Interview Patricia Schneider
Meinrad Schade – Krieg ohne Krieg
Interview Patricia Schneider
Meinrad Schade – Krieg ohne Krieg
Seit über zehn Jahren bereist Meinrad Schade ehemalige Gebiete der Sowjetunion wie die russischen Teilrepubliken Tschetschenien und Inguschetien, Kasachstan, Nagorny-Karabach sowie die Ukraine und hält die Spuren, die der Krieg bei den Menschen und in der Landschaft hinterlassen hat, fotografisch fest. Seine Arbeiten sind zur Zeit in der Fotostiftung in Winterthur zu sehen und im Verlag Scheidegger und Spiess ist parallel zur Ausstellung eine umfangreiche Publikation erschienen.
Meinrad Schade ist in Kreuzlingen geboren und hat nach einem Biologiestudium eine Ausbildung zum Fotografen gemacht und danach als Pressefotograf für das St. Galler Tagblatt gearbeitet. Seit 2002 ist er als selbstständiger Porträt- und Reportagefotograf tätig und wurde für seine Fotoreportagen bereits mehrfach ausgezeichnet.
Patricia Schneider: Herr Schade, Sie richten Ihr Augenmerk auf Orte, die in den Medien keine Beachtung mehr finden, wenn der Krieg vorbei ist. Was hat Sie dazu gebracht, in die ehemaligen Kriegsgebiete zu reisen? Haben Sie eine spezielle Beziehung zur ehemaligen Sowjetunion oder gab es bereits Kontakte durch Ihre frühere Tätigkeit als Pressefotograf?
Meinrad Schade: Das mit der ehemaligen Sowjetunion ist eher zufällig. 2001 gewann ich zusammen mit einer Kollegin ein Stipendium. Es war vorwiegend ihre Idee, eine Geschichte über die Pressefreiheit in der Ukraine zu machen. Es war mein allererster Kontakt mit einem Land der ehemaligen Sowjetunion. Natürlich üben Orte, die lange Zeit hinter dem eisernen Vorhang verborgen waren, eine grosse Anziehungskraft aus. Erst viel später kam ich aber auf mein Kriegsprojekt. Wieder in Kiew, 2007. Meine Partnerin die Russisch spricht, hatte die Idee ein Projekt über Museen in der ehemaligne Sowjetunion zu machen. So besuchten wir diverse Museen in und rund um Kiew herum. Am meisten beeindruckte mich das Kriegsmuseum, genauer das Museum zum Grossen Vaterländischen Krieg, wie der Zweite Weltkrieg in den meisten Staaten der ehemaligen Sowjetunion genannt wird. 16 gigantische Säle, eine erdrückende Architektur, im Sockel einer riesigen «Mutter Heimat ruft Statue». Das Erstaunlichste aber war für mich, dass das Museum nicht etwa nur von alten Menschen besucht wurde. Es war das beliebteste Museum ganz Kiews und wurde auch von unzählig vielen jungen Menschen, die den Krieg gar nicht erlebt hatten, besucht. Diese lebendige Erinnerungskultur warf für mich die Frage auf, wann denn ein Krieg eigentlich vorbei sei. Oder anders gesagt, wenn das Gedenken an einen Krieg wie der Zweite Weltkrieg immer noch so sichtbar ist, ist er dann wirklich vorbei? Und das nach (Stand jetzt) 70 Jahren? Dieses Erlebnis war der Beginn meines Langzeitprojekts «Vor, nach und neben dem Krieg, Spurensuche an den Rändern der Konflikte».
Patricia Schneider: Sie sind kein klassischer Kriegsfotograf, der das Geschehen an der Front festhält. Wie grenzen Sie sich als unabhängiger Reportagefotograf von dieser zuweilen sehr kurzlebigen und auf Sensation ausgerichteten Fotografie ab, und welche Facetten des Kriegs möchten Sie mit Ihrer Arbeit sichtbar machen?
Meinrad Schade: Ich muss mich gar nicht abgrenzen. Meine Bilder sind ja etwas ganz anderes. Abgesehen davon, auch wenn ich die klassische Kriegsfotografie kritisiere, heisst das für mich nicht, dass ich sie gänzlich ablehne. Auch diese Bilder braucht es wohl. Aber sie zu machen, ist nicht «mein Ding», habe keine Begabung hierfür, auch nicht den Mut. Mir geht es vielmehr um die Alltäglichkeit, wie sich der Krieg in unseren Alltag eingeschlichen und eingenistet hat, in vielen Bereichen. Und irreversibel diese Prozesse sind. Die Halbwertszeit eines Krieges ist viel länger, als man denken mag. Ich bin zwar «unabhängiger Reportagefotograf», wie Sie das nennen, das tönt gut. Aber meine Arbeit hat keinen kommerziellen Anspruch, ich muss nicht spezielle Bilder liefern, bin nicht Markgesetzen unterworfen. Mein Geld verdiene ich mit einer anderen Art der Fotografie.
Patricia Schneider: Sie sind Menschen begegnet, die grosses physisches und psychisches Leid erlitten haben, und zum Teil mehrfach flüchten und eine neue Existenz aufbauen mussten. Wie haben diese Leute reagiert, als sie jemand aus der Schweiz porträtieren wollte? Waren Sie als Fotograf bei der Bevölkerung willkommen?
Meinrad Schade: Meistens war ich willkommen, ja. Ganz wichtig ist natürlich immer der sogenannte «Fixer». Ich spreche ja selten die Sprache meines «Untersuchungsgebietes», weshalb ich immer mit einem Übersetzer zusammenarbeite. Dieser ist mein Türöffner, wenn er gut arbeitet. In Kasachstan versuchte ich die Opfer der sowjetischen Atombombentests zu porträtieren. Bei denen war ich zum Teil nicht willkommen. Sie waren sehr enttäuscht über die internationale Presse. Sie sagten: «Ihr Journalisten kommt hierher, macht Eure Geschichte, geht wieder. Und unsere Situation bleibt dieselbe! Keine Verbesserung.» Jene, die ich dann fotografieren konnte, verlangten Geld. Also habe ich sie bezahlt. Zuerst ungern, weil es ja das journalistische Gesetz gibt, dass man für Informationen nicht bezahlt. Später habe ich das als kluge Strategie der Menschen vor Ort akzeptiert.
Patricia Schneider: Durch die Kraft des Augenblicks und durch eine ausserordentliche Ästhetik ziehen Ihre Bilder die Aufmerksamkeit auf sich. Mit welchem gestalterischen Anspruch versuchen Sie, Ihre Bilder zu realisieren? Dürfen Bilder, die von unglaublichen Schicksalen erzählen und auf missliche Umstände hinweisen, gleichzeitig durch ihre Schönheit auffallen?
Meinrad Schade: Ich brauche ja die Aufmerksamkeit der Betrachter. Ohne diese sind meine Bilder wertlos. Nun gibt es verschiedene Möglichkeiten, diese zu erlangen. Meine gestalterischen Richtlinien lassen sich kurz so zusammenfassen: ich habe nicht gerne Effekthascherei. Also z.B. keine übertriebenen Perspektiven. Meine Bilder sollen mehr oder weniger natürlich wirken, nahe am «realen» Leben, keine übertriebene Farbigkeit, keine unnatürlichen Kontraste, keine Moden mitmachen (die wieder vergehen, flüchtig sind, beispielsweise die ungesättigte Farbgebung). Bleibt mir also vor allem der Moment, die Lichtgebung und die Komposition. Für mich nach wie vor, wichtige Pfeiler der Dokumentarfotografie, wie ich sie verstehe resp. der Fotografie an sich! Das mit der Schönheit und den misslichen Umständen ist natürlich eine Gratwanderung. Natürlich möchte ich nicht überästhetisierte Bilder des Grauens machen, aber ich möchte das Grauen auch nicht noch grauenvoller darstellen, als es schon ist. Ich versuche auch «schöne» Bilder zu machen, die aber auf den zweiten Blick einen Bruch aufweisen.
Patricia Schneider: Ihre Bilder sind geprägt von Brüchen: Die schöne Landschaft erweist sich nach dem Lesen der Bildlegende als verseuchtes Atomtestgelände und beim intimen Familienbild erfährt man, dass diese Leute Strahlenopfer sind, die ihre gegenwärtige Existenz nur unter den schwierigsten Bedingungen bewältigen können. Konnten Sie durch ihre Arbeit bewirken, dass für diese Menschen etwas getan wird? Arbeiten Sie allenfalls mit Hilfswerken wie Green Cross zusammen, die sich für die Opfer der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl einsetzen?
Meinrad Schade: Nein, ich denke nicht, dass meine Arbeit den Menschen vor Ort irgendwie geholfen hat. Das wäre natürlich schön und manchmal denke ich, ich sollte mehr in diese Richtung arbeiten. Es gibt ja immer wieder auch gelungene Beispiele hierfür. Ab und zu fotografiere ich für Hilfswerke, aber eine von mir initiierte Zusammenarbeit die mit meinem Projekt zusammenhängt, hat bis jetzt noch nicht stattgefunden.
Patricia Schneider: Das Fotografieren von Übungsplätzen oder militärischen Einrichtungen dürfte kein einfaches Unterfangen gewesen sein. Mussten Sie für ihre Reportagen Bewilligungen einholen und wurde Ihre Arbeit durch die Behörden eingeschränkt? Befürchten Sie, dass die Publikation Ihrer Arbeiten Ihre Bewegungsfreiheit als Fotograf künftig beeinträchtigen könnte?
Meinrad Schade: Bewilligungen einzuholen, ist eine Kerntätigkeit dokumentarfotografischer Arbeit, klar. Und man kann nie das fotografieren, was man alles will. Man ist immer mit Einschränkungen konfrontiert und versucht, das Beste daraus zu machen. Ich hoffe nicht, dass die Publikation meiner Arbeiten, meine Bewegungsfreiheit als Fotograf einschränken wird. Wobei ein Beispiel gibt es zu nennen: Da ich in Berg-Karabach fotografiert habe, diese Fotos publiziert wurden, bin ich nun auf der «Blacklist» von Aserbeidschan, kann dort nicht einreisen. Wie lange diese Sperre anhält, weiss ich nicht. Schade, wäre gerne mal nach Baku gereist.
Patricia Schneider: Sie fotografieren auch «Kriegsschauplätze» wie die «War & Peace Show» in England, bei denen Kriegsszenen nachgespielt werden, oder eine Waffenmesse in Paris, die sich fern ab von den Krisengebieten befinden. Diese Fotografien verdeutlichen eine tiefverwurzelte Faszination für den Krieg in der heutigen Gesellschaft und zeigen vor allem auch, dass jeder Krieg ein Geschäft ist. Sind Ihre Bilder als eine Kritik gegen Firmen und Staaten zu verstehen, die mit ihren Waffenexporten dafür sorgen, dass die Kriege andauern?
Meinrad Schade: In gewisser Weise ja. Doch wie stark können wir uns von diesen Firmen und Staaten abgrenzen? Geht es dem Wirtschaftsstandort Schweiz gut, geht es auch mir als «Kulturschaffender», als Fotograf gut. Dass Rohstoffe in Staaten, die von Kriegen gebeutelt sind, gewonnen werden, hat einen grossen Einfluss auf mein Leben hier in der Schweiz? Wie teuer wäre ein iPhone, wenn es «sauber» wäre?
Patricia Schneider: Ist mit der Publikation und der Ausstellung das Thema «Krieg ohne Krieg» für Sie abgeschlossen, oder werden Sie die Thematik weiter verfolgen? Darf man erfahren, welche Projekte Sie als nächstes planen?
Meinrad Schade: Ausstellung und Buch ist «nur» ein Zwischenstand. Zur Zeit fahre ich in Israel und Palästina am Projekt weiter.
Patricia Schneider: Herzlichen Dank für ihre Auskünfte.
Weitere Informationen:
Meinrad Schade: www.meinradschade.ch
Ausstellung: Meinrad Schade – «Krieg ohne Krieg», Fotostiftung Schweiz im Fotomuseum Winterthur: 7.3. – 17.5. 2015
Publikation: Meinrad Schade: «Krieg ohne Krieg»,Fotografien aus der ehemaligen Sowjetunion.
Verlag Scheidegger & Spiess. Zürich 2015. 264 Seiten. 54 Franken.
Texte Christoph Roeber / Gilles Aubry, Andi Schoon
Paul Bowles
Texte Christoph Roeber / Gilles Aubry, Andi Schoon
Paul Bowles
Die Biografie
Text: Christoph Roeber
Paul Bowles wurde 1910 in Queens, New York, als Kind wohlhabender Eltern geboren. Durch seine Mutter kam er schon früh mit Literatur in Berührung, insbesondere mit Edgar Allan Poe. Im Alter von sechzehn Jahren akzeptierte die Pariser Literaturzeitschrift Transition – die sich der literarischen Moderne verschrieb und AutorInnen wie James Joyce, Paul Éluard und Gertrude Stein veröffentlichte – zwei Gedichte Bowles’ mit den Namen Spire Song und Entity. Neben seiner literarischen Neigung zeigt sich auch sein musikalisches Talent früh. Ab 1928 studierte er an der University of Virginia gemeinsam mit Aaron Copland Musik. Im März 1929 reiste er erstmals nach Paris, in seinem Pass mit der Angabe: zu Studienzwecken – kehrte allerdings bereits im Juli widerwillig nach New York zurück. 1931 ging er wiederum nach Paris und gehörte zum literarischen Zirkel Gertrude Steins, die ihm eine Reise nach Tanger empfahl, wo er mit Aaron Copland schliesslich den Sommer verbrachte. 1933 kehrte er wiederum nach New York zurück und lebte dort die nächsten Jahre, immer wieder unterbrochen von längeren Reisen und Aufenthalten in anderen Ländern. In dieser Zeit gelangte er zu einigem Renommee als Komponist, arbeitete unter anderem mit Tennessee Williams und Orson Welles zusammen. 1938 heiratete er Jane Auer – selbst Schriftstellerin –, unter deren Einfluss Bowles selbst wieder Prosa zu schreiben begann. Im Jahre 1947 wanderte er schliesslich nach Tanger aus, Jane Bowles folgte ihm ein Jahr später. Nach seiner Übersiedlung widmete er sich zunehmend seiner schriftstellerischen Tätigkeit, schrieb verschiedene Kurzprosa sowie seinen 1949 veröffentlichten Roman The Sheltering Sky, mit dem ihm der Durchbruch gelang. Bei Reisen durch die Wüste begann er sich für traditionelle marokkanische Musik zu interessieren und nahm zwischen 1959 und 1961 Musik verschiedener Ethnien auf – diese Aufnahmen wurden unter dem Namen The Paul Bowles Moroccan Music Collections berühmt. Ab 1974 widmete er sich hauptsächlich der Übersetzung marokkanischer Autoren wie Mohamed Choukri oder Mohammed Mrabet. Er starb 1999 nach kurzer Krankheit in Tanger.
Weiterführende Literatur:
Spencer Carr, Virginia (2005): Paul Bowles. A life. Peter Owen, LondonBowles, Paul (1986): Without Stopping. An Autobiography. The Ecco Press, New York
Das künstlerische Forschungsprojekt
Text: Gilles Aubry, Andi Schoon
Bowles reiste 1959 durch Marokko, um möglichst viele Beispiele traditioneller Musik auf Tonband aufzuzeichnen. Nach fünf Monaten hatte er 72 Stunden Material; darunter befanden sich über 250 Beispiele von Ahwouach, Andaluz, Gnawa, Rwasi und Jewish Sephardic Music aus 22 verschiedenen Gegenden Marokkos. Auf mehr als hundert Seiten dokumentierte Bowles seine Reiseaufnahmen. Die ursprünglichen Tonbandaufzeichnungen und Notizen sind heute im Archive of Folk Song at the Library of Congress in Washington zu finden. Auf Initiative des TALIM (Tangier American Legation Institute for Moroccan Studies) hin und in Zusammenarbeit mit dem marokkanischen Ministerium für Kultur wurden 2010 die digitalisierten Kopien der Aufnahmen von der Library of Congress in Washington nach Tanger zurückgeführt, wo sie nun für wissenschaftliche Zwecke verfügbar sind. Künftig soll der breiten Öffentlichkeit der Zugang zum Archiv mit einer speziell eingerichteten Website möglich sein.
Gilles Aubry wertet die Bowles-Sammlung von 1959 als frühes Beispiel kultureller Erhaltung mithilfe moderner Audiotechnologie. Durch die Rückführung der Sammlung von Washington nach Tanger im Jahre 2010 gewinnt Aubry zufolge die lokale Rezeption und die kulturelle Interpretation in Marokko selbst an Bedeutung; dies aus den Perspektiven des Postkolonialismus, der Medienanthropologie und der Kunst. Grund genug, dieses Thema im Rahmen einer Dissertation zu beforschen. Seine erste künstlerische Arbeit mit Zouheir Atbane – and who sees the mystery (2014) – hat Aubry nach einer Residenz in Tafraout produziert, einem Dorf im Antiatlas-Gebirge, in dem Paul Bowles 1959 eine Ahwouach-Musikperformance aufgezeichnet hatte.
Die beiden Künstler brachten Bowles’ Aufnahmen zurück an ihren Ursprungsort und erarbeiteten zusammen mit lokalen Musikern Hörsessions und Musikproben. So entstand eine neue Interpretation der nach Tanger zurückgeführten Aufnahmen von 1959. and who sees the mystery wurde u.a. an der Marrakesch Biennale 2014 und der Museumsnacht Bern 2015 gezeigt.
Text Interpixel
Tipp Hin Van Tran
Mega Buster
Text Interpixel
Tipp Hin Van Tran
Mega Buster
Eva-Maria Würth und Philippe Sablonier lancierten 2006 aus Anlass des 125-Jahr-Jubiläums des Bourbaki-Panorama-Bildes in Luzern das umfassende und mehrjährige Kunstprojekt «Mega Buster», mit dem sie gesellschaftspolitische Fragen zu Kriegsspielzeug, Medienkonsum und Jugendgewalt künstlerisch durchleuchten und Stellung beziehen.Die Initianten und Künstlerduo Interpixel schreiben zu ihrem Projekt: «Das Panorama-Bild von Eduard Castres stellt auf tausend quadratmeter Leinwand das Ereignis des Grenzübertritts der französischen Ostarmee (Bourbaki Armee) in die Schweiz dar. Es zeigt deren Entwaffnung durch die schweizer Kantonsarmeen gegen Ende des deutsch-französischen Krieges 1871. Mit dieser Geste rettete die Schweiz über 80’000 Soldaten vor der Verfolgung und Vernichtung durch die deutschen Armeen. Das Panorama ist eine eindrückliche Anklage des Kriegs und trug als Symbol für Humanität, Solidarität und Neutralität zum geistigen Entwurf der modernen Schweiz als friedensstiftende Nation bei. Das Panorama-Bild war ein «Massenmedium» seiner Zeit, das zehn Jahre nach Kriegsende eingeweiht wurde und die Erinnerung an die Ereignisse nicht nur wach hielt, sondern auch konstruierte, denn das Ereignis hatte in der dargestellten Weise in vielen Details historisch nicht so stattgefunden.Ausgehend vom historischen Rundbild greift Interpixel den zentralen Aspekt der Entwaffnung heraus und setzt diesen in einer partizipativen und installativen Arbeit in ein Verhältnis zur Jetztzeit. In Analogie zur militärischen Entwaffung verlagert Interpixel die Entwaffnung ins «Kriegsgebiet Kinderzimmer». Gewalt und physische Waffen sind als zivilisatorisches Urelement ein Symbol für Stärke und Wehrhaftigkeit. Das tief in der Kultur verankerte Imponiergehabe nimmt seinen Anfang bereits im Kleinkindalter, lebt sich während der Adoleszenz im imitierenden Spiel aus und wächst zum tödlichen Bluff unter Erwachsenen aus. Kinder, Männer und verfeindete Staaten halten sich gegenseitig mit Drohgebärden auf Distanz. Nicht nur die Waffenindustrie blüht im Minenhandel und Technologietransfer – auch die Unterhaltungsindustrie bringt einträgliche Geschäfte: «Frontlaser» und «Mega Buster» sorgen für äggschen im Kinderzimmer und verschiessen in begeisterten Händen ihre Projektile. Computer- und Videospiele zeigen Kampfszenen so realitätsgetreu, dass sie damit beworben werden, militärischen Ausbildungszwecken zu dienen. Wer als Eltern die Waffenkammer nicht auf dem neuesten Stand der Technik hält, sieht seine Nachkömmlinge im Kulturkampf des Wettrüstens verspottet.Mit «Mega Buster» lancierte Interpixel eine Entwaffnungsaktion mit der Aufforderung, die Kinderzimmer zu befrieden und ruft Kinder, Eltern und andere Erwachsene auf, ihre Waffen abzugeben. Diese wurden von interpixel schweizweit eingesammelt und im traditionsreichen Bourbaki-Gebäude zu Kunst umfunktioniert. Über das Symbol Spielzeugwaffe lancierte Interpixel Diskussion über Humanität und den Umgang mit modernen Kriegsmitteln an.
Weitere Informationen:
http://www.editionfink.ch/php/katalog/detail.php?buchid=141http://www.bernerzeitung.ch/kultur/kunst/Waffen-aus-Schweizer-Kinderzimmern-unter-der-Walze/story/23833581www.interpixel.com
Text Stefan Sulzer
Mahlzeit
Die Bilder der Arbeit «All you can eat» des HKB Alumnis David Zehnder lassen einen Einblick in ein Freaktum zu, dessen prädominantes Aufkommen sich glücklicherweise auf die virtuelle Sphäre beschränkt. Ausser man lebt in einem biblebelt umgürteten Südstaat der USA. Zehnder findet sie in einschlägigen Websites waffenvernarrter Internetgeeks, deren Mitteilungsbedürfnis sich in bezaubernder Vielfalt manifestiert. Ich lebte selbst schon mit wg-Kollegen zusammen, die ihr Armeesturmgewehr im Putzschrank lagerten; aber die Idee, dieses in suggestiver Manier mit einer Portion Farfalle al limone zu inszenieren, kam uns nie. Interessant sind bei den von Zehnder ausgewählten Bildern nicht bloss die kompositorischen Entscheidungen, welche die fotografierenden Individuen als formal interessant erachten, sondern auch die Verbindungen, die zwischen den unterschiedlichen Waffen und Nahrungsmitteln entstehen. Allgemein scheinen die meisten Fotografen (und ich wage hier zu behaupten, dass es sich hauptsächlich um Männer handelt) dem Klischee eines dümmlichen, konservativen Dicklings zu entsprechen, da es sich bei den Mahlzeiten selten um eine raffinierte Version eines Chateaubriands oder Côte de bœuf handelt, sondern um trashigen fast food (auch wenn dieser bisweilen selbstgekocht ist). Die Bilder erlauben ein Abtauchen in eine Welt, der man in Wirklichkeit gerne bis an sein Lebensende fernbleibt. Eine Safari durch die Savannen des waffenvernarrten Prekariats, beobachtet durch die getönte Scheibe des Computerscreens.
Eine Übersicht der Arbeit All you can eat:
https://vimeo.com/80081339
David Zehnders Website:
http://www.davidz.ch/
Text Stefan Sulzer
Mahlzeit
Die Bilder der Arbeit «All you can eat» des HKB Alumnis David Zehnder lassen einen Einblick in ein Freaktum zu, dessen prädominantes Aufkommen sich glücklicherweise auf die virtuelle Sphäre beschränkt. Ausser man lebt in einem biblebelt umgürteten Südstaat der USA. Zehnder findet sie in einschlägigen Websites waffenvernarrter Internetgeeks, deren Mitteilungsbedürfnis sich in bezaubernder Vielfalt manifestiert. Ich lebte selbst schon mit wg-Kollegen zusammen, die ihr Armeesturmgewehr im Putzschrank lagerten; aber die Idee, dieses in suggestiver Manier mit einer Portion Farfalle al limone zu inszenieren, kam uns nie. Interessant sind bei den von Zehnder ausgewählten Bildern nicht bloss die kompositorischen Entscheidungen, welche die fotografierenden Individuen als formal interessant erachten, sondern auch die Verbindungen, die zwischen den unterschiedlichen Waffen und Nahrungsmitteln entstehen. Allgemein scheinen die meisten Fotografen (und ich wage hier zu behaupten, dass es sich hauptsächlich um Männer handelt) dem Klischee eines dümmlichen, konservativen Dicklings zu entsprechen, da es sich bei den Mahlzeiten selten um eine raffinierte Version eines Chateaubriands oder Côte de bœuf handelt, sondern um trashigen fast food (auch wenn dieser bisweilen selbstgekocht ist). Die Bilder erlauben ein Abtauchen in eine Welt, der man in Wirklichkeit gerne bis an sein Lebensende fernbleibt. Eine Safari durch die Savannen des waffenvernarrten Prekariats, beobachtet durch die getönte Scheibe des Computerscreens.
Eine Übersicht der Arbeit All you can eat:
https://vimeo.com/80081339
David Zehnders Website:
http://www.davidz.ch/
Text Nicole Hametner
Schweigender Raum
Text Nicole Hametner
Schweigender Raum
In seiner Vorlesung A Universe From Nothing erläutert der Kosmologe und Physiker Lawrence Krauss, dass unser Universum vor 13.7 Milliarden Jahren aus dem Nichts entstanden ist. Es ist schwierig sich vorzustellen wie dieses komplette Nichtvorhandensein ausgesehen haben muss. Nichts das es möglich wäre zu beschreiben und in irgendeiner erdenkbaren Weise wahrzunehmen. Keine Masse, keine Anziehungskraft, keine Energie oder Geräusch, auch die Zeit existierte nicht.
So mancher mag sich in der Hektik unserer Zeit ein Innehalten wünschen, um zwischendurch fern aller Reizüberflutung, dem Übermass an Informationen zu entkommen. Der Wunsch einer bewussten Wahrnehmung bis hin zur vollkommenen Kontemplation des eigenen Selbst ist sehr präsent in unserer hastigen Gesellschaft. Doch was würde die absolute Erfüllung dieses Wunsches bedeuten? Wie weit können wir auf uns selbst zurückgeworfen sein, losgelöst von den Einwirkungen der Aussenwelt? Und was wenn ein Mensch gezwungen wird in Abschottung, jeglichen Sinneseindrücken beraubt, zu leben?
Im Zusammenhang einer Porträtaufnahme, die ich von Kurt Eggenschwiler, dem Leiter der Abteilung Akustik an der EMPA (Eidgenössische Materialprüfungs- und Forschungsanstalt) machen durfte, hatte ich die Möglichkeit durch deren Laboreinrichtungen geführt zu werden. Dort wird in unterschiedlich ausgestatteten Räumen die Wirkung des Schalls untersucht. Was mir dabei am stärksten in Erinnerung blieb war das Erlebnis in einem komplett schallfreien Raum zu stehen. Einer totalen Stille ausgesetzt, überkam mich innerhalb kürzester Zeit ein beklemmendes Gefühl. Die Lautlosigkeit umhüllte mich wie ein dumpfes, traumähnliches Etwas. So schien sich die Abwesenheit des Schalls in eine starke, ungreifbare, beunruhigende Präsenz zu verwandeln und ein Unbehagen machte sich in mir breit.
Wenn nun bereits die Einschränkung von nur einem Sinn eine leichte Desorientierung zur Folge hat, so ist es nicht schwer sich vor zu stellen, welch drastische Auswirkungen ein kompletter Entzug jeglicher Wahrnehmungsreize auf den Menschen haben kann.
Forschung: Isolationsexperimente
In den 50er Jahren wurde an der MC Gill University in Montreal Versuche durchgeführt, in denen die Probanden einem schallisolierten, dunklen Raum ausgesetzt wurden. Das gesamte Experiment musste allerdings bereits nach wenigen Tagen abgebrochen werden, weil die Versuchspersonen es nicht länger in der Isolation aushalten konnten. Wenn man bedenkt, dass sich ohne den natürlichen Verlauf von Tageslicht unser Zeitgefühl verschiebt, müssen sich bei vollkommender Dunkelheit, Stunden bereits wie Tage anfühlen.
Die Forscher stellten fest, dass schon nach nur wenigen Stunden die Konzentration der Studenten erheblich nachliess und einige unter ihnen sogar anfingen Stimmen zu hören oder Bilder vor sich zu sehen. Der kanadische Psychologe Donald Hebb schlussfolgerte, dass Nervenzellen ohne äussere Einwirkung beginnen mit sich selbst zu kommunizieren und dadurch Halluzinationen auslösen können. So entstand eine neue Art der Gehirnforschung, welche sich gezielt der Methode der Isolationsexperimente bediente. Darunter gehörte auch der sogenannte Sensory Deprivation Tank: ein licht- und schalldichter, mit Öl und Salzwasser gefüllter Behälter. Total isoliert und in schwebendem Zustand, durchlebten einige Probanden darin ein Gefühl die Grenze ihres Körpers zu verlieren.
Auch wenn sich dies im ersten Moment entspannend anfühlen mag, so kann ein längeres ausgesetzt sein in dem Tank bis hin zum Verlust der Identität führen. Unsere Identität bildet sich wenn wir uns zum ersten Mal als eigenständiges Ganzes wahrnehmen, deutlich abgegrenzt von unserer Umwelt. Der Mensch ist darauf gerichtet mit seinen Sinnen Veränderungen in seiner Umwelt wahrzunehmen und sich durch Abgrenzung davon selbst zu definieren. Nur so kann er sich als selbstständiges Individuum wahrnehmen. Dafür ist es aber auch notwendig einen ständigen Bezug zu dem was uns umgibt zu haben, wir brauchen eine sinnliche Empfindung davon. So kann, umgeben von radikaler Unsichtbarkeit und Stille, die Wirkung von fehlenden Sinneseindrücken schon nach relativ kurzer Zeit selbstentfremdend wirken.
Kunst und Folter
Die Kunst spielt mit der Wahrnehmung des Betrachters. Besonders in raumübergreifenden Werken, werden unsere Sinne auf die Probe gestellt, werden getäuscht und entgleiten vorderhand unserer Kontrolle.
In ihrer Installation Camera Silens haben Rob Moonen und Olaf Arndt einen schallisolierten Raum geschaffen, in dem jegliche Sinneseindrücke auf ein Minimum reduziert werden. Die Präsenz der Stille wirft den Betrachter zurück auf sich selbst, seine Gedanken, sein Atmen und seinen Herzschlag. Ohne weiteren Referenzpunkt verliert er sich in der Camera Silens, oder wie Olaf Arndt es formuliert: «kann jeder darin sein persönliches Nichts erfahren.»
Ursprünglich als Gegenpol zur Informationsflut in unserem Medienzeitalter verstanden, erhält die Arbeit von Moonen und Arndt gezeigt in den Berliner KunstWerken Zur Vorstellung des Terrors: Die RAF Ausstellung eine völlig neue Bedeutung. In diesem Kontext spannt der Titel ihrer Arbeit Camera Silens, eine schallisolierte Dunkelzelle, den Bogen von den frühen Isolationsexperimenten der Gehirnforschung hin zur Isolationshaft in Gefängnissen.
Früh nahm die experimentelle Psychiatrie Einfluss auf künftige Foltermethoden. So wurden Zwangsjacken, Elektroschocks und Isolationshaft, welche dazu dienen sollte die sogenannten Kranken zu lenken und zu therapieren, bald auch an Häftlingen angewandt. Da die Isolation im Gefängnis ohne den Austausch unter den Mitgefangenen noch schwerer zu ertragen ist, wird Einzelhaft häufig als Druckmittel eingesetzt. In extremen Fällen wird dafür eine Camera Silens verwendet, eine schallisolierte Black Box. Eingesperrt auf engstem Raum, in Dunkelheit und dem Entzug jeglicher äusseren Wahrnehmung wird der Gefangene innerhalb kürzester Zeit psychisch und physisch gebrochen und durch Gehirnwäsche zur Aussage gezwungen. Der Begriff sensorische Deprivation, die Beraubung jeglicher Sinneseindrücke, gehört zu den Methoden der Weissen Folter. Diese trägt den Namen, weil die kaum äusserlich sichtbare Spuren an den Gefangenen hinterlässt. Der Angriff zielt direkt auf die Psyche der Opfer.Auch Gregor Schneider verweist mit seiner Kunst auf Methoden der Weissen Folter. Seine Installationen lösen ein befremdlich, einengendes Gefühl aus. So auch im Werk Total isolierter, toter Raum, einer schwarzen schallisolierten Kammer, in welcher der Betrachter jeden Anhaltspunkt für Orientierung verliert. Julian Heynen beschreibt es als einen „Nicht-Ort, der nicht als Gegenüber oder als Ausweitung eines menschlichen Körpers auftritt, sondern alles auf die referenzlose Selbstwahrnehmung zurückwirft.“In einer Umgebung ohne sinnliche Reize bleibt unserer Wahrnehmung einzig die Erinnerung an das bereits Erlebte. Denn was kann im Nichts sonst noch wahrgenommen werden? In Abwesenheit einer spürbaren Umwelt beginnen wir die fehlende Realität selbst zu generieren, was eine Desorientierung und Destabilisierung unserer Psyche zur Folge hat. So kann das Innen ohne ständigen Bezug zum Aussen nicht stabil bleiben. Wir werden von unserem inexistenten Gegenüber zurück ins Nichts verschluckt. Wenn der Raum in dem wir uns befinden zu verschwinden droht und nichts von unseren Sinnen mehr wahrgenommen werden kann, löst sich unser Selbst auf. Es ist grundlegend für den Menschen seine Umwelt mit seinem Körper erfassen zu können, deshalb ist die Leere eine wesentliche Bedrohung. Da er sich erst durch sein sinnliches Erleben in der Welt definiert, verkümmert er eingesperrt und beraubt von dieser Erfahrung.
Text Patricia Schneider
Pedro Reyes: Imagine
Text Patricia Schneider
Pedro Reyes: Imagine
Der mexikanische Künstler Pedro Reyes, der sich selber als «Hardcore-Pazifisten» bezeichnet, beschäftigt sich immer wieder mit Waffen. Im Jahr 2008 hat er im Projekt «Palas por Pistolas» 1527 Waffen eingeschmolzen und daraus Schaufeln gegossen, um 1527 Bäume zu pflanzen. Das Prinzip des Schweizer Sackmessers hat er 2013 in «Navajas Suizas» übernommen, aber statt der Messer Gebrauchsgegenstände eingefügt.
Im Projekt «Desarm» hat er 2012 aus konfiszierten Waffen funktionstüchtige Instrumente gebaut und damit 2012 die Performance «Imagine» realisiert. Die Waffen stammen mehrheitlich aus Ciudad Júarez, einer mexikanische Stadt an der Grenze zu den USA, welche trotz strenger Waffengesetze eine der höchsten Mordraten der Welt hat. Grund dafür ist der Drogenkrieg, der bereits mehr als 50000 Menschen das Leben gekostet hat. Bei einer grossen Vernichtungsaktion hat die Regierung Pedro Reyes angefragt, ob er an den Überresten der Waffen interessiert sei. Daraus entstanden sind schliesslich 50 Musikinstrumente, die den ehemaligen Waffen erstaunliche Klänge entlocken.
Weiterführende Links: www.pedroreyes.netwww.spiegel.dewww.blog.zeit.de
Text Stefan Sulzer
Irgendwie da, irgendwie nicht
Text Stefan Sulzer
Irgendwie da, irgendwie nicht
Stillstand mag ein kontradiktorischer Wunsch des Zeitgeistes sein. Ein hipper Lebensentwurf entgegen aller Hektik und Flüchtigkeit unserer Gesellschaft. Die Suche nach Entschleunigung eines sich immer schneller drehenden Rades der Zeit. Allerdings gibt es ihn, den Stillstand, auch unfreiwillig., ungefragt und ungesucht; fernab jeglicher delikat riechenden Wohlfühloasen und managerbeheimatenden Alphotels. Hier geht es vielmehr um ein suspendiert sein vom Leben, ein purgatorium-ähnliches Schweben zwischen Leben und Tod. Ein gefangen sein im eigenen Körper, physisch zwar am Leben, aber ohne jegliches Bewusstsein. Als Wesen ohne Charakter, Leidenschaft oder Charme. Als im vegetativen Stadium erstarrte Hülle.
Die verschiedenen Ausprägungen zerebraler Störungen oder Schädigungen, welche ein Koma nach sich ziehen können, sind vielfältig und für Aussenstehende oft nur eine abscheuliche und grauenhafte Ahnung. Als Jean-Dominque Bauby, seines Zeichens Chefredaktor des französischen Magazins Elle, Ende 1995 einen ihn ins Koma befördernden Schlaganfall erlitt, erwachte er einige Wochen später zwar wieder aus selbigem, allerdings mit der seltenen Diagnose des sogenannten Locked-in Syndroms. Im Gegensatz zu einem Koma, bei welchem mit hochspezialisierten medizinischen Gerätschaften nach messbaren Strömungen einer kognitiven Leistung als letzten Beweises des Bewusstseins gesucht wird, ist sich eine Locked-in Syndrom betroffene Person bewusst, was um sie passiert. Die Möglichkeit mit der Umwelt zu kommunizieren ist aber, wenn überhaupt vorhanden, enorm eingeschränkt. In Baubys Fall soll es ihm gelungen sein, sich mit seiner Betreuerin mit Hilfe von Blinzeln zu verständigen (er hat ihr so das gesamte Buch Le scaphandre et le papillion diktiert haben. Buchstabe für Buchstabe. Er verstarb tragischerweise drei Tage nach dessen Publikation. Der Amerikanische Künstler Julian Schnabel verfilmte es unter dem selben Titel mit Mathieu Amalric. Trailer zu dem in Cannes prämierten Film: https://www.youtube.com/watch?v=G69Zh7YIg8c). Andere Betroffene des Locked-in Syndroms können lediglich vertikale Augenbewegungen machen (die Steuerung der vertikalen Blickbewegung liegt an einem anderen Punkt des Gehirns als die horizontale).
Der komplette Verlust des Bewusstsein wie auch der Möglichkeit, zu kommunizieren, führt des Weiteren zu der entscheidenden Frage nach dem Sinn oder Unsinn von lebenserhaltenden Maßnahmen, sowie der Frage: wer, sollte der Wille des betroffenen Patienten diesbezüglich nicht bekannt sein, die Macht und Verantwortung dieser Entscheidung zu tragen hat. Einer der bekanntesten Fälle, welcher in seinem Endstadium sogar den Washingtoner Capitol Hill beschäftigte, ist der von Terri Schiavo. Terri Schiavo war eine junge Frau, über deren Schicksal sich ihr Ehemann und ihre Eltern durch alle Instanzen des Amerikanischen Justizsystems hindurch stritten. Der ärztlichen Expertise Glauben schenkend, dass der vegetative Zustand Terris Schiavos keine Heilung erfahren kann und wissend, dass ein ebensolches Leben den Willen seiner Frau verletzen würde, entschied sich Michael Schiavo dazu, die künstliche Ernährung gegen den Willen der Familie seiner Frau an einem gewissen Punkt zu beenden. Immer betonend, dass Terri und er das so besprochen hätten und keiner von ihnen je in einem solchen Zustand ‚leben‘ wollte. Allerdings beruhte diese Abmachung auf mündlichen Aussagen, was fehlte war ein schriftliches Dokument das diese auch belegen könnte. Und so entbrannte im erz-christlichen Amerika eine unerbittliche Debatte über die Helligkeit des Lebens und die Frage wer über ebendiese Entscheidungsgewalt hätte (interessant ist wie unterschiedlich heilig ein Leben in den Augen dieser pro-life Leute sein kann. Was ist mit zur Todesstrafe verurteilten? Was mit kollateralen Opfer in Kriegen? Was mit den Opfern von Waffengewalt?). Die Familie von Terri Schiavo versuchte die Maßnahmen zu verlängern, wissend, dass eine Heilung von fast allen behandelnden Ärzten als unmöglich diagnostiziert wurde, eine Tatsache, die durch die erfolgte Obduktion auch bestätigt wurde. Die Hirnrinde und der Hirnstamm waren so stark beschädigt, dass es nicht die geringste Chance einer Genesung gegeben hätte.
Neben dem tragischen Verlust seiner Frau hatte Michael Schiavo mit protestierenden Gläubigen vor seiner Haustür zu kämpfen. Er erhielt Morddrohungen und das Entfernen der Schläuche, wurde ihm als ein verhungern lassen seiner Frau vorgeworfen. Dass es aber durchaus Fälle gibt, wo eine Verbesserung eines aussichtslosen Traumas möglich ist, zeigt die untenstehende ARTE Dokumentation. Darin ebenfalls zu sehen eine von drei spezialisierten Kliniken weltweit, die durch spezielle Versuchsanordnungen untersuchen, ob ein Patient im vegetativen Stadion gewisse kognitive Leistungen erbringt welche sich in Magnetresonanztomographen visualisieren lassen.
Der einzig positive Effekt, den der Terri Schiavos Fall auf die amerikanische Gesellschaft hatte, war das Bewusstsein, dass wer eine klare Meinung darüber hat, was mit ihm oder ihr in solch einem Fall geschehen soll, die Verantwortung hat, das zu einem Zeitpunkt zu bestimmen, der eine solche Entscheidung noch zulässt. Schiavo wurde diese Entscheidung verwehrt. Gesamthaft verbrachte sie 15 lange Jahre im Wachkoma bevor sie 2005 von etwas erlöst wurde, was die Wenigsten von uns als Leben bezeichnen würden.
Weiterführende Informationen:
Arte Dokumentation über Koma-Patienten:
https://www.youtube.com/watch?v=Cc6ssYy0lKU
New York Times Dokumentation des Falles Terri Schiavo
https://www.youtube.com/watch?v=O-rQ3tIabvM
Almodovars Film Hable con ella:
https://www.youtube.com/watch?v=7fl8tyEIXXI
Recherche Ivan Weiss
Waffen aus dem 3D-Drucker
Recherche Ivan Weiss
Waffen aus dem 3D-Drucker
3. Mai 2013
Im Mai 2013 gelang es dem Amerikaner Cody Wilson nach acht Monaten eine vollständige und funktionsfähige Waffe mithilfe eines 3D-Druckers zu erzeugen. Eine Faustfeuerwaffe aus 16 3D-gedruckten ABS Teilen, erstellt auf einem Dimension SST 3D-Printer. Cody Wilson, Gründer der Non-Profit Organisation Defense Distributed, präsentierte die Kunststoffwaffe Andy Greenberg vom Forbes Magazin.
«The Liberator» – wie er die Waffe taufte – besteht bis auf einen Nagel der als Abzug dient, komplett aus Kunststoff. Ein Faktum, dass bereits zu heftigen Kontroversen führte, da eine solche Waffe von gängigen Metalldetektoren nicht erkannt wird. Um rechtlich den «Undetectable Firearms Act» zu umgehen, wurden bei dem gezeigten Prototypen funktionslose Metallteile implementiert.
Ein Test der Waffe steht noch aus und die Baupläne wurden noch nicht veröffentlicht. Dennoch soll es möglich sein mit dieser Waffe handelsübliche Munition abzufeuern.
Nur wenige Stunden später, reagierte U.S. Congressman Steve Israel mit einer Aufforderung, das Waffenverbotsgesetz auch auf Kunststoffwaffen auszudehnen.
6. Mai 2013
Defense Distributed veröffentlicht am 6. Mai die Baupläne der Open Source Waffe «The Liberator», zusammen mit Videos der ersten Tests. Die Waffe aus dem 3D-Drucker wurde auf einem etwa 6100€ teuren Stratasys 3D-Drucker erstellt, der über Ebay angeschafft worden ist. Davor hatte Stratasys der Organisation die Verwendung seiner 3D-Drucker für die Herstellung von Waffen untersagt.
8. Mai 2013
Die Pläne des «Liberators» wurden weltweit bereits mehr als 100’000 mal herunter geladen. Die meisten Downloads stammen aus der USA gefolgt von Spanien, Brasilien, Deutschland und Großbritannien.
10. Mai 2013
Mehrere Experten warnen potentielle Interessenten vor der Produktion des «Liberators». Kleine Unterschiede in der Materialbeschaffenheit und oder des verwendeten 3D-Druckers können das Leben und die Gesundheit des Anwenders gefährden.
10. Mai 2013
Das State Department der USA geht nun erstmals konkret gegen Defense Distributed vor. Die «Defense Trade Controls Compliance» (DTCC) des Departments, fordertet die Plattform DEFCAD auf, Baupläne von «The Liberator» zusammen mit den Plänen von neun anderen Waffenteilen von der Plattform zu entfernen.
11. Mai 2013
Unterdessen bekräftigten die englischen Reporter Simon Murphy und Russell Myers von «The Mail» die tatsächliche Gefahr dieser Waffe. Sie druckten sich einen «Liberator» aus und schmuggelten ihn erfolgreich an Bord einer Eurostar-Verbindung von London nach Paris. Sie teilten dazu die Waffe in drei Teile und schmuggelten sie durch die flughafenähnliche Sicherheitskontrolle. An Bord des Zuges konnten sie die Waffe erfolgreich zusammensetzen.
13. Mai 2013
Nach der Entfernung der «Liberator»-Baupläne von DEFCAD erschienen die Pläne auch auf anderen Tauschplattformen. Kim Dotcom, Gründer von MEGA, liess nun die Baupläne ebenfalls von seiner Plattform löschen. In einem Statement gegenüber engadget meldet er: «Ich denke es ist eine ernsthafte Gefahr für die Sicherheit der Community. Ich denke es ist angsteinflössend, wenn Leute 3D Pistolen drucken können, die nicht mal von Metaldetektoren erfasst werden. Das sollte uns alle betreffen.»
16. Mai 2013
Das finnische Medienunternehmen Yle hat zusammen mit der Aalto University in Espoo einen «Liberator» gedruckt und getestet. Nach nur einem Schuss brach der Lauf der Pistole und die Waffe war unbrauchbar. Die finnische Polizei, die vorab von den Test informiert wurde, zeigte sich trotzdem schockiert.
«Legislators should be concerned now (…) Producing these weappons should not be allowed under any circumstances.» so Inspector Ossi Kujanpää von der Tampere Police.
3. Juni 2013
mashable.com veröffentlicht eine Video-Dokumentation über den «Liberator»: «3D-printing has the potential to change the way we manufacture objects, including firearms. We follow gun designer Cody Wilson and 3D-printing enthusiast Travis Lerol as he tests the Liberator, the world’s first downloadable gun. What does 3D-printing mean for the legality, philosophy, and future of gun control? Is it really as easy as click, print, shoot?»
5. Juli 2013
Um die Gefährlichkeit von Kunststoffwaffen zu demonstrieren druckten Journalisten in Israel ein Modell des «Liberators» mit einem 3D-Drucker und schmuggelten diese erfolgreich in das streng bewachte Parlament in Israel.
26. Oktober 2013
An Schweizer Flughäfen wurden die Sicherheitsbestimmungen in Hinblick auf 3D-Waffen verschärft. Die Behörden schulen das Sicherheitspersonal in Zürich, Genf und weiteren Flughäfen auf die neue Bedrohung. Dabei lernen die Sicherheitskräfte die aussergewöhnliche Form der Waffe kennen. Der Lauf und Abzug gleichen mehr einem Stück Seife als einer Pistole. Weil sich die Waffe auseinanderschrauben lässt, müssen die Kontrolleure auch deren Einzelteile erkennen können. Das gilt sowohl für das Personal neben den Metalldetektoren als auch für die Leute, die das Gepäck per Röntgengerät durchleuchten.
19. November 2013
Das amerikanische «Bureau of Alcohol, Tobacco, Firearms, and Explosives» (ATF) veröffentlichte eigene Videotests einer gedruckten «Liberator»-Pistole aus VisiJet-Material und ABS. Besonders beim verwendeten VisiJet-Material wird die Gefahr für Anwender deutlich.
8. September 2014
In Kooperation mit dem Bayrischen Rundfunk testest chip.de, ob es möglich ist, mit einem privat erschwinglichen 3D-Drucker eine funktionierende Schusswaffe herzustellen. Weil das in Deutschland nur mit einer Waffenherstellungserlaubnis gestattet ist, stellt CHIP-Redakteur Martin Jäger seinen «Ultimaker» beim örtlichen Büchsenmacher auf und druckt unter dessen Blick die Teile des Liberators.
Der Test mit einer scharfen Patrone, Kaliber 9mm Browning Spezial, im Münchner Beschussamt verlief im Ergebnis relativ unspektakulär. Zunächst wird die Plastikwaffe in eine massive Abschussvorrichtung eingeklemmt, geladen, gespannt und pneumatisch zischend in die Abschusskammer geschoben; doch dann macht es nur Plopp, der Lauf zerstäubt in alle Richtungen und das Projektil landet keinen halben Meter entfernt unbeschädigt auf dem Boden.
15. November 2013
Die US-Firma Solid Concepts hat nach eigenen Angaben erstmals eine Pistole aus Metall mit einem 3D-Drucker hergestellt. Das kalifornische Unternehmen veröffentlichte ein Video, auf dem ein nachgebauter Colt der Traditionsmarke 1911 abgefeuert wird. Die Pistole ist demnach so präzise, dass sie auf eine Distanz von 25 Metern ins Schwarze treffen kann.
22. Oktober 2014
Die Herstellung von zwei Schusswaffen mit einem 3D-Drucker und ein davon gedrehtes Video bringen einen Japaner für zwei Jahre hinter Gitter. Yoshitomo Imura wurde zu der Gefängnisstrafe verurteilt, weil er «schwere kriminelle Verantwortung» für seine Tat trage, wie das Bezirksgericht in Yokohama mitteilte. Der frühere Universitätsmitarbeiter hatte sich die Anleitung zum Waffenbau demnach aus dem Internet besorgt. Sein Video über sein Vorgehen könne Nachahmer anstiften, lautete die Begründung für das harte Urteil.
Quellen:
http://www.vice.com/
http://www.dailymail.co.uk
http://www.yle.fi
http://www.mashable.com
http://www.design-engineering.com
http://www.schweizamsonntag.ch
http://www.chip.de
http://www.welt.de
http://www.n-tv.de
Text Natalie Avanzino, NZZ
Es braucht wieder Schub in der Frauenfrage
Text Natalie Avanzino, NZZ
Es braucht wieder Schub in der Frauenfrage
Zita Küng – eine streitbare Feministin gibt nicht auf
Seit 40 Jahren ist die feministische Stimme von Zita Küng zu hören. Die Zürcher Juristin ist als politische Gender-Aktivistin, ehemalige Leiterin des städtischen Gleichstellungsbüros und Coach für Grossfirmen und Führungsfrauen bekannt.
Feminismus sei eine Frage der Intelligenz, sagt Zita Küng gleich zu Beginn unseres Gesprächs in ihrem Büro E-Quality im Zürcher Kreis 4. Seit fünfzehn Jahren berät sie Verwaltungen, Grossfirmen und Nonprofitorganisationen in Geschlechterfragen. Regelmässig coacht sie auch Frauen in Führungspositionen im 1:1-Rahmen. «Feministische Reflexion kann man nicht verordnen. Um Dinge zu erkennen und richtig einzuordnen, benötigt es nun mal Intelligenz», ergänzt die 60-jährige Juristin provokativ.
«Guter Hairspray» nötig
Bei vielen anderen Themen, die gesamtgesellschaftlich von Relevanz seien – etwa Umwelt- oder Bildungsfragen oder das Gesundheitswesen – suchten Männer und Frauen gemeinsam nach Lösungen. «Nur wenn es um die Geschlechterfrage geht, sind die Männer zurückhaltend», sagt sie. Es sei ein Malaise, dass man so viele Jahre über die Gleichstellung der Frau reden müsse. Heute werde man als bekennende Feministin gar schon kritisch beäugt. «Es braucht dringend wieder Schub in der Frauenfrage», davon ist die Gender-Expertin überzeugt.
Sinnvoll sei sicher eine Frauenquote, hinter diesem Konzept stehe sie. «Anders hat es bisher ja nicht funktioniert», sagt sie mit hochgezogenen Augenbrauen. Die Kultur, die immer noch herrsche, sei nicht tauglich für «Bossinnen». Denn die Männer mit ihren ausgezeichneten Netzwerken hätten wenig Interesse, etwas von ihrer Macht abzugeben. Und nur zu häufig würden erfolgreiche Frauen, die sich einen Führungsjob erarbeitet hätten, wieder abgesetzt. Eine gewisse Position zu erreichen, sei das eine, diese auch halten zu können, nochmals etwas anderes. «Da braucht es einen guten Haarspray», sagte sie kürzlich am Kongress «Frauen für Führungspositionen» an der Zürcher Hochschule der Künste. Damit meint sie die stürmischen Winde, die Führungsfrauen auf dem Zenit ihrer Karriere entgegenwehen. Bestes Beispiel sind die Vorstandsfrauen verschiedener Grosskonzerne in Deutschland wie Siemens, Telekom oder E.On, die alle nach kurzer Zeit wieder weg waren.
Aber nicht nur Frauen in der Führungsetage seien auf Unterstützung angewiesen. Gerade auch am unteren Ende der Einkommensskala brauche es neue gesellschaftliche Ansätze, so Küng. Es könne doch nicht sein, dass alleinerziehende Mütter in prekäre Lebensverhältnisse abrutschten. Gleiche Löhne für alle sei dabei ein wichtiges Stichwort, sagt sie mit Nachdruck. Grundsätzlich müssen ihres Erachtens die Rahmenbedingungen für betreuende und erwerbstätige Mütter und Väter angepasst werden. Bezahlbare Betreuungseinrichtungen für Kinder sind für sie ein Muss. Frauen müssten auch als Mütter wirtschaftlich selbständig bleiben können. «Doch das System stützt den Rückzug der Frauen aus dem Erwerbsleben, sobald Kinder da sind», kritisiert sie.
Aufgewachsen in Zürich Seebach, interessierte sich Küng bereits während ihrer Erstausbildung zur Primarlehrerin für die Frauenbewegung. «In den 1970er Jahren diskutierten wir nächtelang die Gender-Revolution», erinnert sie sich. Küng war in verschiedenen politischen Gruppen aktiv, und schon bald kannte man «die Küng». «Der Ruf ist mir bis heute geblieben», betont sie lachend.
Unter dem damaligen Erziehungsdirektor Alfred Gilgen seien «Linke im Zürcher Schulwesen nicht geduldet» worden, sagt Küng. Das sei zwar einschneidend gewesen, doch aufgrund ihrer Vielseitigkeit wich die musisch veranlagte junge Frau auf ein Gesangsstudium am Konservatorium aus und unterrichtete anschliessend mehrere Jahre Musik. «Aber die Frauenfrage blieb mir immer ein wichtiges Anliegen, gerade die rechtlichen Aspekte interessierten mich zunehmend», berichtet sie. Deshalb begann sie mit 29 Jahren an der Universität Zürich Jura zu studieren. Nach Abschluss des Studiums arbeitete sie am Gericht und dachte, sie würde dereinst Anwältin werden.
Privilegien neu verteilen
Doch dann kam es zur Gründung des Gleichstellungsbüro der Stadt Zürich: Zwei Drittel der Zürcher Bevölkerung hatten in einer Volksabstimmung Ja gesagt zum städtischen Auftrag. Küng baute 1990 gemeinsam mit Linda Mantovani Vögeli die Fachstelle auf und leitete sie bis 1996. «Wir spürten einen starken politischen Rückenwind», erzählt sie rückblickend. «Es war unsere Aufgabe, zu bewegen.» Heute herrsche ein anderer Zeitgeist, Gender-Aspekte müssten teilweise sehr diplomatisch vorgetragen werden. «Aber es werden sich bestimmt wieder Frauen bewegen. Wie, wo und mit welchen Themen – darauf dürfen wir gespannt sein.»
Der grassierende Fachkräftemangel und die zu erwartenden Schwierigkeiten mit der demografischen Entwicklung seien stark mit der Frauenfrage verknüpft. Küng hofft, dass das Thema aus diesen Blickwinkeln neu angegangen wird. Viele Ansätze seien zu sehr in der Vergangenheit verhaftet, sagt die Gender-Expertin, und sie betont: «Es ist an der Zeit, die alten Privilegien der Männer anzugehen. Es führt kein Weg daran vorbei.»
Beim Abschied schiebt sie der Journalistin eine Visitenkarte mit der Aufschrift «Selber denken macht schön» zu. Wenn das keine Aufforderung zum internationalen Frauentag ist.
Recherche Hin Van Tran
Bartleby, the Scrivener
Recherche Hin Van Tran
Bartleby, the Scrivener
Herman Melvilles Erzählung «Bartleby the Scrivener» führt viele interessante Charaktere mit vielen verschiedenen Persönlichkeiten zu uns. Es ist das erste Werk, das Melville nach «Moby Dick» schrieb, und wurde 1853 in Putnam’s Monthly Magazine veröffentlicht. Viele Kritiker sehen in ihr Melvilles beste Erzählung. Sie weist aber auch auf das 20. Jahrhundert, vor allem auf Kafka, voraus. Selbst Hannah Arendt bezieht sich in ihrem Werk «Die Banalität des Bösen» über den Eichmann Prozess auf Melvilles Charakter «Bartleby».Von Ginger Nut, Turkey und Nippers, und der ältere Rechtsanwalt an der Wall Street, der die Geschichte erzählt, ist der geheimnisvollste jedoch Bartleby. Bartleby ist ein Schreiber, der, in einfachen Worten, eine menschliche Version eines modernen Kopierers ist. Er ist ein Mann weniger Worte. In der Tat ist er ein Mann von einem Satz: «Ich würde es vorziehen, nicht zu tun./ I would prefer not to.» Er sagt dies als Reaktion auf alles, was von ihm verlangt wird ausser dem Dokumente zu kopieren. Wie sich diese Arbeitsverweigerung auswirkt, die aber nicht vehement mit «I will not» ausgesprochen wird; sie wird auch nicht begründet, endet schliesslich tragisch.Bartleby ist einer der schweigsamsten Titelhelden der Weltliteratur. Keiner im Büro, auch nicht der Erzähler selbst, obwohl er sich bemüht, versteht die Weigerungshaltung Bartlebys. Die Verhältnisse unter den Arbeitern und erst recht zwischen den Reichen und Lohnabhängigen erlauben kein gegenseitiges Verständnis. Dabei ist Bartleby fast ein Vorzeigearbeitnehmer. Er arbeitet ständig; er lebt am Arbeitsplatz; er hat anscheinend keine Wohnung, sondern verbringt seine Zeit, sich auch dem Konsum und Abwechslungen der Grossstadt verweigernd, im Büro.Bartleby entzieht sich eindeutiger und einfacher Interpretation. Die Gründe für Bartlebys Weigerung nennt weder er noch der Erzähler, noch der Autor. Die Unabhängigkeit von der Autorität braucht keine Begründung. Bartleby behält seine Handlungsfreiheit um jeden Preis. Er verweigert sich zunächst dem Korrekturlesen, dann weiteren Aufgaben; er verweigert «normale» Sozialisation. Er weigert sich seinen eigenen Job aufzugeben: er bleibt und die Anwaltskanzlei zieht aus. Es gipfelt in der Verweigerung der Nahrungsaufnahme, was schliesslich zur Lebensverweigerung und zum Tode führt.Bartleby gibt ein frühes Beispiel für passiven Widerstand im Sinne Mahatma Gandhis. Dessen Taktik gegenüber den Briten beruhte auf »Asahayoga« (»Nichtbeteiligung«, »Non-Cooperation«). Bartleby spricht, wenn überhaupt, nur nach Aufforderung. Und wenn er antwortet, dann kurz mit «No» oder «I prefer not to». Dabei ist nichts so provozierend wie passiver Widerstand. Notar: «Nothing so aggravates an earnest person as a passive resistance». Der Notar fühlt sich dadurch «disarmed» und sogar kastriert: «Indeed, it was his wonderful mildness chiefly, which not only disarmed me, but unmanned me, as it were.»
Die Absage an die damalige Wohlstandsgesellschaft betrifft das Dogma, man muss soviel arbeiten, damit man sich alles, was die Gesellschaft suggeriert, leisten kann. Man muss angebotene Chancen wahrnehmen. Wer es heutzutage nicht tut und trotz Befähigung auf etwas bewusst verzichtet, aus welchen Gründen auch immer, wird schief angeschaut. So zumindest Bartleby. Oder man kann es vielleicht auch einfach nach Epigramm von Siegfried Mrotzek aus Fischerhude 1979 sagen: «Wer nichts mit sich machen lässt, hat schon viel aus sich gemacht.»