Ausgabe ##14
November 2017

Schnittmuster

Schnittmuster

210

Interview
Patricia Schneider

Was ist ein guter Schnitt?

Sehr oft taucht der Begriff des Schneidens bei gestalterischen Tätigkeiten auf, auch wenn die Schneidwerkzeuge in einigen Bereichen längst durch digitale Instrumente ersetzt worden sind.

FB

Schneiden ist eine ganz alltägliche Technik. Wir schneiden das Gemüse in mundgerechte Stücke, öffnen Verpackungen mit Messer oder Schere und lassen uns gelegentlich einen neuen Haarschnitt verpassen. Sehr oft taucht der Begriff des Schneidens bei gestalterischen Tätigkeiten auf, auch wenn die Schneidwerkzeuge in einigen Bereichen längst durch digitale Instrumente ersetzt worden sind.
Um herauszufinden welche Bedeutung die Praxis des Schneidens im gestalterischen Prozess hat, habe ich sechs Leute befragt, die sich in ihrer gestalterisch/künstlerischen Arbeit mit einer Schneidetechnik beschäftigen.

Ursula Jakob ist freischaffende Künstlerin und Leiterin des Druckateliers an der Hochschule der Künste Bern. Als Dozentin unterrichtet sie die Module Tiefdruck, Hochdruck und «Kunstvermittlung von Kunst aus». https://ursulajakob.ch/

Mika Mischler ist Grafikdesigner und arbeitet als Typograf in einer Kooperation mit Nik Thoenen unter dem Schriftenlabel Binnenland. In seiner Tätigkeit als Dozent an der HKB unterrichtet er die Module Grafische  Gestaltung Advanced, Publizieren im Kontext und Typoclub.

Isabelle Favez arbeitet als Filmemacherin im Auftrag von Kunden und Agenturen, und als freischaffende Regisseurin wurde sie schon mehrfach für ihre Animationsfilme ausgezeichnet. Sie hat zudem in verschiedenen Jurys mitgewirkt und als Gastdozentin an verschiedenen Hochschulen im In- und Ausland gearbeitet. http://www.isabellefavez.com

Yvonne Siegenthaler hat in Basel Mode-Design studiert und ist an der HKB in Bern im letzten Jahr der Ausbildung Master Art Education. Sie hat bei dem Label «undsie» gearbeitet.

Markus Fehlmann ist Musiker bei Züri West und hat bei zahlreichen Musik- und Filmproduktionen mitgearbeitet. An der Hochschule der Künste Bern ist er im Media Lab der Experte für Audioproduktionen.

Ausgewählte Antworten zu meinem Fragenkatalog werden nachfolgend im Wechsel zusammengestellt und mit Farbcode den verschiedenen Experten und Expertinnen zugeordnet:

Welche Werkzeuge benutzen Sie zum Schneiden?
Während in der Audio- und Videoproduktion statt Rasierklingen längst Computerprogramme wie Adobe Premiere oder Avid Pro Tools zum Schneiden genutzt werden, sind beim Hochdruck mit Hohleisen, Gaissfuss und Linienmesser nach wie vor die traditionellen Werkzeuge im Einsatz. Dennoch werden aber auch im ältesten Druckverfahren inzwischen CNC-Fräse und Lasertechnologie als zusätzliche Werkzeuge genutzt. Gemäss Mika Mischler ist der Begriff des Schneidens in der Schriftgestaltung kein physikalischer Vorgang mehr, sondern bezieht sich auf einen historischen Prozess, der nun in ein neues Medium überführt wurde. Was bleibt ist die Terminologie. Vieles entsteht heute am Computer, aber manchmal auch mit Bleistift oder schwarzer und weisser Farbe.

Ist ihre Arbeitstechnik ein langsamer oder ein schneller Prozess?
Beim Zuschneiden von Stoffen und bei der Arbeit an der Linol-, Holz- oder Kunststoffplatte bieten die Materialien mehr oder weniger Widerstand und bestimmen so das Arbeitstempo. Yvonne Siegentaler bemerkt dabei, dass der Akt des Schneidens eigentlich relativ schnell gehe, aber der Prozess trotzdem sehr aufwändig sei, weil es eine besonders sorgfältige Vorbereitung bedingt. Beim Hochdruck übertragen viele Künstler ihre Vorlagen auch auf die Druckplatten, bevor sie mit dem Schneiden beginnen, allerdings ist danach jeder Schnitt ein unwiderruflicher Gestaltungsakt, der sehr langsam vor sich geht, wie Ursula Jakob betont. Auch beim Animationsfilm ist der Schnitt ein wichtiger Bestandteil des Prozesses und nicht wie man meinen könnte ein Arbeitsschritt, der erst am Schluss der ganzen Produktionszeit ansteht. Das Erstellen eines Schriftzeichens ist hingegen nicht zwingend ein langsamer Prozess. Dies kann auch sehr expressiv im Moment entstehen, aber die Verfeinerung der Form und die Überprüfung dieser gefundenen Formgebung auf ihre Funktion im Zeichenverbund ist eher ein langwieriger Prozess.

Gibt es eine bevorzugte Vorgehensweise bei Ihrem Arbeitsprozess?
Wir (Binnenland) bevorzugen das Ping und Pong. Der Ball geht mal hin mal her. So entsteht immer wieder eine Distanz, man ist für kurze Zeit nicht selbst am Schlagen des Balls, sondern am Betrachten wie er fliegt. Somit gewinnt man Distanz zu den Dingen und kann besser eine Aussensicht auf das Entstandene einnehmen. Das hilft die Prozesse zu verkürzen und macht auch mehr Spass. Der Arbeitsprozess bei Isabelle Favez folgt dagegen einem klaren Ablauf: Nach dem Entwickeln des Drehbuchs/Storyboards wird das Animatic geschnitten (Animatic, Storyboardbilder in einer Timline). Nach den Stimmaufnahmen muss das Timing angepasst werden. Danach folgt das Blocking der Animation (= bei jeder Einstellung werden nur ein paar Posen gezeichnet) und nachdem die Animation fertiggestellt ist, folgt der Feinschnitt mit Musik. Beim Hochdruck kann der Prozess sehr unterschiedlich sein. Die Künstlerin Christane Baumgartner geht beispielsweise von Videostills aus und überträgt das gerasterte Motiv in akribischer Arbeit auf den Druckstock, bevor sie zu schneiden beginnt. Roman Signer dagegen hat mit der Pistole auf seine Druckplatte geschossen und sie anschliessend gedruckt. Bei dieser Vorgehensweise ist die Bearbeitung des Druckstocks folglich das Resultat einer Aktion.

Wann kann man von einem technisch guten Schnitt reden? Woran erkennt man einen guten/schlechten Schnitt? Ist das eine technische oder eine inhaltliche Frage?
Ein technisch guter Schnitt lässt sich nur am Modell, also wenn das Kleidungsstück bereits genäht ist, feststellen. Daher werden die Teile manchmal auch viele Male in „Moulure“ (Einfacher Stoff um Prototypen zu nähen) gefertigt, bevor sie im endgültigen Stoff umgesetzt werden. Ich würde aber auch behaupten, dass es eine inhaltliche Frage sein kann, besonders dann, wenn der Arbeit ein schnitttechnisches Konzept zugrunde liegt. Aber diese beiden Ebenen sind nicht unbedingt trennbar, vielmehr sehe ich eine gegenseitige Abhängigkeit. Ein guter Schnitt ist sowohl technisch wie inhaltlich eine Herausforderung, technisch wegen des Widerstands des zu bearbeitenden Materials, inhaltlich aber eigentlich fast noch mehr, da der Hochdruck ein relativ „grobes“ Medium ist und ziemlich radikale gestalterische Entscheidungen erfordert, was die Reduktion der Formen angeht. Dies vor allem, wenn man figürlich arbeitet: Was schneide ich weg, wieviel lasse ich stehen? Was weg ist, kann ich nachher nicht mehr hinzufügen. Es gibt schon deutliche Unterschiede wie eine Schrift geschnitten ist, wie die jeweiligen Rundungen und Kurven gezogen sind, wie die Anschlüsse gesetzt sind, um eine Bewegung fliessend zu halten. Ein guter Schnitt sitzt präzise und definiert so zwei Teile einer Fläche. Er ist optimal formschön und visualisiert die inhaltliche Auseinandersetzung und Intention in der Formensprache eines Buchstaben. Er ist die unsichtbare Trennung von Buchstaben und Buchstabenaussenform. Für mich ist ein guter Schnitt, wenn ich ihn nicht sehe oder spüre. Es ist das Gefühl für ein gutes Timing. Einen technisch guten Schnitt in der Tongestaltung im Film oder bei der Musikproduktion nehmen wir nicht wahr, sagt Markus Fehlmann. Wird er aber als Stilmittel z.B. in der elektronischen Musik eingesetzt, wird der Schnitt hörbar gemacht und damit zum Klangelement. Es gibt zahlreiche Varianten von Schnitten in der Tongestaltung – hart, weich, fliessend, mit verschiedensten Blenden – eingesetzt werden sie je nach Situation, inhaltlicher Aussage und persönlichem Geschmack.

Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit der Schnitt auch inhaltlich und formal überzeugt?
Der Schnitt müsste die Kriterien erfüllen, die dem Konzept zugrunde liegen, und einer Überprüfung am Modell standhalten. Das heisst, er müsste auf eine Person oder ein Personenbild zugeschnitten sein. Für mich ist es eine Bedingung, dass ich meine Filme nicht selber schneide, sondern jemanden mit einem neuen, erfahrenen Blick beauftrage. Da ich Animationsfilme realisiere, ist für mich wichtig, dass die Cutterin aus dem Realfilm kommt. Das Klangmaterial, das beim Schneiden neu zusammengefügt wird, muss dabei zusammenpassen.

Ist das Schneiden eine radikale Technik?
Ja sicher, weil der Schnitt im Medium Hochdruck unumkehrbar ist. Im analogen Zeitalter, als die Tonbänder noch mit Rasierklingen geschnitten und mit Klebebändern wieder zusammengefügt wurden, war die Technik radikaler, weil Fehler schwierig zu korrigieren waren. Mit den heutigen digitalen Werkzeugen und mehrstufigen Korrekturprozessen hat der Akt des Schneidens an Radikalität verloren. Wenn das Schneiden im Entwurfsprozess eingesetzt wird (z.B. an den Prototypen) würde ich es definitiv als eine radikale Technik bezeichnen. Im Unterschied dazu ist es bei einem Originalteil wohl eher das Gegenteil von radikal, da es sehr genau geplant und sorgfältig durchgeführt wird – in der Regel jedenfalls ;-).

Schneiden heisst immer auch etwas zerstören. Erfordert dieser Akt eine gewisse Überwindung?
Nicht wenn der Schnitt ein Ziel verfolgt. Dann ist er ja nicht bloss Zerstörung sondern schafft mit der Intention des Schneidenden etwas Neues. Wenn ich ein schwarzes Papier zerschneide, um einen Buchstaben zu erschaffen, zerstöre ich ja nicht bloss das Papier, sondern schaffe ein aus schwarzem Papier geschnittenes Schriftzeichen, welches vorher nicht da, nicht sichtbar war. Es ist also ein kreativer Prozess, ein sichtbar machen. Schneiden ist für mich kein Zerstören, sondern ein Erschaffen. Etwas übertrieben gesagt entstehen meine Filme beim Schneiden. Eine Idee, die auf dem Papier toll war, kann am Schluss beim Schnitt wieder wegfallen, weil sie im Film nicht funktioniert. Wiederum kann der Schnitt ein Problem in der Narration lösen. Meistens ist das eine Schnittidee, die erst beim Schneiden kommt, und nicht beim Storyboard zeichnen. Oft braucht es den Schnitt, um zu einem besseren Resultat zu kommen. Es gibt also keinen Grund, den Schnitt nicht zu versuchen.

Kann man einen falschen/schlechten Schnitt nachträglich korrigieren?
Ich muss sagen, da bin ich froh, dass wir nicht nur über die copy-paste, sondern auch über die Funktion undo verfügen. Ich denke dies ist auch ein Grund, warum das Schneiden in unserem Bereich keine Radikalität mehr hat. Gerade darin, dass man im Hochdruck nicht korrigieren kann, liegt auch ein gewisses Potenzial. Wenn ein Fehler passiert, muss eine gestalterische Lösung gefunden werden, wie mit dieser Leerstelle umgegangen werden kann und der Fehler kann nicht einfach mit einem Klick rückgängig gemacht werden.

Was gefällt Ihnen / fasziniert Sie am Schneiden?
Die Herausforderung, einen schwierigen Schnitt unhörbar zu machen. Das Zerstören und Trennen ermöglicht Varianten, die nicht so aufgenommen wurden. Es ist irgendwie ein schwarz-weiss Denken. Es entsteht eine klare Trennung von einem Ganzen in zwei Bereiche. Dies ist in seiner Einfachheit ganz wunderbar, wo sonst doch immer alles hoch komplex ist mit all den dazwischen liegenden Grautönen.

211

Bildkolumne
Eva Allemann

Den Schnitt zur Schau stellen

Es sind Monicas, Elisas, Lords, Bersets, Baders oder Adelheids, die in Berner Schnittstuben und Haarschneidereien ihre G Vision verwirklichen und hair looks kreieren. Viel soul on für duo hairstyling. Beim Herren Coiffeur, Frisör oder im Taj Mahaar gibt es mega, xpress, bijou cuts damit die hairness stimmt. Eitelkeiten nach Muster.

FB
Love Bomb, Wax Hollandais, Vlisco
Love Bomb, Wax Hollandais, Vlisco
Le sac de Michelle Obama, Super-Wax, Vlisco
Le sac de Michelle Obama, Super-Wax, Vlisco
Le cerveau de Kofi Annan, Wax Hollandais, Vlisco
Le cerveau de Kofi Annan, Wax Hollandais, Vlisco
Mama Benz, Wax Hollandais, Vlisco
Mama Benz, Wax Hollandais, Vlisco
 Ventilateur de table, Wax Hollandais, Vlisco
Ventilateur de table, Wax Hollandais, Vlisco
212

Texte
Déborah Demierre

Tissus Wax : les motifs comme message

Si les pois, les rayures, les tartans et autres pieds-de-poule sont les motifs les plus portés en Europe, la mode africaine, connaît, elle, une plus grande variété d'imprimés. Les motifs multicolores des tissus wax sont automatiquement associés à ce continent. Pourtant, leur histoire témoigne de la globalisation, de l'impérialisme européen et des relations entre différentes cultures.

FB

Dès la fin du XVIII ème siècle, les marchands de textiles des Pays-Bas désirèrent imiter à moindre coûts les batiks d’Indonésie. Pour cela, ils développèrent un procédé mécanique afin de reproduire l’effet des motifs épargnés à la cire. Malheureusement, la couche de cire se craquelant, de fines rayures apparaissaient là où les surfaces auraient dû être épargnées. La clientèle indonésienne les jugea de moindre valeur et les refusa, mais ce produit trouva sa clientèle en Afrique. Ainsi, ces étoffes fabriquées en Europe furent exportées vers la Côte-de-l’Or (actuel Ghana).

Aujourd’hui le wax est bien implanté dans le vestiaire des pays d’Afrique de l’Ouest. Les commerçants et leurs clients baptisent ces tissus et leur attribuent des messages particuliers. Ceux-ci peuvent varier en fonction du pays dans lesquels ils sont portés.

Love Bomb, Wax Hollandais, Vlisco

Ainsi, en portant le motif « dynamite » aussi appelé « bombe d’amour », une Togolaise pourra signaler à son époux qu’elle connaît ses infidélités et que l’état de son coeur est explosif.
Quant à une femme fraîchement fiancée, son choix pourra se porter sur « enferme le dragueur », motif constitué d’un trousseau de vieilles clés au milieu duquel se trouve une clé neuve.

Le sac de Michelle Obama, Super-Wax, Vlisco

Certains tissus sont également dénommés en fonction de personnalités politiques. C’est le cas de l’imprimé « le sac de Michelle Obama » de la marque hollandaise Vlisco. Sorti en 2013, ce motif a coïncidé avec l’arrivée de l’ancienne Première Dame des États-Unis. Le sac à main qu’elle portait à sa descente de l’avion a marqué les coquettes qui l’ont associé à ce nouveau wax.

Le cerveau de Kofi Annan, Wax Hollandais, Vlisco

Kofi Annan se voit également lié à un motif représentant un bouquet d’arbres, ou suivant l’interprétation de l’image, un cerveau. Cet imprimé fut commercialisé le jour où l‘ancien Secrétaire général des Nations Unies, prononça un de ses derniers discours à l’ONU. Intitulé « le cerveau de Kofi Annan », il rend hommage à l’intelligence de l’homme politique ghanéen.

Mama Benz, Wax Hollandais, Vlisco

Comme la mode partout ailleurs, les tissus wax servent aussi à exprimer la position sociale. Les vendeuses de tissus expriment leur réussite professionnelle par l’imprimé « Mama Benz » qui met en scène sur un fond fleuri le logo de Mercedes-Benz, signe des voitures qu’elles ont pu acquérir. Il est aussi question de richesse ou plutôt de son impermanence pour le motif « riche aujourd’hui, pauvre demain », montrant des oiseaux sur un fond bleu. Ce motif a été interprété comme tel au Ghana car l’argent a des ailes et peut s’envoler.

 Ventilateur de table, Wax Hollandais, Vlisco

Actuellement, les motifs les plus vendus de la marque Vlisco représentent un ventilateur de table, des patins à roulettes, des robinets et des avions. Des motifs étonnants pour la mode européenne mais dont les histoires n’ont pas fini de se tisser en Afrique.

 

213

Bericht
Julia Kunkelmann, Frankfurter Allgemeine, 01.01.2012

Tipp
Hin Van Tran

Chalayan, Hussein

Hinter Hussein Chalayans Mode steht immer ein künstlerisch und technisch ausgefeiltes Konzept, das er umsetzen will. Dafür griff er schon immer zu ungewöhnlichen Methoden.

FB

Hussein Chalayan griff schon immer zu ungewöhnlichen Methoden: Die Entwürfe seiner Abschlusskollektion am «Central Saint Martins College» vergrub er unter der Erde und buddelte sie erst ein paar Tage vor der Präsentation wieder aus. Bei seiner Graduate-Show zeigte er dann schließlich die mit Dreck und Lehm beschmutzten, schon halb verrotteten Kleider, um den Prozess der Zersetzung deutlich zu machen und auf Themen wie Vergänglichkeit und Sterblichkeit hinzuweisen. Schon damals zeigte sich die unkonventionelle und experimentierfreudige Herangehensweise des Designers.

Chalayan wurde 1970 in Zypern in eine türkisch-zypriotische Familie geboren und zog 1982 von seiner Heimatstadt Nikosia nach London. 1993 machte er seinen Saint-Martins-Abschluss in der britischen Hauptstadt und gewann für seine vom Verfall gezeichnete Kollektion den «Absolut Design Award». Mit dem Preisgeld finanzierte er sein Debüt auf den Londoner Laufstegen. Seit 2001 veranstaltet er seine Modenschauen jedoch in Paris. Ein Jahr später brachte er seine erste Männer-Kollektion heraus, und im April 2004 eröffnete er seinen ersten Flagship Store in Tokyo.

In Kunstszene und Modebranche geschätzt

Wie eng seine Mode und Kunst miteinander verbunden sind, zeigen seine zahlreichen Ausstellungen, zum Beispiel im Londoner Victoria & Albert Museum, im Kyoto Costume Institute in Japan oder im Musée de la Mode in Paris. Seine Entwürfe werden in der Kunstszene gleichermaßen geschätzt wie in der Modebranche. Gleich zwei Jahre hintereinander, 1999 und 2000, erhielt er für seine originellen Kreationen und die Verwendung neuartiger Materialien den Titel «Designer of the Year» der British Fashion Awards.

Zu Recht, denn Chalayan gehört zu den innovativsten, höchst experimentell und konzeptionell arbeitenden Modeschöpfern unserer Zeit. Seine Designs sind inspiriert von Architektur, Philosophie und Anthropologie. Aufgrund seiner vielfältigen Interessen rieten ihm seine Professoren zeitweise sogar, das Studienfach zu wechseln. Doch er blieb bei seiner größten Leidenschaft: der Mode. Diese ist häufig kulturell und gesellschaftlich beeinflusst, was mit der persönlichen Geschichte Chalayans zusammenhängt, denn seine Identität ist von verschiedenen Kulturen geprägt.

Kleidung als Projektionsfläche für politische Aussagen

Vor allem ein Bild ist um die Welt gegangen. Mit der Szene thematisierte er die Islamisierung gleichermaßen wie den Rückgang der Bedeutung des Islams und der Verschleierung der Frauen. Auf dem Laufsteg sind mehrere Frauen zu sehen, die in einer Reihe nebeneinander stehen und die alle mit einem Tschador verhüllt sind. Während die erste jedoch noch das komplette schwarze Gewand trägt, das den ganzen Körper bedeckt, wird es bei den folgenden Frauen immer kürzer, bis die letzte schließlich vollkommen entblößt ist, bis auf das Kopftuch, das sie immer noch trägt.

 

Auch seine spektakuläre «Airplane»-Kollektion (Frühjahr/Sommer 2000) zog viel Aufmerksamkeit auf sich. Die weißen Kleider, die die Models wie einen Panzer umgaben, bestanden aus demselben Material, aus dem Flugzeuge gefertigt werden. Sie veränderten ihre Form auf Knopfdruck. So konnte zum Beispiel der hintere Teil des Rocks, ähnlich wie bei einem Flugzeugflügel, ausgeklappt werden und der darunter verborgene Tüllrock zum Vorschein kommen.

 

Mit Mode auf Missstände aufmerksam machen

Mit der Kollektion «Afterwords» (Herbst/Winter 2000/2001) erregte er ebenfalls großes Aufsehen. Er wollte damit auf die steigende Zahl der Flüchtlinge aufmerksam machen. Als Catwalk diente ein Wohnzimmer, in dem verschiedene Möbel standen. Am Ende der Show begannen die Models plötzlich die Stoffe von den Sofas abzuziehen und schlüpften hinein. Zur Verwunderung der Zuschauer entstanden vor ihren Augen aus Sofabezügen neue Kleider. Den Rest der Möbel klappten die Models zu Koffern zusammen und trugen sie davon. Zuletzt war nur noch ein runder Tisch mit einem Loch in der Mitte übrig, in das ein Model hinein stieg. Dann zog sie den Tisch wie eine Ziehharmonika nach oben, verwandelte ihn dadurch in einen Rock und ging damit vom Laufsteg.

 

Solche Kollektionen dienen dem Designer als Projektionsfläche für politische Aussagen: Indem er statische Einrichtungsgegenstände in mobile Kleidungsstücke verwandelte, thematisierte er gleichzeitig die Situation von Flüchtlingen, jederzeit zum Aufbruch bereit sein zu müssen und kein festes Zuhause zu haben.

Folklore trifft bei Chalayan auf Avantgarde

Im Jahr 2002 setzte er sich mit seiner Kollektion «Ambimorphous» mit kulturellen Veränderungen auseinander, denn die Modenschau glich einer geografischen und zeitlichen Reise von einer Kultur zur anderen. Er mischte verschiedenste kulturelle Einflüsse miteinander und setzte sich mit Identität, Geschichte und Heimat auseinander. Dabei scheute er auch nicht davor zurück, mit folkloristischen Elementen zu spielen. Zu Beginn waren die Models komplett in traditionelle Kostüme gehüllt, die sich schrittweise zu modernen schwarzen Outfits veränderten. Folklore trifft bei Chalayan also auf Avantgarde, ohne dabei widersprüchlich zu wirken.

In seiner ersten Männer-Kollektion von 2002 ging es um «die Spuren von Geschichte in einem Kleidungsstück» und die «Weiterentwicklung des Airmail-Projekts», wie der Designer selbst sagt. Das «Airmail-Projekt» von 1999 bestand aus Papier, das man beschriften, zu einem Brief zusammenfalten, verschicken und auch anziehen konnte. Die Umsetzung der Kollektion sah so aus: Chalayan verwendete unprätentiöse Schnitte, unauffällige Farben und Stoffe, die nicht wie neu gekauft, sondern eher wie angenehm eingetragen aussahen. Aus zwei Teilen konnte man, mittels Reißverschluss, eins machen und umgekehrt. Mehrere Kleidungsschichten und Stücke lagen übereinander. Eine Baumwoll-Freizeitjacke war zum Beispiel mit einem T-Shirt gefüttert, ähnlich wie ein wattierter Briefumschlag.

Hinter seiner Mode steht ein Konzept

it seiner Frühjahrskollektion 2007 rief Chalayan einen Futurismustrend hervor. Er entwarf Kleider, die ein Eigenleben zu führen schienen. Dank der Hilfe von Spezialisten, die auch das Fabelwesen Hippogriff im Film «Harry Potter und der Gefangene von Askaban» entwickelt hatten, erhielten die Kleider ein Eigenleben. So verschwand ein hauchdünnes Chiffonkleid zum Beispiel wie von Zauberhand unter dem Hut des Models. Wie eine Jalousie wurde der Stoff Stück für Stück nach oben gezogen, bis das Model nur noch mit der Kopfbedeckung bekleidet war. Ein anderes Kleid erinnerte zunächst an ein Modell aus der Zeit des Biedermeier, verwandelte sich aber kurzerhand in ein Flapperdress aus den zwanziger Jahren. Das zukunftsweisende an dieser Kollektion war der Wechsel zwischen den Dekaden durch den Wandel eines Kleidungsstückes.

Seit mehreren Saisons arbeitet Chalayan mittlerweile mit der Marke Swarovski zusammen. Unter anderem entwarf er 2008 eine Reihe von selbstleuchtenden LED-Kleidern, die international große Beachtung erfuhren. Für eine andere Installation unter dem Titel «Skin & Bones» nutzte er Laser, die je nach Anordnung von Kristallen auf dem Kleid reflektiert oder als Punkte auf den Stoff projiziert wurden. Zuerst zeigte er seine Kreationen in Tokio, anschließend wurden mehr als 200 Exponate in London ausgestellt. «Mit Lasern habe ich vorher noch nie gearbeitet», sagt Chalayan, «doch sie zeigen das Zusammenspiel zwischen dem Publikum und der von ihm inspizierten Gestalt – gleichwohl hält das Publikum das Zusammenspiel am Leben.»

 

 

All diese Beispiele zeigen, dass Chalayan ein Konzeptkünstler ist. Er kreiert nicht einfach schöne Kleidung. Hinter seiner Mode steht immer ein künstlerisch und technisch ausgefeiltes Konzept, das er umsetzen will. Auch die Inszenierungen seiner Shows bewegen sich abseits konventioneller Catwalk-Ästhetik und erinnern oft eher an Installationen oder Theaterstücke. Chalayan projiziert die Themen, mit denen er sich auseinander setzt, auf die Kleidung, die er entwirft. Wahrscheinlich ist er so gut in der Mode, weil er nach eigenen Worten an der Mode an sich nicht wirklich interessiert ist.
Seit 2008 ist Hussein Chalayan Kreativdirektor der Marke Puma. Das Unternehmen hat sich mittlerweile die Mehrheit an Chalayans Label gesichert.

 

214

Essay
Stefan Sulzer

Biedermann und Brandstifter

Niemand bewegt sich so schambefreit zwischen giftiger Hysterie und faktischer Blindheit vor der Wirklichkeit wie der amerikanische Fernsehmoderator Sean Hannity. Besessen von der Wichtig- und Richtigkeit einer Präsidentschaft Trump, verkommt seine Sendung Hannity auf Fox zum erbärmlichen Versuch, die Lügen Trumps in unverhohlener Missachtung von Fakten zu stützen. Das Portrait eines Getriebenen.

FB

Das Muster ist bekannt und mag wenig erstaunen. Ein kataklystisches Ereignis folgt dem nächsten. Es zu politisieren, wird umgehend als Beweis des pietätslosen Usurpierens gesellschaftlicher Tragödien zuhanden einer politischen Ideologie stigmatisiert. Die heuchlerische Verweigerung, Verantwortung für politische Entscheide zu übernehmen, findet sich auf beiden Seiten des politischen Spektrums und wird, frei jeglicher kritischen Selbstreflexion, im Diente des strategischen Kalküls gezielt eingesetzt. Niemand, wirklich niemand, bewegt sich allerdings so schambefreit zwischen giftiger Hysterie und faktischer Blindheit vor der Wirklichkeit wie der amerikanische Fox-Fernsehmoderator Sean Hannity. Obwohl schon längst zum Multimillionär aufgestiegen, ist Hannity immer darum bemüht, seine working class credibility und die damit einhergehende Nähe zum amerikanischem Arbeiter durch seine mehrjährige Tätigkeit auf dem Bau zu betonen (es ist nicht überliefert was genau sein Aufgabenbereich auf den Baustellen war; Überprüfen der statischen Integrität von Gerüsten, oder das Verpfeifen illegaler mexikanischer Wanderarbeiter). Er ist einer der gefährlichsten Anhänger und Säer haarsträubender Verschwörungstheorien (nicht weit hinter dem verrückten Info-Wars Zampano Alex Jones oder Rush Limbaugh) und wird gerade dafür von Millionen von Amerikanern geliebt.

Als nach dem Attentat in Las Vegas, dessen Dimensionen selbst in einem von Amokläufen gebeutelten Land wie den USA keine alltägliche Nebensächlichkeit darstellte, die unumgängliche Frage nach dem Sinn halb- oder vollautomatischer Waffen zum tausendsten Male laut wurde, sahen sich die Fragestellenden unverzüglich dem Vorwurf ausgesetzt, den Tod unschuldiger Menschen für politische Zwecke zu missbrauchen. Jetzt über die Einschränkung des gottgegebenen Rechts auf Waffengebrauch zu diskutieren sei verfrüht, zeuge vom Nichtvorhandensein etwelcher Empathie und Pietät. Dass die Geschwindigkeit, in welcher sich gerade unter Trump die Meldungen über mögliche oder tatsächliche Katastrophen verbreiten, ein späteres Zurückkommen auf die Thematik verhindert, ist kalkuliert. Wer das nicht glaubt, suche nach nur einem Monat nach dem Attentat in Las Vegas auf CBS, MSNBC, CNN, ABC oder Fox noch nach Sendungen dazu. Viel zu vieles ist in der Zwischenzeit passiert, die Rufe sind verstummt oder richten sich an neue Adressaten.

Den Vorwurf der eigennützigen Politisierung gesellschaftlicher Tragödien im Dienste der persönlichen/parteiideologischen/politischen Agenda ist ein auch in der Schweiz vielgehörtes, jedoch geistloses Argument. Was sonst darf man bitte von bezahlten Politikern erwarten, als dass sie auf Probleme und Veränderungen in der Gesellschaft, die sie repräsentieren, achten und gegebenenfalls reagieren. Der Ruf nach sinnvolleren gun law schien einigen verfrüht, für die Opfer kam er definitiv zu spät. Natürlich bedarf es einer gewissen objektiven, von individuellem Leid befreiten Analyse. Wenn aber jede Statistik oder Verschärfung von Waffengesetzen (siehe Australien oder Grossbritannien) das selbe Resultat hervorbringt, darf hinter dem Argument nicht ein ernsthaftes Interesse an der Lösung eines Problems vermutet werden, sondern die Verhinderung gesellschaftlichen Fortschritts. Die Zahlen sind eindeutig und lassen den konklusiven Schluss zu: Mehr Waffen, mehr Tote durch Waffen. Der von der NRA mantraartig vorgetragene Schmäh «the only thing that stops a bad guy with a gun is a good guy with a gun» wurde gerade in Las Vegas ad absurdum geführt.

Selbst wenn Fox News für seine erzkonservative Meinungsmache bekannt ist, Moderatoren wie Shepard Smith oder Chris Wallace haben sich nach Trumps Einzug ins Weisse Haus das Recht auf kritische Fragen nicht nehmen lassen. Ganz anders Sean Hannity. Selbst der Angriff seitens Ann Coulter, ihres Zeichens Verfasserin hasserfüllter Kommentare und ursprüngliche Verfechterin einer Präsidentschaft Trump (Titel ihres Buches: In Trump we trust), die Hannity der blinden Gefolgschaft bezichtigte und einen (berechtigten) Mangel an journalistischer Distanz diagnostizierte, lies den Hörigen der trumpschen Politik unbeeindruckt. Auf ihre Attacke, Hannity würde folgsam auch den Kommunismus unterstützen, wäre das in den Augen Trumps etwas Gutes, tat er mit einem entnervten «Du langweilst mich» ab.

Wurde bei den Opfern in Las Vegas noch eine politfreie Totenruhe gefordert, war Hannity einer der ersten und unerbitterlichen  Ankläger Hilary Clintons als in Bengasi bei einem Terrorangriff vier Personen im Dienste der US Regierung getötet wurden. Der Vorwurf: Sie hätte als Aussenministerin nicht für genügend Schutz gesorgt und trage somit die Verantwortung für den Tod der vier US-Amerikaner. Hier wurde der Ruf nach einer nüchternen Abklärung und angebrachten Empathie gegenüber den Opfern getrost einer politisch motivierten Attacke geopfert. Wird First Lady Melania dafür kritisiert, dass sie in hochhackigen Designer high heels in die von der Flutkatastrophe betroffenen Gebiete fliegt, tut Hannity dies als Zeichen einer kleingeistigen Verkümmerung linker Eliten ab, die das big picture aus den Augen verloren hätten. Das kommt von jemandem, der Obama als abgehobenen Schnösel gerügt hat, weil er sein Hamburger nicht mit Ketchup sondern mit einer soch exquisiten Delikatesse kommunistischer Provenienz wie Dijon Senf bestellte!

Bisweilen zieht Hannity überraschende Minoritäten zur Untermauerung seiner Argumente hinzu. Er, der einen Ehrendoktor der Evangelikalen Liberty University besitzt, wettert nur allzu gern gegen den politischen Islam, wobei ein immer wiederkehrendes Argument jenes ist, dass in islamischen Ländern Schwule und Lesben von Häuserdächern gestossen würden. Dies könnte getrost als Weckruf an eine die Individualrechte mit Füssen tretende Regierung gelesen werden, wären da nicht all die abfälligen Kommentare betreffs der Rechte von LGBTQ Menschen in den USA. Die Verletzung ihrer Rechte interessieren Hannity nur, wenn sich dadurch ein Argument gegen eine ihm noch verhasstere Gruppe bilden lässt. Im eigenen Land zählen dieselben Rechte dann nicht mehr. Ungeborenes Leben ist unter allen Umständen zu schützen, doch wenn geborene Menschen Waffengewalt zum Opfer fallen, wird das Recht auf Ausübung zur Gewalt höher gewertet als das Recht, unversehrt zu leben. Hannity sieht das menschliche Leben wie eine Packung Kondome. Verpackt sind sie wertvoll, gebraucht aber wertlos.

Gleiches Muster findet sich bei Frauenrechten. Die Affäre Weinstein lies sich perfekt für den verkommenen, unmoralischen Umgang Hollywoods mit Schauspielerinnen ausschlachten. Für Hannity ein Beweis, dass in Kalifornien Sodom und Gomorra-artige Zustände herrschen und gerade Frauen unter der Herrschaft ekliger, alter Machos zu leiden haben. Dies alles trifft zu. Nur wäre es glaubwürdiger, wären die Rechte der Frauen auch sonst ein prominenter Punkt auf Hannitys Agenda. Konsequenterweise müsste man erwarten können, dass er das Recht der Frau auf ihren eigenen Körper respektiert oder die Sparmassnahmen der Trump Administration ablehnt, die die Non-Profit Organisation Planned Parenthood betreffen und Auswirkungen auf abertausende Frauen haben. Denkste!  Wer Hannity dabei zuschaut wie er genüsslich die Doppelmoral der politischen Elite und Hollywoods anklagt, wie er betont, wie arm und schutzbedürftig die Opfer sexueller Gewalt sind und gleichzeitig weiss, wie eng sein Verhältnis zu dem Fox-Gründer und wegen sexueller Belästigung abgesetzten Roger Ailes und zu seinem Vorbild, einem der erfolgreichsten Fernsehmoderatoren aller Zeiten, Bill O’Reilly, ist, dem wird übel ob solch einer selektiven Sichtweise. Weinstein wurde von allen Seiten (auch der Linken) wegen seiner Verfehlungen geächtet und aus seiner eigenen Firma entlassen. O’Reilly, dessen letzte aussergerichtliche Abfindung eines Opfers seines prädatorischen sexuellen Verhaltens 32 Millionen Dollar betrug (wie Megyn Kelly richtig bemerkt: Man bezahlt nicht 32 Millionen Dollar Abfindung weil man die Bluse einer Arbeitskollegin kommentiert) wurde nach Bekanntwerden all dieser Tatsachen trotzdem von Hannity in sein Studio eingeladen und durfte sich da auch noch als Opfer darstellen. Als der schleimige Roger Ailes diesen Mai viel zu spät das Zeitliche segnete, hielt Hannity eine peinliche Laudatio, in der er seinen ehemaligen Boss als Vorkämpfer der journalistischen Freiheit, patriotischen Krieger und zweiten Vater pries.

Neben Sean Hannity tummeln sich auf Fox noch weitere journalistische Scharfmacher, deren Hörigkeit Trumps Politik gegenüber jeden halbwegs kritischen Geist erstaunen muss. Lou Dobbs letztwöchiges Interview mit Trump war so was von biased (parteiisch, unausgewogen, befangen), dass die Energie zwischen Interviewer und Interviewtem schon fast sexuelle Qualität erreichte. Wäre einem der Sender die bildliche Untermauerung des Gesagten schuldig geblieben, hätte man sich ohne weiteres vorstellen können, dass sich hier zwei Kumpels in der Saune unterhalten. Oder im von Trump oft bemühten locker room. Als Präsidententochter Ivanka Trump an einer W20-Konferenz in Berlin ob ihrer  Behauptung, ihr Vater sei ein «enormer Unterstützer von Frauen», ausgebuht wurde, sah Herr Waters darin eine Attacke auf Frauen allgemein und geisselte die Kritik an Ivanka als Kritik an einer starken Frau. Nur um am Schluss seiner leidenschaftlichen Rede anzumerken, dass er es allerdings «wirklich mochte, wie Ivanka in das Mikrophon sprach». Dies sollte ein billiger blowjob joke sein, weil man, in kindlicher Phantasie, das Mikrophon, so war der Witz intendiert, auch als Penis hätte lesen können. Wie ernst lassen sich jegliche gutklingende Verteidigungen von Rechten von Frauen, Homosexuellen oder Migranten interpretieren, wenn sie vor dem Hintergrund billigster Politikmache betreiben werden?

Dieses Schema ist nicht rechten Medien vorenthalten. Jedoch finden sich in Diskussionsrunden auf CNN, CBS oder ABC immer wieder Verteidiger Trumps, die eingebunden werden in eine gesunde Mixtur sich unterscheidender Meinungen. Jeffrey Lord gehörte bis zu seinem bescheuerten «Sieg Heil» Tweet praktisch zum CNN Inventar.  Hannity hingegen hat die eh schon spärlichen Einladungen an politische Gegner seit dem Einzug Trumps als Präsident gleich ganz abgeschafft. Gäste verkommen zur mundtoten Requisite. Häresie oder Kritik, duldet ein Demagoge im Range Hannitys nicht in seinem Studio. Gäste reden dem Moderator nach dem Mund und setzten, wenn überhaupt, den Ungeheuerlichkeiten seitens Hannitys noch einen drauf. Brillante Denker im Format eines Cornel West wichen den einsilbigen Salven eines Sherriff David Clarke.

Nichts wäre einfacher, als diesen Artikel mit dutzenden Artikeln und Video Clips zu untermauern. Allerdings wäre das schon eine ideologisch motivierte Selektion meinerseits. Wer sich ein Bild machen will, schaue sich ganz einfach die letzte Episode Hannity an. Beweise für die Thesen dieses Textes lassen sich im 20 Sekunden Takt finden.

Der französische Soziologe und Ethnologe Emile Durkheim definierte Ideologie wie folgt: «Ideology is the use of notions to govern the collation of facts rather than deriving notions from them» (frei übersetzt: Ideologie ist der Gebrauch von Ahnungen um das Bewerten von Tatsachen zu steuern, anstatt Ahnungen von ihnen abzuleiten) Oder banaler: Change the names and you change the story. So einfach ist das. Bei Sean Hannity zumindest.

215

Text
Nathalie Pernet

Was ist Bünzli?

Der Bünzli. Er steckt also in uns Schweizern. Irgendwo.

FB

Es ist ein komisches Wort, dieses «Bünzli». Trotzdem kennt es praktisch jeder Schweizer, jede Schweizerin. Und assoziiert sogleich ein konkretes Bild: Spiessig, verbohrt und kleinkariert – so sehen wir den Schweizer Durchschnittstypus. Folglich schreiben wir dem Bünzli heute eine eher negative Bedeutung zu. Früher war dies anders, wie Reto Widmer in seiner SRF Inputsendung Die Schweiz in einem Wort: Bünzli berichtet.
Demnach stammt das Wort Bünzli aus dem 13./14. Jahrhundert und galt als Übername. Ob es sich aus dem Binsenstengel «Bintz» ableitet, der damals auf dem Lande wuchs und sinnbildlich für einen hageren kleinen Menschen stand, oder aber aus «Buntz», dem kleinen dicklichen Knopf – wir wissen es nicht genau. Da lässt das schweizerische Wörterbuch Idiotikon Interpretationsspielraum offen. In jedem Fall wurde aus Bintz oder Buntz – im typisch schweizerisch verniedlichenden Sinne – ein Bünz-LI.

Der Bünzli. Er steckt also in uns Schweizern. Irgendwo. Und wer ihn noch nicht entdeckt hat, den Bünzli in sich, der lese Mein Nachbar Urs – Geschichten aus der Kleinstadt von Alex Capus. Er wird ihn finden, ganz bestimmt – mit einem Augenzwinkern und viel Humor.

Quellennachweis: Die Schweiz in einem Wort: Bünzli, SRF Sendung Input von Reto Widmer, 17.11.2013

216

Recherche
NICOLAS NOVA | KATHERINE MIYAKE | WALTON CHIU | NANCY KWON

Tipp
Nicole Hametner

Curious Rituals – GESTURAL INTERACTION IN THE DIGITAL EVERYDAY

“I’m trying to make the moment accessible. I’m not even trying to explain the
moment, I’m just trying to make the moment accessible.” William Gibson, No Maps for These Territories (2000)

FB
 
INTRODUCTION by NICOLAS NOVA
 
The term “digital” is intriguing. It refers both to: (1.) the use of information represented by discrete values in the form of numbers used by computers, and (2.) a manipulation with a finger or the fingertips 1. So, when one thinks about “digital technologies” such as cell phones, laptops, cameras or video game consoles, this dual definition reminds us of the importance of the body in using these devices. However, this is in contrast with the overemphasis on the term “virtual” when we describe interactions with digital artifacts. The hidden assumption behind the use of such an adjective is that these digital artifacts are not very engaging from a physical standpoint. That is, people sit at their desks with their laptops; couch potatoes play games on their sofas; commuters stare at their smart-phones in their smart-phone with blue-glow faces. But is this clichéd version of the everyday life true? Are we really so immobile when using the vast panoply of digital apparatuses?
 
This book will contradict that claim. The output of a research project conducted at Art Center College of Design (Pasadena, CA) in July-August 2012, the work presented here focuses on the body language of digital technologies used in everyday life: gestures, postures and rituals2 that appeared with the use of computers, cell phones, sensors or game controllers.
 

This seven-week project consisted of two phases:

(1.) Documentation of existing gestures in the digital everyday. Based on field observations and interviews conducted in different locations in the USA and Europe, we selected a certain number of cases that reveal how the postures and gestures adopted by users of digital technologies would constitute a set of “rituals”. However, the study was not meant to be exhaustive. The choices we have made, which forms the core of this volume, should rather be seen as a subjective focus on specific cases that we found relevant. The gestures we selected has been aggregated into seven clusters that can be considered as a snapshot of the issues we encountered in our field observations: classic gestures, nervous movements, fixing strategies, holding devices, vocabulary set by designers, personal tactics to make use of technologies and new social interactions.
 
(2.) An exploration of potentially new kinds of gestures and postures in the near future. Based on the behavior we noticed, we were interested in how the type of situations and the motivations we uncovered would appear when using upcoming technologies: How would people skip ads while using their augmented reality glasses? What will be the nervous tics of users who employ facial recognition systems? Will we still gesticulate when using brain-computer interfaces? This exploration has been done through the crafting of a design fiction in a film format.
Why are we doing this? Why is that interesting? This project is based on my interest in uncovering what French writer George Perec calls the “infra-ordinary”, to describe the ordinary and habitual aspects of everyday life3. An astute observer, Perec found inspiration in situations, gestures and habits that we often overlook or miss. Using the prefix “infra-”, he highlighted the importance of what is underneath or hidden and which could be uncovered as an interrogation of the quotidian.
Regarding digital technologies more specifically, such endeavor is important because it helps to show how the use of such devices is a joint construction between designers and users. Some of the gestures we describe here indeed emerged from people’s everyday practices, either from a naïve perspective (lifting up one’s finger in a cell phone conversation to have better signal) or because they’re simply more practical (watching a movie in bed with the laptop shifted). Even the ones that have been “created” by designers (pinching, taps, swipes, clicks) did not come out from the blue; they have been transferred from existing habits using other objects. The description of these postures, gestures and rituals can then be seen as a way to reveal the way users domesticate new technologies.
Closer to design, the documentation of this current body language can also inform the adaptation of current interfaces, or the creation of products that can support, help or benefit from the gestures and rituals we found.
Equally important, speculation about emerging gestures is meant to explore the alternative uses of digital devices we only see through glossy and slick videos produced by multinational corporations. Beyond the standard representations of the digital future, often staged in aseptic environments, we wanted to investigate the human situations of the everyday. By showing those moments you never encounter in corporate videos – when augmented reality glasses becomes annoying or whenever sensors lead to awkward social situations – we wanted to adopt a more ironic perspective on those projects sold to us as “inevitable”.

The book structure reflects these two phases. In the first section, introduced by a short essay by Dan Hill, the different cases we selected will be described. Each category of gestures and rituals is presented with a visual description as well as a short discussion of their cultural and design implications. The second part, with a fictional essay called “Incident Report” written by Julian Bleecker and the script of the design fiction we produced, then speculates about the near future of body language in the digital everyday.
 
The design fiction video can also be found on the project blog, at the following URL:
 

 
See the book as PDF:
curiousritualsbook.pdf
 
1 According to Oxford English Dictionary.
2 We use the term ritual without the religious or solemn connotation, referring instead to a series ofactions regularly and invariably followed by someone.

Curious Rituals: A Digital Tomorrow from Near Future Laboratory on Vimeo.

217

Quelle
ROMANM.ch

Tipp
Hin Van Tran

ASCII Art – Ein Stück Internetgeschichte

Vor der Einführung von grafikfähigen Computern war die ASCII-Kunst die einzige Möglichkeit zur Erstellung von Illustrationen und Bildelementen und vor allem im Emailverkehr weit verbreitet.

FB

ASCII-Art – auf Deutsch ASCII-Kunst – ist eine Kunstrichtung, in welcher mit Ziffern, Buchstaben und Sonderzeichen einer nichtproportionalen Schrift kleine Piktogramme oder vollständige Bilder dargestellt werden. Auf PCs eignet sich dazu der ASCII-Zeichensatz besonders, da er auf der ganzen Welt auf nahezu allen Systemen verfügbar ist.

Vor der Einführung von grafikfähigen Computern war die ASCII-Kunst die einzige Möglichkeit zur Erstellung von Illustrationen und Bildelementen und vor allem im Emailverkehr weit verbreitet. Es stehen dabei nur die 128 ASCII-Zeichen zur Verfügung, was bedeutet, dass beispielsweise Umlaute und die meisten Sonderzeichen nicht verwendet werden können.

ASCII Art Youtube Videos

3D Szenen, welche in einem normalen Windows Konsolenfenster als ASCII Art gerendert werden. Dieses Projekt wurde in der Programmiersprache C# umgesetzt. Die beeindruckende 3D-Grafik-Engine kann dabei Licht und Texturen darstellen:

Animierte Ascii Art:

Katze 2

Mehr auf: www.romanm.ch/

218

Tipp
Stefan Sulzer

Victoria – Ein gigantischer Ritt durch eine Berliner Nacht

Ein Film. 140 Minuten lang. In Echtzeit. Ein Take, kein einziger Schnitt.

FB