jugend und soziale Netzwerke «Generation Facebook?»
Das Instabile der Aktivitäten und die Gleichzeitigkeit entgegen gesetzter Einstellungen kennzeichnet die moderne Jugend. Im Zeitalter von Facebook ist sie, was sie schon immer war: Auf der Suche nach sich selbst.
Was macht die Jugend? Auf diese Frage ist seit langem die einzig richtige Antwort: Die Jugend macht alles Mögliche. In Spanien betet, singt und diskutiert sie gerade. Andernorts fackelten Teile von ihr Innenstadtgeschäfte ab, oder sie schrieb sich gerade in Massen an den Universitäten ein, feiert Partys, steckt in Praktika und so weiter. Die erwartbaren Jugendstudien, die regelmässig feststellen, die Jugend werde gerade politischer, unpolitischer, egoistischer, tugendhafter, aktiver, passiver, greifen an dieser Tatsache vorbei: Die Jugend folgt völlig unterschiedlichen Verhaltensmoden.Gerade das Instabile ihrer Aktivitäten und die Gleichzeitigkeit entgegen gesetzter Einstellungen – erhöhte Gewaltbereitschaft hier, demonstrativer Pazifismus dort – sind fu?r die moderne Jugend kennzeichnend. Und durch ihren Willen zum Erlebnis, der sich in Partys genau so äussert wie in Demonstrationen, Kirchentagen oder Vandalismus, wird sie ganzen Gesellschaften zum Vorbild. Das ist nichts Neues. Vor achtzig Jahren hat der niederländische Historiker Johan Huizinga festgehalten, wie hoch im Kurs jugendliches Verhalten und jugendlicher Konsum (Kleidung, Musik, Tourismus) auch bei den Erwachsenen stehen. Der Erwachsene, ergänzte der deutsche Soziologe Friedrich Tenbruck auch schon vor einem halben Jahrhundert, also noch vor der grossen Popwelle von 1968, orientiert sich nicht mehr vorwärts: «Die Jugend zu verstehen, mit ihr Schritt zu halten, wird normales Bemu?hen».
Darum sind eigentlich nur Befunde von Interesse, die alle Ausprägungen von Jugendkultur einschliessen. Solch ein Befund ist derjenige, die Jugend sei gerade «auf Facebook» und u?berhaupt im Internet. Er gilt fu?r die niederträchtigen Trophäenjäger von London genau so wie fu?r die friedlichen Partygänger, fu?r Studenten insbesondere, fu?r Nachwuchspolitiker auf der Suche nach Bewunderern und auch fu?r die Guttenbergjugend, die durch Dru?cken eines «Gefällt mir»-Knopfes fu?r die Mitteilung «Guttenberg soll bleiben!» angeblich zu Abertausenden im Internet ihr Idol unterstu?tzte.
Die Jugend probiert aus
Eine Dreiviertelmilliarde Menschen benutzt Facebook, jene Plattform, auf der man Bekanntschaften – im Durchschnitt ein-, zweihundert Personen – durch geteilte Nachrichten pflegen kann. Man schreibt, was einem durch den Kopf geht, weist auf Funde im Internet hin, bewertet die Mitteilungen anderer, verabredet sich, sucht Anschluss. In Deutschland tut das, heisst es, ein Viertel der Bevölkerung. Zwei Drittel davon sind ju?nger als dreißig. In der Studentengeneration soll die Beteiligungsrate noch höher sein.
Was kann es heissen, dass vorzugsweise ju?ngere Leute so intensiven Gebrauch von dieser und allen anderen Kommunikationstechniken im Internet macht, woraufhin dann auch andere soziale Gruppen sie sich erschließen? Zunächst sagt es nur etwas u?ber neue Medien selbst: Die Jugend probiert eben aus, was auszuprobieren der Rest weniger Zeit hat. Der ewige Vorwurf, die Jugend telefoniere, fernsehe oder „chatte“ zu viel, ist insofern ungerecht. Sie testet nur – in Berufsleben, Erziehung sowie in Ehe und Familie oft entschuldigt fehlend, aber trotzdem nervös – fu?r alle anderen aus, was neu und interessant ist.Daraus lernt sie selber, weswegen dann irgendwann auch wieder maßvoller kommuniziert wird. Und es treibt den Markt, mitunter so schnell, dass soeben noch teuer gehandelte Plattformen wie der Facebook-Konkurrent «MySpace» nurmehr fu?r Kulturmuseen informativ sind. Niemand weiß, ob dieses Schicksal nicht morgen schonFacebook erreicht.
Ich sage jetzt mal etwas u?ber mich
Noch ein anderer Aspekt der elektronischen Netzwerke kommt der Jugend entgegen. Sie entkoppeln den Kontakt zu Bekannten von physischer Anwesenheit. Ob man gerade in Semesterferien weilt, einen Umzug hinter sich hat, der Weltjugendtag schon vorbei ist oder die anderen u?berhaupt noch wach sind, spielt auf Facebook keine Rolle. Man kann kommunizieren, ohne auf die Klärung von Terminen, Organisationsmitgliedschaften und verlässlichen Tagesplänen angewiesen zu sein. Wie naheliegend, dass daran besonders eine Gruppe interessiert ist, die erst noch ausprobiert, woran sie sich bindet und in welchen Rhythmen ihr Alltag verläuft. Das gilt ebenfalls fu?r das Motto «Hast Du schon gesehen?», unter dem das Gros der Kommunikation in diesen Netzwerken läuft. Man beteiligt andere am eigenen Geschmack, ohne ihnen eine direkte Reaktion abzuverlangen, ohne zu «nerven», wenn keiner reagiert. Wer will, kann etwas dazu sagen, heißt die Regel. Und: Ich sage jetzt mal etwas u?ber mich.Das die ganze Gesellschaft prägende Jugendliche daran ist das Bedu?rfnis nach ständiger, aber unauffälliger, konfliktarmer Abgleichung des eigenen Urteils und Selbstbildes mit anderen. Schnelle persönliche Kommunikation ist hier wichtiger als langsame, unpersönliche, u?berlegte. Das entspricht einer Lage, in der fu?r viele – so wie seit jeher fu?r Jugendliche – ganz unklar ist, was sie eigentlich interessant finden sollen und wer man eigentlich sein sollte. Um es herauszufinden setzen sie sich der Beobachtung ihrer Freunde, Bekannten oder der ganzen Welt aus, auf einer Bu?hne irgendwo zwischen «privat» und «öffentlich», die kein Publikum mehr kennt, das nicht auch Selbstdarsteller wäre.
© Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH 2014
Alle Rechte vorbehalten.
Text www.du-und-ich.net
Tipp Ivan Weiss
Karlheinz Weinberger und die Halbstarken
Zürich, späte 1950er-Jahre. Die Schweiz laviert zwischen den ideologischen Fronten von Ost und West und schmückt sich nach außen mit einer Blockfreiheit, der so gar keine innere Freiheit zu entsprechen scheint. Auch weil den Bürgern ein ständiges Bedrohungsszenario vorgegaukelt wird, ist das Sicherheitsbedürfnis gesteigert, das Misstrauen geschärft und der Fremdenhass beginnt zu keimen. Es empfiehlt sich, in dieser miefigen Enge die Camouflage der Bürgerlichkeit zu pflegen, und so trifft man inmitten der perfekt geordneten Verhältnisse auch einen freundlichen Herrn in Flanellhose und beigem Strickjäckchen, der mit seiner Mutter seit Ewigkeiten in einem Haus lebt, als Lagerist arbeitet und bei den Nachbarn in hohem Ansehen steht. Er ist gesprächig, seriös und hilfsbereit. Doch hinter der Maske des Biedermanns, hinter der seine Persönlichkeit so weit verschwindet, dass es nicht einmal ein Dutzend Fotografien gibt, auf denen er zu sehen ist, lebt er noch ein zweites, sein wirkliches Leben.
Der Schweizer Fotograf Karlheinz Weinberger dokumentierte in den späten 50er und frühen 60er Jahren die «Halbstarken»-Szene in und um Zürich, dessen Protest sich hauptsächlich in ihrem nonkonformen Kleiderstil äusserte: Bestickte Jeansjacken, überdimensionierte Gürtelschnallen oder abgerissene T-Shirt-Ärmel. Unangepasst wollten sie sein, und dadurch fielen sie auf, wenn sie etwa beim traditionsreichen Zürcher Knabenschiessen auf dem Albisgüetli zwischen den Jahrmarktständen rumlungerten.
Unterdessen ist die rebellische Potential verflogen und die Bilder von Karlheinz Weinberger werden vor allem auf Fashion-Foren heiss diskutiert.
Mehr Bilder: http://www.pinterest.com/buccaneergirl/rebel-youth-karlheinz-weinberger/
Ein Buch mit den Titel «Rebel Youth» mit den Bildern von Karlheinz Weinberger ist bei Rizzoli, New York erschienen: http://www.rizzoliusa.com/book.php?isbn=9780847836123
Text www.du-und-ich.net
Tipp Ivan Weiss
Karlheinz Weinberger und die Halbstarken
Zürich, späte 1950er-Jahre. Die Schweiz laviert zwischen den ideologischen Fronten von Ost und West und schmückt sich nach außen mit einer Blockfreiheit, der so gar keine innere Freiheit zu entsprechen scheint. Auch weil den Bürgern ein ständiges Bedrohungsszenario vorgegaukelt wird, ist das Sicherheitsbedürfnis gesteigert, das Misstrauen geschärft und der Fremdenhass beginnt zu keimen. Es empfiehlt sich, in dieser miefigen Enge die Camouflage der Bürgerlichkeit zu pflegen, und so trifft man inmitten der perfekt geordneten Verhältnisse auch einen freundlichen Herrn in Flanellhose und beigem Strickjäckchen, der mit seiner Mutter seit Ewigkeiten in einem Haus lebt, als Lagerist arbeitet und bei den Nachbarn in hohem Ansehen steht. Er ist gesprächig, seriös und hilfsbereit. Doch hinter der Maske des Biedermanns, hinter der seine Persönlichkeit so weit verschwindet, dass es nicht einmal ein Dutzend Fotografien gibt, auf denen er zu sehen ist, lebt er noch ein zweites, sein wirkliches Leben.
Der Schweizer Fotograf Karlheinz Weinberger dokumentierte in den späten 50er und frühen 60er Jahren die «Halbstarken»-Szene in und um Zürich, dessen Protest sich hauptsächlich in ihrem nonkonformen Kleiderstil äusserte: Bestickte Jeansjacken, überdimensionierte Gürtelschnallen oder abgerissene T-Shirt-Ärmel. Unangepasst wollten sie sein, und dadurch fielen sie auf, wenn sie etwa beim traditionsreichen Zürcher Knabenschiessen auf dem Albisgüetli zwischen den Jahrmarktständen rumlungerten.
Unterdessen ist die rebellische Potential verflogen und die Bilder von Karlheinz Weinberger werden vor allem auf Fashion-Foren heiss diskutiert.
Mehr Bilder: http://www.pinterest.com/buccaneergirl/rebel-youth-karlheinz-weinberger/
Ein Buch mit den Titel «Rebel Youth» mit den Bildern von Karlheinz Weinberger ist bei Rizzoli, New York erschienen: http://www.rizzoliusa.com/book.php?isbn=9780847836123
Text Tim Ackerman, die Welt
Tipp Hin Van Tran
Diese Wimmelbilder sind nur für Erwachsene
Text Tim Ackerman, die Welt
Tipp Hin Van Tran
Diese Wimmelbilder sind nur für Erwachsene
Die Hölle ist auch nicht mehr das, was sie mal war. Da mag ein populärer Papst wie Franziskus mit seinen Predigten noch so sehr die Menschen mitreißen, die verloschene Flamme der ewigen Verdammnis kann auch er nicht wieder entfachen. Die Hölle ist heute in anderen Breitengraden. Und so schreckt uns auch das Weltinferno des Hieronymus Bosch nicht mehr richtig.Eher fu?hlt man sich sehr gut unterhalten, wenn dieser meisterliche Bildererzähler aus den fru?hen Tagen des 16. Jahrhunderts seine Menschlein auf spitzen Ästen aufspießt, sie in Krötenfässern ersäuft und von allerlei Klingen durchbohren lässt. So wie man bei der Fernsehserie «Game of Thrones» gerne zusieht, wenn wieder eine Figur auf fantasievolle Weise aus dem Leben scheidet. Das Privatvergnu?gen an der Mittelalter-Horrorshow. Der Prachtband «Hieronymus Bosch», soeben im Taschen Verlag erschienen, ist zweifellos ein «coffee table book».
Viele werden gezeigt, aber nur wenige gerettet
Fu?r Kulturpessimismus gibt es aber keinen Grund zur Klage, schliesslich waren Boschs Gemälde wohl immer schon eher auf Unterweisung denn auf Erschu?tterung angelegt. Fu?r die Breitwand-Unterhaltung waren ganz andere zuständig; allen voran Michelangelo, der in der Sixtinischen Kapelle u?berdimensional an die Decke malte, wie Gott Adam den Lebensfunken eingibt. Großes Kunstkino ist das.Die Werke von Hieronymus Bosch wurden dagegen geschaffen, um in privater Zwiesprache studiert und langsam entschlu?sselt zu werden. Schon allein das charakteristische Nebeneinander zahlreicher Einzelszenen in einem Bild verlangt eine solch behutsame Herangehensweise.Dass die Überladung der Holztafeln mit Figurenpersonal durch diesen Maler aus dem niederländischen ’s-Hertogenbosch durchaus Methode hatte, erklärt Stefan Fischer, wenn er bei der Beschreibung von Boschs Triptychon «Das Ju?ngste Gericht» (um 1506) den Evangelisten Matthäus zitiert: «Viele sind gerufen, aber nur wenige ausgewählt.»
Warnung vor den Todsu?nden Wollust und Völlerei
Der moralischen Verkommenheit der Masse steht bei Bosch die Aussicht auf individuelle Erlösung gegenu?ber. Auftraggeber fu?r «Das Ju?ngste Gericht» war Herzog Philipp der Schöne, der auch als König von Kastilien und Léon regierte. Jener Philipp liess sich in dem Werk auch selbst abbilden, und zwar in Gestalt des heiligen Bavo, einem Adeligen, der sein Hab und Gut an Bedu?rftige beschenkte. Vermutlich wollte sich der Herzog selbst mit der Außentafel an einen sittsamen Lebenswandel erinnern – um nicht später innen bei der apokalyptischen Seelensortiermaschine auf der falschen Seite zu landen. Beim «Ju?ngsten Gericht» hat Bosch, zwischen der Vertreibung aus dem Paradies links und dem höllischen Dämonenreich rechts, einen du?steren Mittelteil geschaffen, der ewiges Verderben bringende Todsu?nden wie Wollust oder Völlerei darstellt. Der Bildvordergrund mit Krötenfass und allerlei gezu?ckten Klingen soll u?brigens auf die Todsu?nde Zorn hinweisen – wohl als Warnung fu?r einen kriegsgestimmten Herzog gedacht.
Idylle gesundheitsschädlicher Sinnesfreuden
Auch die anderen bedeutenden Gemälde des Malers wie «Die Versuchung des heiligen Antonius» (um 1502) oder den «Garten der Lu?ste» (um 1503) zeigt «Hieronymus Bosch. Das vollständige Werke» sowohl in Gänze wie auch in zahlreichen, ganz- oder doppelseitig abgebildeten Detailausschnitten.Allein das Format des Prachtbandes lässt die Kunst von Bosch auf besondere Weise erfahrbar werden: Wenn man die Abbildung des «Gartens der Lu?ste» auf eine Kantenlänge von u?ber einem Meter ausklappt, hat man wirklich das Gefu?hl, sich in diese gru?ne Idylle der gesundheitsschädlichen Sinnesfreuden hineinzubegeben: Man wandelt unter kanarischen Drachenbäumen und staunt u?ber die vielfältigen Darstellungen unterschiedlicher Sexpraktiken.Bosch ist Erziehungs-Kunst fu?r Erwachsene, und doch erkennen wir seine Gemälde als Vorläufer fu?r die pädagogischen Wimmelbilderbu?cher unserer Kindheit. Nur das Fuchs und Hahn in den Visionen des Malers keine Naturwesen auf dem Bauernhof sind, sondern Symbole fu?r Versuchung und Glauben. In Boschs Kunst mischen sich das Fremde und das Vertraute, das Alltägliche wie das Abseitige. Seine Rezeptur fu?r das behaglich Unbehagliche wirkt bis heute.
© Axel Springer SE 2014.
Alle Rechte vorbehalten
Filmtipp Ivan Weiss
Filmtipp: «Virgin Tales»
Filmtipp Ivan Weiss
Filmtipp: «Virgin Tales»
«Virgin Tales»
Die Wilsons sind eine neunköpfige evangelikale Familie, die in Colorado Springs lebt. Sie sind die Begründer der sogenannten Purity Balls, bei denen Töchter im Abendkleid von ihren Vätern begleitet werden und gemeinsam ein Gelübde ablegen, dass das Mädchen bis zur Ehe keusch bleibt. Inzwischen werden diese Bälle in 48 Staaten der USA gefeiert. Und die fünf Wilson-Töchter, die nur einen Mann heiraten wollen, der genauso ist wie ihr Vater, sind die Vorzeige-Jungfrauen der USA: jung, charmant und jeden noch so scheuen Kuss vor der Ehe verteufelnd. Auch die Söhne vertreten strikt die Haltung, eine Frau das erste Mal vor dem Traualtar zu küssen.
Die Wilsons sind ein lebendiges Beispiel dafür, wie stark das Konzept «Jungfräulichkeit» auch heute noch das Leben junger Frauen beeinflussen kann, und das in einem westlichen Land, das als aufgeklärt und als Hort der Freiheit und Heimat der selbstbestimmten jungen Frauen gilt.
So passiv, wie die Frauen der Purity-Bewegung sich in Bezug auf Sex verhalten sollen, genauso passiv sollen sie auch in allen anderen Lebensbereichen auftreten. Feminismus ist ein Schimpfwort. Die Frau gehört an den Herd, nicht in eine berufliche Laufbahn. Sie soll ihrem Mann dienen, der von Gott zum Führer der Frau auserkoren wurde. Die Wilsons fordern nicht nur Reinheit im sexuellen Sinn, sondern auch im geistigen und emotionalen: Die Kinder sollen sich vor der Ehe nicht verlieben, und bereits sexuelle Gedanken sind eine Sünde. Alle sieben Kinder der Wilsons zeigen sich absolut im Einklang mit diesem Gebot. Dieses Einverständnis mit den Eltern mag auf die fast vollkommene Abschottung von der Außenwelt zurückzuführen sein. Von frühester Kindheit an wurden die sieben Wilson-Sprösslinge wie rund eine Million andere evangelikale US-Kinder zu Hause unterrichtet. Hier lernen die Jungen neben Bibelzitaten vor allem, wie sich ein tugendhafter männlicher «Führer» zu verhalten hat, und die Mädchen, wie man dem zukünftigen Ehemann ein gemütliches Heim bereitet. Kontakt zu Gleichaltrigen kommt lediglich beim Kirchenbesuch und den regelmäßig stattfindenden «Teas» zustande, bei denen die Kinder gemeinsam mit ihren Eltern über ihren Glauben sprechen und sich gegenseitig darin bestärken, dass ihre Lebensform die einzig wahre sei.
Quelle: arte-tv.ch
Website des Films: virgintales.com
David Magnusson: «Purity Balls»
Der Schwedische Fotograf David Magnusson porträtierte 2010 – 2011 Väter und Töchter, die an «Purity Balls» in Louisiana, Colorado und Arizona teilgenommen haben. Die Mädchen und ihr Väter wurden in den Kleidern, die sie während des Balls getragen haben fotografiert.
http://www.davidmagnusson.se/projects/purity#.UynumRYxNVo
Text Ronya Othman, Studentin des Schweizerischen Literaturinstitutes
Bestellschein für Ihren eigenen literarischen Text
Text Ronya Othman, Studentin des Schweizerischen Literaturinstitutes
Bestellschein für Ihren eigenen literarischen Text
Verfasst von Studierenden des Schweizerischen Literaturinstitutes (ein Fachbereich der Hochschule der Künste Bern)
www.literaturinstitut.ch
mit dreissig jahren machte meine grossmutter ihren vater ausfindig. sie hatte seine adresse, hatte ihn aber noch nie gesehen, sie stand dreimal vor seiner haustuere, dreimal verliess sie der mut.beim vierten mal klingelte sie. es oeffnete eine tochter ihres vaters, eine halbschwester meiner grossmutter. meine grossmutter sagte, guten tag, ich bin die jugendsuende ihres vaters.