Ausgabe #9
Sommer 2016

Wahnwitz

Wahnwitz

152

Text
Arjen Damen

Auswahl
Nicole Hametner

Sichtbarer Wahnsinn

Normales Verhalten ist sehr veränderlich. Unsere Begriffe von normalem Verhalten variieren stark im Laufe der Geschichte und sind auch immer kulturabhängig. Psychische Störungen, die definiert werden als strukturelle Abweichungen von normalem Verhalten, sind das deshalb auch.

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Normales Verhalten ist sehr veränderlich. Unsere Begriffe von normalem Verhalten variieren stark im Laufe der Geschichte und sind auch immer kulturabhängig. Psychische Störungen, die definiert werden als strukturelle Abweichungen von normalem Verhalten, sind das deshalb auch.

Durch neue Untersuchungen und Veränderungen in den Normen und Werten der Gesellschaft wird die psychiatrische Palette kontinuierlich angepasst. In der neuesten Auflage des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5) werden total 157 unterschiedliche psychische Störungen beschrieben. Ein Psychiater muss diese diagnostizieren können und behandeln, damit unsere Wahnsinnigen im Stande sind zumindest ein bisschen normal funktionieren zu können.

In Wahnsinn und Gesellschaft: Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft beschreibt der französische Philosoph Michel Foucault wie sich der Wahnsinn im westlichen Denken hin zum Klassifikationssystem DSM-5 entwickelt hat. Nun verfolgt ein Philosoph meistens andere Motive in einer geschichtlichen Untersuchung als ein Historiker. Auch für Foucault ist Geschichte hier nicht das Ziel an sich, sondern ein Anlauf hin zu einer Kulturkritik. Von einem historischen Blick aus will Foucault schlussendlich die Gegenwart entmaskieren, dass heisst die Gegenwart ein halbes Jahrhundert her.

Wahnsinn

Foucaults Geschichte beginnt in der Renaissance, wo der Wahnsinn noch nicht als Krankheit angesehen wurde. Der Wahnsinnige wurde noch in Ruhe gelassen. Abnormale Figuren und abweichendes Verhalten deuteten auf einen exklusive Zugang hin zu einer anderen Welt oder auf eine spezielle Art von Erkenntnis. In einigen nicht westlichen Kulturen ist das immer noch so und die Wahnsinnigen werden als Seher oder Weise auf ein Podest gestellt.

Im 17. Jahrhundert ändert diese gelassene Haltung. Der Wahnsinn wird ein gesellschaftliches Problem, das nach einer Lösung verlangt. Der Dorfdepp wird nun zusammen mit anderen unmoralischen und abwegigen Figuren, wie Pennern und Huren gefangen genommen. Foucault nennt diese Periode «le grand renfermement» (das grosse Einsperren). Abnormale Menschen werden physisch getrennt von den normalen Menschen.

In der modernen Zeit des 19. Jahrhunderts beginnt man die Geisteskranken zu behandeln und sie erhalten ihr eigenes Irrenhaus. Mit dem Aufkommen der Psychiatrie entstehen neue «wissenschaftliche» Techniken, um die Wahnsinnigen zu normalisieren.

Vom Seher aus der Renaissance wurde der Wahnsinnige zum beherrschbaren Problem. Im Irrenhaus ist er nicht mehr länger ein Subjekt mit freiem Willen sondern ein Objekt das repariert und angepasst werden muss. Der Weg zu DSM-5 ist gepflastert.

Macht

Die Macht, welche die Psychiatrie seit dem 19. Jahrhundert auf die Wahnsinnigen ausübt ist anderer Art als die Macht, welche der Staat im 17. Jahrhundert verwendete um abnormale Menschen wegzusperren. Sie zielt viel tiefer, bis zum Kern von jemandes Persönlichkeit. Sie will den Wahnsinnigen wesentlich verändern. Foucault nennt diese Form von Macht «Disziplinierung».

Diese neue Form von Macht ist anonym. Ein Psychiater versucht nicht seinen subjektiven Willen dem Patienten aufzudrängen. Er funktioniert eher als Vertreter wissenschaftlicher Kenntnis. Der Psychiater selbst, ebenso wie der Patient, ist nur ein Teil dieser Wahrheitsmaschine.

In seinem folgenden historischen Abenteuer «Überwachen und Strafen: die Geburt des Gefängnisses» geht Foucault vertieft auf diese besondere Form von Macht ein. Er richtet sich auf das System und die Techniken die gebraucht werden, um Gefangene zu bestrafen.

Innerhalb des Systems von Leibesstrafe, öffentlicher Hinrichtung und Wegsperrung zwingt ein Staat noch explizit seinen Willen seinem Untertan auf. Er probiert Menschen abzuschrecken und in Zaum zu halten. Die Macht hat hier noch ein Gesicht.

Im modernen Gefängnis wird die Macht anonymer und umfassender. In diesem System von Rehabilitation werden laut Foucault die Insassen mit humanwissenschaftlichen Techniken formbar und beherrschbar gemacht. Sie werden diszipliniert. Das Ziel ist ihre Normen und Werte wesentlich zu verändern, so dass sie ihr Verhalten von selbst anpassen.

Panoptikum als Kulturkritik

Die Verkörperung dieser neuen disziplinierender Macht findet ihre Form im Panoptikum. In diesem Bauwerk können voneinander separierte Menschen konstant beobachtet werden, durch einen einzelnen Wächter, der selbst unsichtbar bleibt. Jeremy Bentham sah in seinem Entwurf (1791) ein perfektes Instrument, um Menschen  zu studieren und zu beherrschen. Wir kennen sein Panoptikum vor allem als Gefängnisbau, aber Bentham sah auch Möglichkeiten dieses Prinzip auf Schulen, Fabriken und Krankenhäuser anzuwenden.

Foucault verwendet das Panoptikum als Metapher in seiner Kulturkritik, die jetzt weitreichendere Formen annehmen kann. Die Disziplinierung ist nicht länger eingeschränkt auf Gefängnisse und Wahnsinnige, sondern wuchert überall.  Seit der Industrialisierung ist langsam eine Form von Macht entstanden, die das «Normative» mit der «Disziplinierung» kombiniert. Sie ist eine kalkulierende Macht, welche den Menschen für eine Industriegesellschaft angepasst.

Der arglose Bürger wird überall diszipliniert: in Schulen, in Kasernen, im Krankenhaus und bei seiner Arbeit. Mit humanwissenschaftlichen Techniken, Beobachtung, Überprüfungen und Normierung wird sein Handeln kontinuierlich gesteuert und optimiert, bis er eine gut funktionierende Produktionsmaschine ist. Ein kapitalistischer Traum: der Mensch wird reduziert auf seine Produktionskraft, ein Grundstoff reguliert und kontrolliert mit Hilfe von humanwissenschaftlichen Techniken. Abweichungen und Abnormitäten werde korrigiert. In diesem Panoptikum ist kein Platz mehr für den Wahnsinn oder Randständiges: Der Standard und das Normative sind allgegenwärtig. 

Das digitale Panoptikum

Ein halbes Jahrhundert später ist Foucault selbst Geschichte und der fleissige Arbeiter hat sich zu einem flamboyanten Konsumenten entpuppt. Was ist geschehen mit der disziplinierenden Macht?

Der deutsche Philosoph Byung-Chul Han nimmt den Faden wieder auf: Foucaults disziplinierende Macht war noch gebunden an Institutionen wie Fabriken, Krankenhäuser, Kasernen und Schulen: physische Räume in denen Menschen gut sichtbar sind und konditioniert werden können. Mit dem Aufkommen von neuen Technologien fällt diese Einschränkung weg. Das neue Panoptikum ist überall.

Mit Hilfe neuer Medien wird nun auch die Privatsphäre einsehbar. Unser unverzichtbares Telefon mit GPS verrät kontinuierlich wo wir uns befinden und soziale Netzwerke orten unsere Beziehungen. Die bisherige formlose Masse wird mit Hilfe von Big Data differenziert.

Zielgruppen können entziffert werden und individuelles Verhalten kann vorhergesehen werden mit Muster im Suchverhalten im Browser. Jeder Klick wird gespeichert: im Digitalen entkommt nichts mehr der Sichtbarkeit.

In diesem neuen Panoptikum hat die Macht der Verführung Disziplinierung überflüssig gemacht. Wir schicken uns freiwillig in die Sichtbarkeit des digitalen Panoptikums: Menschen die nichts mehr verbergen wollen. Alles muss geliked und geteilt werden. Die neoliberale Normativität im digitalen Panoptikum ist die Optimierung auf allen Fronten: unser Leben, unsere Subjektivität, ist eine Unternehmung geworden. Die 157 verschiedenen Arten Wahnsinniger stolpern von nun an freiwillig zum Therapeuten und schreiben einen Blog darüber.

Arjen Damen, Autor und Wildnisführer, www.lobo-loco.com

Blutrünstige Bestien oder überwältigt von der eigenen Tat? Antoni Piotrowskis Gemälde «Massaker von Batak» von 1892, Nationalgalerie für Ausländische Kunst, Sofia, Foto: Todor Mitov, 2007
Blutrünstige Bestien oder überwältigt von der eigenen Tat? Antoni Piotrowskis Gemälde «Massaker von Batak» von 1892, Nationalgalerie für Ausländische Kunst, Sofia, Foto: Todor Mitov, 2007
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Text
Annika Hossain

Von der Politik des Forschens

Anstatt sich im Elfenbeinturm zu verschanzen, wie so oft behauptet, nimmt – gerade in der kunsthistorischen Bildforschung – Geisteswissenschaft, gewollt oder ungewollt, häufig eine politische Dimension des Handelns ein. Oder im eigentlichen Sinne des englischen Philosophen Francis Bacon (1561–1626): Wissen(schaft) ist Macht.

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Blutrünstige Bestien oder überwältigt von der eigenen Tat? Antoni Piotrowskis Gemälde «Massaker von Batak» von 1892, Nationalgalerie für Ausländische Kunst, Sofia, Foto: Todor Mitov, 2007

Prekäre Anstellungsverhältnisse, unkonventionelle und oft eher unpopuläre Standpunkte, für die man zunächst um Anerkennung und Verständnis kämpfen muss, fehlende Gelder – wer an einer Kunsthochschule, einer Universität oder einer entsprechenden privaten Institution forscht, steht vor vielen Herausforderungen. Unter Umständen ist man sogar enormen Angriffen ausgesetzt, wenn man durch die eigene Forschungstätigkeit die Ordnung der «Herrschenden» durcheinander bringt. In verhängnisvoller Weise musste das Martina Baleva, heute Stiftungs-Assistenzprofessorin «Kulturelle Topographien Osteuropas im 19. und 20. Jahrhundert» an der Universität Basel, erfahren.[1]

Als sie 2007 den Befund ihrer später ausgezeichneten Dissertation bei einer Konferenz des Osteuropa-Instituts der Freien Universität Berlin (FU) in Sofia, Bulgarien, zu präsentieren beabsichtigte, wurde diese nach massiven Drohungen schon im Voraus abgesagt. Thema war der Nationalmythos um das Massaker von Batak 1876, das Baleva anhand eines Gemäldes des polnischen Malers Antoni Piotrowski von 1892 untersucht hatte.[2] Ihr einschneidendes Ergebnis: Die Fotografien, die angeblich die überlebenden Opfer des Massakers der Türken im Zuge des bulgarischen Aufstands gegen die osmanische Herrschaft zeigen, sind tatsächlich einem Arrangement des Malers von 1892 entsprungen. Ohne das Ereignis selbst in Frage zu stellen, brachte sie damit einen sich vor allem um Bilder rankenden nationalen Mythos ins Wanken, der als Ursprung so mancher antiislamischer Stereotype in Bulgarien gelten muss. Mit verheerenden Folgen: Fernsehen und Zeitungen, nationalistische Historiker und Politiker taten sich zusammen und behaupteten, das Projekt verleugne die Opfer. Dr. Ulf Brunbauer, der das Projekt von Seiten des Osteuropa-Instituts der FU leitete, erhielt täglich Todesdrohungen. Martina Baleva wurde eine Hetzkampagne zuteil, bei der öffentlich ein Kopfgeld für ein aktuelles Foto von ihr oder ihre aktuelle Wohnadresse in Berlin ausgelobt wurden. Ursache für den verschärften Widerspruch von bulgarischer Seite waren unter anderem die ersten Wahlen zum EU-Parlament, die im Mai des gleichen Jahres stattfanden. Bulgarische Politiker aller Parteien stilisierten sich zu dieser Zeit besonders bereitwillig zu Vertretern der nationalen Interessen gegen «Europa». 

Dass der Fall von Bildwissenschaftler Horst Bredekamp in einem Artikel von 2008[3] wieder aufgenommen wurde, spielt die zum Politikum gewordene Forschungsarbeit wieder zurück in die Hände des Forschers. Schliesslich bot ihm Balevas Erfahrung eine Steilvorlage für den Beleg seiner eigenen These zur Politik der Bilder: Bilder werden weltweit strategisch nicht lediglich als Dokumente oder Trophäen eingesetzt, sondern als unmittelbar agierende Waffe in einem globalisierten Bilderkrieg. Damit stuft Bredekamp die Wirkung der Bilder parallel zu jener von Primärwaffen ein. Im Kampf gegen nationalistische Vereinnahmungen müsse man dieser mit einer distanzierten und vor allem differenzierten Bildanalyse begegnen, um die multiplen Bedeutungsebenen der Bilder öffentlich bewusst zu machen. Es wird deutlich: Anstatt sich im Elfenbeinturm zu verschanzen, wie so oft behauptet, nimmt – gerade in der kunsthistorischen Bildforschung – Geisteswissenschaft, gewollt oder ungewollt, häufig eine politische Dimension des Handelns ein. Oder im eigentlichen Sinne des englischen Philosophen Francis Bacon (1561–1626): Wissen(schaft) ist Macht. 

[1] Am 27. Oktober 2015 hat Prof. Dr. Martina Baleva ihr Forschungsprojekt und seine dramatischen Konsequenzen im Rahmen eines Seminars zur Medientheorie unter der Leitung von Peter Glassen an der HKB präsentiert.[2] Antoni Piotrowski, Das Massaker von Batak, 1892, Öl auf Leinwand, 183 x 283 cm, Nationalgalerie für ausländische Kunst, Sofia.[3] Horst Bredekamp, «Das Bild des bulgarischen Staatskörpers als Organ der Gewalt», in: kritische berichte, 2.2008, S. 31–35. 
Eine Dokumentation über den Vorfall um das Forschungsprojekt «Batak – ein bulgarischer Erinnerungsort» in den Medien ist auf folgender Webseite zu finden: martinabaleva.comDer Katalog zur geplanten Ausstellung «Batak – ein bulgarischer Erinnerungsort» ist online unter folgendem Link verfügbar: academia.eduDer Artikel von Horst Bredekamp ist ausserdem unter folgendem Link abrufbar: journals.ub.uni-heidelberg.de

 

 

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Tipp
Nicole Hametner

Humor ist wenn man trotzdem lacht

Bundesrat Schneider Ammann’s Rede zum Tag der Kranken.

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Vom althochdeutschen «wizzi» (Wissen, scharfe Beobachtung, geistige Wendigkeit) her kommend, wurde der Witz im Mittelalter mit hoher Denkkraft, Schlauheit und gesundem Menschenverstand in Verbindung gebracht. Vom französischen Begriff «esprit» beeinflusst, wurde er im 17. Jahrhundert als geistreiche, scharfsinnig formulierte Ausdrucksweise geachtet, bis er dann im 19. Jahrhundert seinen Weg in das Scherzhafte fand. So liegt der Witz heute im alltäglichen Gebrauch oft als ein ordinärer, kurzer spöttischer Text verstanden, doch weit entfernt von dessen Ursprung als geistreiche Äusserung und Redegewandtheit.

Hier ein ungewolltes Beispiel: Bundesrat Schneider Ammann’s Rede zum Tag der Kranken

Video: Dance Your PhD 2015 - Florence Metz
Video: Dance Your PhD 2015 - Florence Metz
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Text und Interview
Nathalie Pernet

Science + Entertainment = Scientainment

Soll Wissenschaft neuerdings auch unterhalten? Kann sie, aber muss sie nicht!

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Video: Dance Your PhD 2015 - Florence Metz

Soll Wissenschaft neuerdings auch unterhalten? Kann sie, aber muss sie nicht! Während Universitäten und Fachhochschulen Wissenschaft kommunizieren und damit oft nur eine bildungs- und forschungsinteressierte Bevölkerungsschicht erreichen, hat sich in jüngerer Zeit eine andere Art der Wissenschaftsvermittlung herausgebildet: das Scientainment. Mit neuartigen und innovativen Formaten wird eine breite Öffentlichkeit angesprochen, die unterhaltend und verspielt auf Inhalte der Wissenschaft hingeführt wird.

Science Slams beispielsweise, an denen junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit ihrem Forschungsthema in jeweils 10 Minuten um die Gunst des Publikums rangeln, waren die ersten Versuche in diese Richtung. Heute gibt es Nächte der Forschung an Universitäten, Wissenschaftsfestivals, Science Comedies, Museumsinterventionen, Blogs, speziell konzipierte Theaterformate etc…. Zudem ist Scientainment in der Schweizer Förderkultur angekommen: So unterstützt zum Beispiel die Stiftung Gebert Rüf explizit Projekte «niederschwelliger Wissenschaftskommunikation». Das Pilotprojekt dazu war die wöchentliche Wissensseite in der Pendlerzeitung 20 Minuten. Als weiteres Format folgte die Black Box Science im Pfauen Theater Zürich.

Auch das renommierte Wissenschaftsmagazin Science möchte Wissenschaft breiter vermittelt sehen und hat deshalb 2007 mit John Bohannon von der Harvard University sowie der amerikanischen Wissenschaftlervereinigung AAAS den Wettbewerb «Dance your PhD» ins Leben gerufen. Und genau den hat 2015 Florence Metz gewonnen. Wie es dazu kam, erzählt sie uns im Interview:

Nathalie Pernet: Florence Metz, Du bist Politikwissenschaftlerin und dozierst an der Universität Bern. Du beforschst, grob gesagt, die Ressource Wasser und wie damit umgegangen wird. Zu diesem Thema hast Du Deine Dissertation geschrieben. Wie kam es, dass Du schliesslich Deine Dissertation getanzt hast?

Florence Metz: Ganz einfach: Schon lange hatte mich ein Kollege auf den Wettbewerb «Dance your PhD» der Zeitschrift Science und John Bohannon (Harvard University) aufmerksam gemacht. Ich hatte mir schon viele Videos auf der Site angeschaut und fand die einfach total lustig (http://gonzolabs.org/dance/videos//). Es reizte mich – ich hatte Lust, da mitzumachen. Tanz ist meine Leidenschaft und ich wollte diese mit meiner anderen, der Wissenschaft, zusammenbringen. So nutzte ich die drei verbleibenden Wochen nach meiner Dissertationsabgabe und stellte ein Tanzvideo mit meinen Freunden zusammen. Dass ich damit dann den ersten Preis des Wettbewerbs – 1000 USD und eine Reise an die Universität Standford – gewann, war einfach fantastisch! Meine Dissertation war zu diesem Zeitpunkt ja noch nicht mal publiziert…

NP: Was war Dir bei der Umsetzung des Tanzvideos wichtig? 

FM: Thema meiner Doktorarbeit war Schutz und Nutzen der Ressource Wasser – dies vergleichend in den Ländern Holland, Deutschland, Frankreich und der Schweiz. Zuerst wollte ich im Video meine Arbeit anhand von politischen Interessensgruppen erzählen und diese mit Farben darstellen, also in grün, gelb usw. Dann aber entschied ich mich, vier Akteursgruppen im Kreislauf des Gewässerschutzes abzubilden: die Industrie, die Politik, die Landwirtschaft und den Umweltschutz. Das Video soll zeigen, dass nur durch den Austausch und Dialog der vier Akteursgruppen gemeinsam eine gute Lösung für diese Problematik erarbeitet werden kann. Diese Aussage war mir sehr wichtig.

NP: Warum überzeichnest Du die Bauern als harte Rapper? 

FM: Ich überzeichne alle vier Akteursgruppen, nicht nur die Bauern. Mein Darstellungsfundus waren die vier Tanzstile, die ich selber beherrsche: House, Salsa, AcroYoga und Hiphop. Hiphop hat für mich etwas Bodenständiges, das passte daher super zur Landwirtschaft. House repräsentiert die Industrie und symbolisiert die Saubermänner. AcroYoga steht für Balance und Schutz – perfekt für die Ökologen. Und schliesslich blieb Salsa für die Politik, was eigentlich ganz lustig war, den Staat mit Sexiness, die der Tanzstil mit sich bringt, darzustellen. Der Salsa-Dreh vor dem Bundeshaus war dann auch der amüsanteste: Bei den Aufnahmen vor dem Bundeshaus schauten uns asiatische Touristen zu und knipsten und filmten uns wie wild.

NP: Du hast in einem Interview gesagt, dass Deine getanzte Dissertation «kein Witz» sei, sondern «ernst gemeint mit einem Augenzwinkern». Muss Wissenschaft denn Deiner Meinung nach unterhalten?

FM: Nein, mein Tanzvideo ist einfach eine andere, zusätzliche Art der Wissensvermittlung. Es überliefert eine Emotion. Für die breite Öffentlichkeit ist es zudem viel einfacher, auf Youtube ein Video anzuklicken, als eine wissenschaftliche Publikation zu lesen. Und wenn ich so mit einem wissenschaftlichen Inhalt viele Leute erreichen kann, ist das super!

Die Schwierigkeit für mich war, das komplexe Thema meiner Doktorarbeit auf die wesentlichsten Elemente herunterzubrechen. Man begibt sich da auf einen schmalen Grat – es darf nicht unseriös und lächerlich daherkommen.

NP: Deine getanzte Dissertation hat hohe Wellen geworfen: Auf Youtube hat Dein Clip über 165’300 Klicks erreicht (Stand: 14.3.). Hast Du mit einem solchen Medienecho gerechnet, als Du Deine Performance vorbereitet hast? 

FM: Auf keinen Fall – ich war selbst total überrascht! Als ich von den Veranstaltern des Wettbewerbs eine Email erhielt, dass ich gewonnen habe und mich für Medienanfragen bereit halten solle, hätte ich nicht im Traum daran gedacht, dass sich die israelische, spanische oder gar koreanische Presse für mich interessieren würden! Die Kommunikation war für mich nie das Ziel: Es machte mir einfach Spass und ich habe dieses Tanzprojekt auch in meiner Freizeit durchgeführt. Schön ist, dass ich mit dem Preis nun den Mitwirkenden etwas zurückgeben kann.

NP: Dann wünsche ich Dir eine schöne Reise und danke Dir zugleich für dieses Gespräch!

Dance Your PhD 2015, Florence Metz:
https://www.youtube.com/watch?v=iRUDC1PiPAo

Auswahl an Presseberichten zu Florence Metz:
www.spiegel.de
www.20min.ch
www.telebaern.tv
www.srf.ch 
Tschirtner, Oswald, sans titre, 1980 encre de Chine sur papier, 29,7 x 21 cm © crédit photographique: Atelier de numérisation - Ville de Lausanne Collection de l’Art Brut, Lausanne
Tschirtner, Oswald, sans titre, 1980 encre de Chine sur papier, 29,7 x 21 cm © crédit photographique: Atelier de numérisation - Ville de Lausanne Collection de l’Art Brut, Lausanne
Pascal-Désir Maisonneuve, L’éternelle infidèle, entre 1927 et 1928 assemblage de coquillages divers, haut. : 42 cm © crédit photographique: Atelier de numérisation - Ville de Lausanne, Claude Bornand. Collection de l’Art Brut, Lausanne
Pascal-Désir Maisonneuve, L’éternelle infidèle, entre 1927 et 1928 assemblage de coquillages divers, haut. : 42 cm © crédit photographique: Atelier de numérisation - Ville de Lausanne, Claude Bornand. Collection de l’Art Brut, Lausanne
Sylvain Lecocq, Al bu mi eux rient, vers 1949 Crayon noir sur carton, 17,5 x 7 cm © crédit photographique: Atelier de numérisation - Ville de Lausanne Collection de l’Art Brut, Lausanne
Sylvain Lecocq, Al bu mi eux rient, vers 1949 Crayon noir sur carton, 17,5 x 7 cm © crédit photographique: Atelier de numérisation - Ville de Lausanne Collection de l’Art Brut, Lausanne
Eijiro Miyama, dans les rues de Yokohama, Japon, 2006 photo: Lucienne Peiry © crédit photographique: Collection de l'Art Brut, Lausanne
Eijiro Miyama, dans les rues de Yokohama, Japon, 2006 photo: Lucienne Peiry © crédit photographique: Collection de l'Art Brut, Lausanne
Guy Brunet, La main gauche du seigneur, 2012 Acrylique sur papier, 174 x 119 cm © crédit photographique: Atelier de numérisation - Ville de Lausanne, Charlotte Aebischer Collection de l’Art Brut, Lausanne
Guy Brunet, La main gauche du seigneur, 2012 Acrylique sur papier, 174 x 119 cm © crédit photographique: Atelier de numérisation - Ville de Lausanne, Charlotte Aebischer Collection de l’Art Brut, Lausanne
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Interview
Déborah Demierre

L’humour dans l’Art Brut

L'édition de Ding Dong a pour thème «Wahnwitz», mot composé allemand qui associe «Wahn» le délire, l'illusion et «Witz» la blague. Difficilement traduisible, on pourrait le rapprocher au grain de folie francophone. Même si l'Art Brut ne se fonde pas sur l'état psychique du créateur, il a souvent été associé à la folie.

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La Collection de l’Art Brut donnée par Jean Dubuffet à la Ville de Lausanne réunissait, en 1971, 133 créateurs. A ce jour, ce sont près de 400 auteurs qui ont rejoint la Collection.? Sarah Lombardi, historienne de l’Art, est la directrice de cette Collection, depuis mars 2013.

Déborah Demierre: L’édition de Ding Dong a pour thème «Wahnwitz», mot composé allemand qui associe «Wahn» le délire, l’illusion et «Witz» la blague. Difficilement traduisible, on pourrait le rapprocher au grain de folie francophone. Même si l’Art Brut ne se fonde pas sur l’état psychique du créateur, il a souvent été associé à la folie. Comment expliquez-vous cet amalgame?

Sarah Lombardi: L’amalgame vient du fait que Jean Dubuffet a entamé ses premières prospections d’oeuvres réalisées par des autodidactes dans des hôpitaux, enfin nous devrions parler de productions, puisque c’est lui qui les a désignées ensuite comme des oeuvres d’art. Dubuffet a entrepris ses prospections de travaux réalisés par des autodidactes se situant hors du champ officiel de l’art dans les lieux les plus éloignés de la culture, soit les hôpitaux psychiatriques; des lieux d’exclusion à l’époque.

En 1945, il commence ses recherches en Suisse notamment, où il visite en juillet des hôpitaux psychiatriques, comme la Waldau, à Berne et l’asile de Bel Air, à Genève. Il va découvrir, grâce aux médecins de ces institutions, auprès desquels il a eu des contacts, certains travaux réalisés par leurs patients. Ces docteurs sont tout à fait novateurs, car ils ont décelé l’intérêt artistique de ces productions et les ont conservées.

Certains d’entre eux ont même réalisé un petit musée au sein des hôpitaux. C’est le cas du docteur Charles Ladame, qui a créé un cabinet avec des objets qu’il a collectionnés, réalisés par ses patients, et qu’il a appellé «Cabinet du Docteur Ladame». A Berne, Walter Morgenthaler a constitué une des collections asilaires les plus importantes. L’amalgame vient donc de là: art brut égale art des fous, et il va perdurer. Dubuffet va devoir expliquer que la folie n’est pas un critère pour désigner ce qui relève de l’Art Brut.

L’auteur d’Art Brut se définit selon ces critères: être autodidacte, et créer en dehors du circuit officiel de l’art. D’ailleurs, Dubuffet élargira son champ de prospection à des «hommes du commun». Ces auteurs sont présents dans la dernière section de l’exposition[1], qu’on a appellée «et encore». Il s’agit de personnes qui avaient des métiers, souvent manuels: des cordonniers, des maçons, des boulangers et qui, en parallèle à leurs activités professionnelles, réalisaient des oeuvres en autodidactes complets.

DD: Est-ce que pour Dubuffet la folie et le génie sont proches ou avait-il déjà cassé avec cette représentation de l’artiste comme génie créateur?

SL: Je dirais que ce qu’il voulait mettre en avant, ce n’était pas leur folie – puisque ce n’est pas la folie qui fait l’artiste – mais le fait qu’on peut être artiste en étant autodidacte et qu’on ne devient pas artiste en fréquentant nécessairement une école d’art. On a du génie ou on n’en a pas. Il y a autant de génies dans les hôpitaux qu’à l’extérieur. L’art ne s’apprend pas dans les écoles, c’est aussi cela qu’il a montré à travers l’Art Brut.

Dubuffet parlait de voyance, il disait que ces auteurs, particulièrement les personnes internées, sont dotées d’une voyance. Leur faculté est de pouvoir se détacher complètement du regard des autres, de leurs jugements, de créer de manière totalement libre. Il a lui-même aussi recherché cette aptitude en tant qu’artiste. Les gens qui suivent une formation académique, ou qui sont imprégnés d’une culture, arrivent difficilement à se détacher du regard d’autrui. Ce qui le fascinait chez les auteurs d’Art Brut, c’était leur liberté dans la création ; une liberté qu’il a recherchée lui-même en essayant de «désapprendre», de se détacher de tous les carcans qui nous entourent, issus de notre culture. Les auteurs d’Art Brut font fi de tout cela et c’est de là que proviennent leur force et leur génie.

Tschirtner, Oswald, sans titre, 1980 encre de Chine sur papier, 29,7 x 21 cm © crédit photographique: Atelier de numérisation - Ville de Lausanne Collection de l’Art Brut, Lausanne

DD: Parmi les oeuvres de la Collection de l’Art Brut, lesquelles vous font sourire et pour quelles raisons ?

SL: Il y a un auteur qui s’appelle Oswald Tschirtner, aujourd’hui décédé, qui vient de Gugging en Autriche. Il écrivait des textes en allemand et réalisait des oeuvres au stylo-feutre. C’est un art de la simplicité et du minimalisme. C’est souvent très drôle. Parfois, il oppose des choses : le noir – le blanc, le petit – le grand. Il y a un humour qui se dégage de son travail, mais sans que cela soit forcément volontaire de sa part. Il y a une simplicité dans ses dessins qui dégagent paradoxalement une grande force et quelque chose de léger.

Les oeuvres de Paul Amar, faites avec des coquillages, sont également drôles et assez espiègles, comme celle composée de nombreux petits personnages qui s’appelle le poisson pilote. 

Les masques de Maisonneuve, également constitués de coquillages, souvent jouflus et assez drôles. Leur auteur, mosaïste de formation, s’est amusé à faire une galerie de portraits d’hommes politiques, de personnages historiques ou princiers dont il se moquait, en réalisant leurs effigies à partir de coquillages. Ainsi, il représente notamment le Kronprinz ou la Reine Victoria. Dès le départ, il y a une idée de parodie dans son travail.

Pascal-Désir Maisonneuve, L’éternelle infidèle, entre 1927 et 1928 assemblage de coquillages divers, haut. : 42 cm © crédit photographique: Atelier de numérisation - Ville de Lausanne, Claude Bornand. Collection de l’Art Brut, Lausanne

DD: L’humour nécessite un certain détachement de la réalité. Les auteurs d’Art Brut ont souvent des parcours de vie douloureux. Y a-t-il des créateurs qui l’utilisent justement pour prendre du recul sur leur réalité?

SL: J’ai l’impression qu’il n’y a pas énormément d’auteurs qui utilisent volontairement l’humour et la parodie pour cela. Certains le font, comme Pascal-Désir Maisonneuve, mais il n’a pas eu un parcours de vie difficile. D’autres auteurs y ont eu recours. Cela apparaît parfois dans les écrits bruts, produits pour la plupart par des personnes qui étaient internées. Des éléments comiques se dégagent de ces textes, quand bien même elles ont vécu des choses très douloureuses. Dans l’exposition anniversaire des 40 ans, un des auteurs présentés, Sylvain Lecocq, joue beaucoup sur les mots. Par exemple, dans une oeuvre, il s’amuse à décomposer les mots en les orthographiant différemment: «rondelle» devient «ronde» et «elle».

Sylvain Lecocq, Al bu mi eux rient, vers 1949 Crayon noir sur carton, 17,5 x 7 cm © crédit photographique: Atelier de numérisation - Ville de Lausanne Collection de l’Art Brut, Lausanne

DD: Eijiro Miyama, créateur japonais de chapeaux et tenues excentriques a commencé sa démarche artistique suite à une promenade durant laquelle les gens se sont retournés sur son passage: il portait un gobelet de nouilles sur la tête. Sa production est-elle plus proche de la provocation ou d’une forme humour?

SL: Son but est de se faire remarquer, c’est pour cela qu’il se déguise en femme en se mettant des faux seins, en s’habillant avec des kimonos et en portant ses chapeaux excentriques, afin de susciter le rire et pour générer aussi une parole ou déclencher un échange. Au-delà de l’humour, Eijiro Miyama a un message de paix qu’il souhaite véhiculer. Du reste, il a toujours dans son dos une pancarte avec des mots écrits en japonais qui prônent la paix. Il utilise l’humour pour créer le contact, pour ensuite faire passer un discours humaniste.

Eijiro Miyama, dans les rues de Yokohama, Japon, 2006 photo: Lucienne Peiry © crédit photographique: Collection de l'Art Brut, Lausanne

DD: Est-ce que Eijiro Miyama considère ses tenues comme des productions artistiques ou s’agit-il pour lui d’une sorte de documentation, et se voit-il plutôt comme un performeur?

SL: Je pense en effet qu’on peut vraiment parler de performance dans son cas. Lorsque nous avons réalisé l’exposition sur le Japon, on avait présenté deux de ses chapeaux. Mais ce qui est fascinant dans son travail, c’est qu’il se déguise, s’habille, se pare et se déplace à vélo. L’oeuvre est ce moment où l’auteur est dans la rue, et où il rentre en contact avec des passants. C’est vraiment la performance qui est ici l’objet artistique.  

Guy Brunet, La main gauche du seigneur, 2012 Acrylique sur papier, 174 x 119 cm © crédit photographique: Atelier de numérisation - Ville de Lausanne, Charlotte Aebischer Collection de l’Art Brut, Lausanne

DD: Guy Brunet découpe dans du carton des silhouettes d’actrices et d’acteurs auxquels il donne chair et voix en les animant devant d’imposants décors créés par lui-même. Ainsi, il est tour à tour réalisateur, producteur, scénariste, caméraman et acteur dans ses films qui s’inspirent de l’âge d’or du cinéma hollywoodien.

Ce qui frappe, c’est le sérieux avec lequel s’attelle Guy Brunet à ses projets titanesques mais aussi l’aspect drolatique de ses films. Il y a un décalage entre l’intention de la production de l’oeuvre et sa réception.

Comment gérer ce décalage en tant que commissaire?

SL: Le but de Guy Brunet est de faire des films qui peuvent être joyeux ou pas. Mais il aime la comédie, d’ailleurs son genre préféré est le Music-hall. C’est quelqu’un qui aime rire et sourire. Il y a un décalage dans le sens où il réalise ses films avec sérieux mais le côté maladroit de la réalisation fait que, parfois, on rigole. L’humour ici n’est pas nécessairement voulu par l’auteur. Néanmoins, quand on regarde attentivement ses films, on y voit pas mal d’humour. Donc, il cherche quand même le sourire auprès du spectateur. Il était même content de voir que les gens riaient ou souriaient en regardant ses films ! Il ne le prenait pas comme une critique. On rit de ce côté naïf, frais et décalé de son travail. C’est un rire positif et joyeux!

DD: Merci beaucoup pour cette interview. 

1 L’Art Brut de Jean Dubuffet, aux origines de la collection – du 5 mars au 28 août 2016
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Auswahl
Ivan Weiss

Typografie des Wahnsinns – Magazine im Umfeld des Dadaismus

Eine kleine Zusammenstellung von Publikationen, die zwischen 1915 und 1925 formal ziemlich für Aufregung sorgten.

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Text
Stefan Sulzer

Ein antisemitisches Skandälchen – oder was wir vom jüdischen Humor lernen sollten

Es geht also darum: Kann ein Jude antisemitisch sein oder unbewusst antisemitische Texte verfassen? Und dürfen Juden (oder Angehörige einer anderen Minderheit) über sich selbst Witze machen, die ihnen aufgrund ihrer Zugehörigkeit exklusiv zustehen?

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Vor einigen Jahren beschäftigte sich die Schweiz mit einem literarischen Pseudo-Skandal. Der Autor Thomas Meyer wurde kurz nach Veröffentlichung seines Romans Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse von einem Berner Literaturwissenschaftler des Antisemitismus bezichtigt. Kern der Diskussion war die an und für sich nicht unspannende Frage: Wie wird etwas Gesagt- oder Geschriebenes durch die Herkunft (religiös, politisch, national, «gesellschaftsschichtlich») des Sprechers beeinflusst? Tut sie das nur unter gewissen Umständen? Oder gezwungener Massen? Oder ausnahmslos nie? Ist es tatsächlich irrelevant, wer etwas sagt? Wird das Was nicht doch geradezu vom Wem konstituiert? Diese Fragen sind in der Causa Meyer deshalb wichtig, da Letzterer selbst Jude ist. Es geht also darum: Kann ein Jude antisemitisch sein oder unbewusst antisemitische Texte verfassen? Und dürfen Juden (oder Angehörige einer anderen Minderheit) über sich selbst Witze machen, die ihnen aufgrund ihrer Zugehörigkeit exklusiv zustehen?

Matthias Lorenz, so heisst obiger Wissenschaftler,  beruft sich bei der Analyse von Meyers Buch auf Martin Gubsers sechs Indikatoren anhand derer sich der antisemitische Grad literarischer Texte messen lasse:

1. die Verwendung tradierter antisemitischer Stereotype, die die Figur auf ihr Judentum reduzierten

2. die ‚jiddelnde‘ Figurensprache als Instrument, eine Figur lächerlich zu machen

3. die Betonung einer spezifischen Andersartigkeit ‚der Juden‘, wenn diese im Text als Makel erscheine

4. eine dichotomische Rollenverteilung zwischen guten Nichtjuden und schlechten Juden

5. einen pejorativen Erzählerkommentar

6. Will ein Autor mit einem fiktionalen Text literarischen Antisemitismus aufzeigen, so muß er durch geeignete Distanzierungsmittel den Unterschied zum Aufweisen hinreichend deutlich machen. Fehlen diese Hinweise, muss der Autor damit rechnen, dass der Text als antisemitisch interpretiert und ihm die Verantwortung dafür angelastet wird.

Lorenz findet im Text zuhauf Beweise für ein «Perpetuieren antisemitischer Projektionen». Dies jemandem vorzuwerfen ist keine unbedeutende Anschuldigung – umso erstaunlicher, wenn Lorenz behauptet, er wolle damit «nichts lostreten».

Den kapitalen Fehler in seiner Besprechung begeht Lorenz aber mit dem Hinweis, Meyer sei ja auch Weltwoche Autor (siehe #1). Er verletzt damit das eigene Beharren auf die Autarkie eines Textes, der gelöst von jeglicher Autorschaft auf den Seziertisch der kritischen Textanalyse gehört (Lorenz: «Letztlich liesse sich der Roman wirklich nur über die unbefriedigende Hilfskonstruktion retten, dass sein Autor Jude ist. Aber das würde bedeuten, der Grad an Judentum eines Autors sei eine entscheidende Grösse bei der Interpretation literarischer Texte. Das aber wäre ein ebenso absurdes wie bedenkliches Argument. – Allerdings hatte ich in meiner Besprechung erwähnt, dass die Motive eines Autors relativ unerheblich dafür sind, welche Aussagen, Bilder und Wertvorstellungen ein Text entfaltet. Und auch die Frage, ob er Jude ist oder nicht.»). Warum spielt es bei Lorenz’ Untersuchung des Textes keine Rolle, ob Meyer Jude ist, Weltwoche Autor aber schon? Er erhebt damit einen ungeheuerlichen Vorwurf: Weil Meyer bei dem «rechtsäusseren» Blatt schreibend tätig ist, könnte sein im Buch manifestierender Antisemitismus (laut Lorenz) ja auf echten Überzeugungen fussen. Oder er wolle damit den eh schon antisemitischen Blick seiner Leserschaft bedienen. Der Weltwoche-Verweis ist keine leere Aussage. Sie dient einem Zweck und was damit insinuiert wird, ist eklig. Lorenz denkt im Schema rechts = antisemitisch / links = pro-Israel. Eine dichotome Formel, die niemand so unterschreiben würde, der oder die in den letzten Jahren auch nur einen Kommentar zu diesem Thema von den rechten, evangelikalen Kommentatoren Glenn Beck oder Sean Hannity gehört hat. Oder wer einem der jetzigen Präsidentschaftskandidaten der republikanischen Partei zuhört. Oder wer sich die Reaktion derselben auf den Iran-Deal unter Obama angesehen hat. Lorenz hantiert hier mit solch veralteten Mustern, um einen Autor zu diffamieren, dass man dahinter, wie Meyer selbst sagt, eine paranoide Leseart vermuten darf.

«Antisemitische Stereotype werden fortgeschrieben, ohne ihre Geschichte zu reflektieren und ihre Effekte zu hinterfragen, ohne sie zu problematisieren oder zu entkräften», meint Lorenz. Irgendwie klingt das eher nach Beruf und nicht nach Berufung. Muss die Kunst diese Aufträge tatsächlich selbst erfüllen? Oder gibt es für langweiligere Jobs nicht auch langweiligere Menschen, die sie getreu ihrem Glauben und ihrer Überzeugungen pflichtgemäss ausführen?

Er sei sich bewusst, meint Lorenz, dass seine Kritik auch wegen seiner deutschen Herkunft «heikel» sei. Hier wünschte man sich die von ihm geforderte Autarkie herbei, denn ob er Deutscher, Iraner oder Papuaneugenier ist, ist absolut irrelevant. Niemand würde ihm vorwerfen, die geäusserte Kritik fundiere auf dem Wappen seines Passes.

Für was er sich hätte entschuldigen können, ist das Nichtvorhandenseins eines Sinns für Humor, und spezifisch, für die wahrscheinlich reichste humoristische Tradition überhaupt: die Jüdische. Sie ist, entschuldigen Sie den Kalauer, quasi das Mekka der Selbstironie. Etwas, was Menschen aus diesen Breitengraden oft nicht einmal dann erkennen, wenn man sie damit auf den Kopf schlägt.

Leute wie Woody Allen und der divine Larry David haben sich hier in Territorien vorgewagt, die Gois (Nichtjuden) versagt sind. Und das aus gutem Grund! Nochmals, es geht hier um die Frage: Darf ein Jüdin über den Holocaust spassen (fragen Sie Sarah Silverman)? Dürfen Afro-Amerikaner den Begriff Nigger verwenden, und ist dieser nur ihnen vorbehalten? Jay-Z sagt zu Letzterem klar ja. Somit werde der hässliche Begriff seinem angestammten Kontext entrissen und zu einem endearing (liebeswerten) Terminus.

Eine Betrachtung der sublimen Serie Curb your Enthusiasm, eines Comedy-Sets von Jim Jeffries, Bill Burr oder Louis CK, muss Jünger der politischen Korrektheit in ein paralysierendes Wachkoma senden.

Ist Larry David also antisemitisch wenn er in einer Episode aus Versehen einem Holocaust-Überlebenden (survivor) eine muskulösen survivor der gleichnamigen TV-Serie gegenübersetzt und die beiden  darüber zu streiten beginnen, ob ein Konzentrationslager nun tatsächlich schlimmer war, als wochenlang im Sand in Flip-Flops rumzulatschen. Oder wenn er fröhlich Wagner vor sich hin pfeift. Oder wenn er sich beim Sex mit einer Palästinensischen Hünchenrestaurant-Besitzerin nur zu gern aufgrund seiner Herkunft beleidigen lässt. Nachtragend aber seinem jüdischen Freund versichert, dass das ein kleiner Preis für den besten Sex sein, den er je gehabt hat.

Ist Larry David antisemitisch? Natürlich nicht! Darf ein Katholik so etwas produzieren? Niemals!

Die von Lorenz angesprochenen Klischees sind gerade Teil des Humors. Die überdominante Mutter (wie wir sie zB. beim jüdischen Charakter Howard Wolowitz der Serie Big Bang Theory her kennen, der notabene von einem jüdischen Schauspieler gespielt wird), oder das Verhältnis zu Geld. Wieder in Curb your Enthusiasm: David findet heraus, dass sein Anwalt Berg gar nicht jüdischer, sondern schwedischer Herkunft ist. Panisch entzieht er ihm jegliche Macht und vertraut einen wirklich jüdischen Anwalt mit seiner Scheidung, nur um dann sein Haus n seine Frau zu verlieren.

Nie hätte eine solch peinliche Diskussion im angelsächsischen Raum stattgefunden. Obwohl auch dort die Sucht des Beleidigtseins grassiert. Viele Satiriker weigern sich mittlerweile, die lukrativen Einladungen von Universitäten anzunehmen, da sich unter dem Publikum ein erschreckend grosser Anteil von Leuten verbirgt, deren Existenz sich nur aus der Erfahrung speist, konstant wegen irgendwas beleidigt zu sein. Die Bereitschaft, über sich selbst zu lachen, existiert nicht. Ihre Umgebung sehen sie nicht als eine die eigenen Gedanken herausfordernde universitäre Institution an, sondern als Wohlfühl-Kita, mit Ausblick und Schmuseecke.

Der Umgang mit den eigenen Abgründen, der eigenen Herkunft und Verfassung scheint bei Personen wie Allen und David  entspannter und, dem jüdischen Gott sei Dank, deshalb auch lustiger.

#1 Als zweimaliger Ab-Abonnent des Blattes weiss ich ausnahmsweise mal ein bisschen Bescheid. Die Abbestellung folgte keiner Ideologischen Ader meinerseits, sondern nachdem ich zu meinem eigenen Verdruss bemerken musste, dass sich unter Köppel vor allem das antagonistische Anschreiben gegen jedwelche, als Mainstream gebrandmarkte Inhalte, zum eigentlichen journalistischen Mantra der gesamten Redaktion entwickelte. Eiskappen wuchsen auf den Seiten der Weltwoche ebenso an wie der Nutzen eines kannibalistischen Kapitalismus für die dritte Welt (Geschieht natürlich später, es nennt sich sich ja auch trikle- und nicht pouring-down Effekt). Man kann und soll der Weltwoche vieles vorwerfen, eine anti-israelische Haltung entbehrt aber jeglicher Grundlage. 
Sensibelchen klicken folgende Links besser nicht an: Curb your Enthusiasm: Survivor: www.youtube.com/watch?v=In2XfN3hIi4  Curb your Enthusiasm: Larry hat Sex mit einer Palästinenserin: www.youtube.com/watch?v=kEQL0pnMSls  Curb your Enthusiasm: Are you jewish?www.youtube.com/watch?v=kQ1u9Fno3jU  Curb your Enthusiasm: Schwedischer Anwalt: www.youtube.com/watch?v=uGkLjfPWqeI&ebc  Triumph the Insult Comic Dog (vom jüdischen Satiriker Robert Smigel „gespielt“) gibt ein Beispiel politischer Korrektheit: www.youtube.com/watch?v=j556MWGVVqI  Sarah Silverman als Hitler: www.youtube.com/watch?v=7DcrmnRijTQ  Sarah Silverman: Jewish people driving German cars: www.youtube.com/watch?v=whixWpH9MVQ  Trump und seine Gedanken zu Israel (hier sollte erwähnt werden, dass es eine immer noch grosse linke Bewegung in der israelischen Politik gibt und viele genauso wenig von Trumps Aussagen halten wie die meisten Europäer) :www.youtube.com/watch?v=FHL2ZrbdeA4  Interaktives Tool der Washington Post mit Konversationen zu dem umstrittensten Wort der englischen Sprache: www.washingtonpost.com/wp-dre/features/the-n-word  Ein Washington Post und The Atlantic Artikel zur Thematik der political correctness und warum sich Satiriker gegen einen Auftritt an einer Universität entscheiden. www.washingtonpost.com www.theatlantic.com  Buch: Ein Hering im Paradies – Enzyklopädie des jüdischen Witzes: www.amazon.de
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Bericht
arte

Tipp
Hin Van Tran

Die Karikatur vor und nach Charlie Hebdo

Darf man ein Jahr nach den Attentaten auf Charlie Hebdo noch über alles Witze machen? Arbeitet Chapatte seitdem anders? Gibt es so etwas wie die Karikatur vor und nach Charlie Hebdo? In Pakistan geboren, in Singapur und der Schweiz aufgewachsen - hat Chapatte von Amerika aus einen anderen Blick auf die Ereignisse in Frankreich? Antworten darauf gibt uns der Karikaturist in seinem Atelier und an seinen Lieblingsorten in L.A.

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Darf man ein Jahr nach den Attentaten auf Charlie Hebdo noch über alles Witze machen? Arbeitet Chapatte seitdem anders? Gibt es so etwas wie die Karikatur vor und nach Charlie Hebdo? In Pakistan geboren, in Singapur und der Schweiz aufgewachsen – hat Chapatte von Amerika aus einen anderen Blick auf die Ereignisse in Frankreich? Antworten darauf gibt uns der Karikaturist in seinem Atelier und an seinen Lieblingsorten in L.A.

ARTE Reportage zeigt noch einmal «Square für Künstler», das Porträt des Karikaturisten Chapatte, gedreht von einem Berufskollegen, dem Comiczeichner und Gewinner des France Info Comic Preises 2014 Nicolas Wild. Thema: Vom Alltag und den Zukunftsperspektiven eines Zeitungs-Karikaturisten…

Origin: ARTE
Land: Frankreich, Deutschland
Jahr: 2015
Arte+7: 06.03-13.03.2016
Erstausstrahlung am Dienstag, 15.03.2016

Bild: Anika Rutkovski
Bild: Anika Rutkovski
Bild: Peter Kraut
Bild: Peter Kraut
Bild: Anika Rutkovski
Bild: Anika Rutkovski
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Text
Leo Dick

Im Labyrinth des zeitgenössischen Musiktheaters

Der Bereich klassischer Musik zeigt sich oft etwas renitent gegenüber Strömungen und Entwicklungen in benachbarten Kunstsparten.

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In seinem doc.mobility-Projekt performing speech nimmt Leo Dick, Lehrbeauftragter und Forschender an der HKB, neueste Entwicklungen des zeitgenössischen Musiktheaters unter die Lupe. Im Fokus seiner Feldforschung steht mit der Münchener Biennale für neues Musiktheater das bedeutendste Uraufführungsfestival dieses Bereichs, das sich in diesem Jahr neu erfindet. Leo Dick begleitet eine HKB-Produktion aus dem Studienbereich Théâtre Musical nach München, die dort Ende Mai ihre Premiere erlebt.

Bild: Anika Rutkovski

Der Bereich klassischer Musik zeigt sich oft etwas renitent gegenüber Strömungen und Entwicklungen in benachbarten Kunstsparten. Während etwa die bildende Kunst oder das moderne Schauspieltheater schon lange die «performative Wende» ausgerufen haben, «Prozesse» und «Ereignisse» fokussieren, hält die Neue Musik unbeirrt am statischen, monolithischen «Werk» fest, an der abgeschlossenen Komposition, die über allem steht und nur noch interpretiert, d.h. durch dienende MusikerInnen umgesetzt werden muss. In der Nische des Neuen Musiktheaters kündigt sich jedoch ein Umdenken an, eine Annäherung an die Praxis des Schauspiels mit seinen offenen, kollaborativen Arbeitsmethoden. Der Restart der traditionsreichen Münchener Biennale für neues Musiktheater in diesem Jahr unter neuer Leitung reagiert auf diese aktuellen Tendenzen. Während an den vergangenen Festivalausgaben im Prinzip die gute alte Oper in neuem Gewand zelebriert wurde, versteht sich das Festival unter der Doppelintendanz von Manos Tsangaris und Daniel Ott nunmehr als Experimentierlabor. Anders als üblich werden keine etablierten Komponistenstars mit Werkaufträgen betraut, sondern von vornherein ganze Autoren- und Produktionsteams auf gemeinsame Entdeckungsreise geschickt. Dabei sollen Arbeiten entstehen, die alte Formschemata aufbrechen und in eine neue Art von Dialog mit ihrem Publikum treten.

Das vom Schweizerischen Nationalfonds finanzierte Projekt performing speech setzt sich zum Ziel, diesen hehren ästhetischen Anspruch mit der produktionstechnischen Realität abzugleichen: Kann sich das tendenziell aufwändige und behäbige Musiktheater, das bislang stets auf sukzessiver Arbeitsteilung und normiertem Spezialistentum basierte, auf einmal dieselbe Flexibilität erschliessen wie das traditionell viel beweglichere Schauspiel? Wahrt es seine Identität auch dann noch, wenn es sich der Aktions- oder Medienkunst, dem «postdramatischem» oder «postspektakulärem» Theater, der Installation annähert? Solche Fragen sollen vor allem anhand eines konkreten Fallbeispiels thematisiert werden: Das Projekt The Navidson Records des Berner Regisseurs und Musikers Till Wyler von Ballmoos ist eine Koproduktion der Biennale München, von Konzert-Theater Bern und der Klasse Théâtre Musical der HKB. Der Entstehungsprozess dieses «Musiktheaters als Installation» ist bereits seit Längerem in vollem Gange und weist in der Tat einige genreuntypische Besonderheiten auf. Startpunkt des Projekts war keine musikalische Idee und auch keine Story im Sinne eines nacherzählbaren Plots, sondern die Vorstellung eines bestimmten Raums, nämlich eines Labyrinths. Inspirieren liessen sich Till Wyler von Ballmoos und der Szenograph und Raumkünstler Tassilo Tesche hierzu von dem amerikanischen Kultroman House of Leaves von Mark Danielewsi. Die Vorlage wird allerdings keineswegs in klassischer Manier «vertont» – sie dient vielmehr als Keimzelle für die Entstehung eines ganz eigenen klanglich-räumlichen Irrgartens. Insofern steht die Produktion paradigmatisch für die derzeitige Orientierungssuche des zeitgenössischen Musiktheaters, auf die auch die begleitende und erklärende Musiktheaterwissenschaft mit der Erkundung neuer Untersuchungs- und Analysemethoden reagieren muss.

Näheres zur Produktion The Navidson Records und zum gesamten Festivalprogramm der Münchener Biennale für neues Musiktheater unter: www.muenchenerbiennale.de In der neuesten Ausgabe der Zeitschrift dissonance findet sich ferner ein Interview, das Roman Brotbeck mit den beiden Intendanten Manos Tsangaris und Daniel Ott geführt hat: www.dissonance.ch/de/hauptartikel/1124

Bild: Peter Kraut Bild: Anika Rutkovski

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Interview
Stefan Sulzer

Wann ist Wahn Wahn? Und kann er auch witzig sein?

Fragen an den Psychiater Dr. Oliver Pintsov

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Ich treffe Dr. Oliver Pintsov, einen aus Wien stammenden Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie in seiner Wohnung im Zürcher Niederdorf. Dr. Pintsov hat in Wien Medizin und in Basel Sexualtherapie studiert und seine Ausbildung in Wien und Zürich absolviert. Derzeit ist er konsiliarisch für die KJPP (Klinik für Kinder und Jugendpsychiatrie und  Psychotherapie) und in freier Praxis tätig.

Nähere Informationen zur Person unter: www.pintsov.com

Stefan Sulzer: Wie würden Sie, medizinisch gesehen, Wahn definieren?

Oliver Pintsov: Der Wahn ist eine Vorstellung, die nicht unseren allgemein gültigen Realitätsvorstellungen entspricht.

S: Quasi ein von der Gesellschaft tradierter Wert, der als «normal» gilt.

O: Das wäre das Gegenteil vom Wahn. Eigentlich ist jegliche Religiosität per Definition Wahn. Aber es ist kulturell akzeptiert, somit werten wir es nicht als Wahn.

Etwas, das für die Allgemeinheit eine Überzeugung darstellt, die nicht mit unseren Vorstellungen vereinbar ist, wird als Wahn bezeichnet.

S: Das heisst, was bei uns als Wahn gelten könnte, würde in einem anderen Kulturkreis gar nicht als Wahn klassifiziert werden?

O: Absolut. In den afrikanischen Kulturen findet sich eine ganz andere Akzeptanz von Spiritismus, Geistern und so weiter. Das ist dort verankert und wenn jemand sagt, er ist besessen, dann wird das akzeptiert und nicht als Wahn gedeutet. Bei uns hingegen wird jemand psychiatrisch behandelt wenn er meint, er sei von etwas besessen.

S: Was sind die Diagnose-Tools, um zu bestimmen: Diese Person leidet unter Wahn?

O: Generell diagnostizieren wir in der Psychiatrie indem wir Fragen stellen. In den meisten Fällen ist es ja so, dass der Wahn augenscheinlich ist. Häufig kommt dann jemand und erzählt, dass er das Gefühl hat, «er wird verfolgt». Fragt man nach wird es immer klarer, dass er kein «echter Geheimagent» ist. Somit werden die Wahnvorstellungen recht deutlich.

Es gibt aber auch Fälle, in denen die betroffene Person argwöhnisch ist und schon eine so paranoide Haltung entwickelt hat, dass sie erst gar nicht mit den Inhalten ihres Wahns herausrückt. Dann lässt es sich nur anhand anderer Anzeichen vermuten.

S: In Ihrer Praxis als klinischer Psychiater und Sexualtherapeut – wie oft kommen Sie in Ihrer Tätigkeit in Berührung mit Leuten, die unter Wahnvorstellungen leiden?

O: Ich habe meine Ausbildung zwei Jahre lang auf einer Station in Wien begonnen, die sich fast ausschliesslich mit Psychosen beschäftigt hat. Da war Wahn Alltagsgeschäft. 80-90% der Patienten haben dort Wahnsymptome gezeigt. Jetzt in der Praxis ist es viel seltener. Wenn, dann bekomme ich Zuweisungen von Kollegen, die eine Nachbetreuung eines Menschen wünschen, der psychotisch ist oder gewesen ist. Ich habe aktuell nur eine einzige Person mit einer wahnhaften Symptomatik.

Grundsätzlich sind Personen mit Wahnvorstellungen seltener in einem Praxissetting anzutreffen, als in einem stationären Setting im Spital.

S: Was sind die Schritte, die gemacht werden, nachdem Sie die Diagnose, dass eine Person unter Wahnvorstellungen leidet, gestellt haben? Wie sehen die ersten Massnahmen aus? Ich nehme an, dass auch medikamentös behandelt wird?

O: Man muss zuerst sagen, dass Wahn per se keine Diagnose ist, sondern ein Symptom im Rahmen von Diagnosen. Das kann im klassischen Fall bei der schizophrenen Psychose auftreten, wo man typischerweise den Verfolgungswahn beobachten kann. Der schwarze Helikopter, Hirnchip, usw.

Der Wahn kann aber genauso auftreten bei der Manie – typischerweise der Grössenwahn oder bei einer Depression, da sind dann häufig Verarmungswahnvorstellungen zu beobachten. Das kann sogar soweit gehen, dass man denkt, man sei eigentlich tot, nicht mehr existent. 

Also, der Wahn ist Teil von verschiedenen psychiatrischen Erkrankungen. 

Generell ist die Gabe von Medikamenten wie Antipsychotika häufig der erste notwendige Schritt, weil dadurch eine gewisse Distanz entsteht. Was beim Wahn passiert, ist dass einem Dinge zu nah kommen. Man hat keinen Überblick mehr, Eindrücke sind so intensiv und werden so persönlich verarbeitet, dass man sich davon nicht lösen kann. Klassisches Beispiel: Man läuft durch die Stadt und jemand schaut einen etwas komisch an. Man sagt dann zu sich nicht: «Der schaut einfach». Sondern man bezieht das Schauen auf sich, das wird dann Beziehungsideen genannt. Das ist der erste Schritt — alles wird auf sich bezogen und so verarbeitet, dass es sukzessive als unmittelbare Bedrohung wahrgenommen wird. Und die Antipsychotika schaffen es häufig, eine Gewisse Distanz hinein zu bringen. Erst dann ist ein therapeutisches Arbeiten möglich.

S: Gibt es Fälle, die Sie erlebt haben, die wirklich als «crazy» bezeichnet werden könnten?

O: Da möchte ich lieber Beispiele aus Wien bringen, im Fall, dass das jemand lesen und sich darin wiedererkennen würde.

S: Das lesen keine drei Leute…aber bitte.

O: Was sicherlich einer der spezielleren Fälle war, war eine Dame, die ich in Wien therapiert habe: Sie dachte, sie müsse mithilfe ihrer sexuellen Energie Osama Bin Laden finden. Sie hatte das Gefühl, Ärzte ohne Grenzen würde sie anheuern, damit sie durch ihre sexuelle Attraktivität Osama bin Laden aufspüren würde.

S: Um ihn dann umzubringen?

O: Nein, einfach nur mal aufspüren.

Dann habe ich mal eine Person gehabt, die, als sie aus dem Spital entlassen wurde, gesagt hat: «Herr Doktor, ich habe gute Neuigkeiten. Der Kühlschrank spricht nicht mehr mit mir. Aber dafür die Waschmaschine.»

S: Und das wurde dann als «geheilt» abgehakt?

O: Das war dann wirklich ein trauriger Fall, der nicht heilbar war. Den konnte man stabilisieren, so dass er in einem Setting ausserhalb des Spitals leben konnte, aber der war dann sehr häufig wieder bei uns. Er hat auch bei der Visite auf die Frage, wie es ihm ginge, gesagt: «Nicht gut, weil ich bin gestern vier mal gestorben.»

Was ich sehr spannend fand, war als ein Patient auf eine Mitpatientin zeigte und zu mir sagte: «Herr Doktor, Herr Doktor! Ich bin gerade diese Person.» Aber das geht schon über den Wahn hinaus. Darüber könnte man jetzt philosophieren. Im angloamerikanischen Raum würde das als Wahn bezeichnet werden, bei uns würde man von einer Ichstörung reden.

S: Und zuletzt: Kann Wahn auch witzig sein?

O: Humor entsteht doch häufig aus Situationen, die unerwartet sind. Wo man aneinander vorbeiredet. Natürlich – wenn jemand in einer eigenen Realität lebt, ist es klar, dass solche Situationen entstehen, Situationskomik eben. Davon muss man sich distanzieren. Das ist für alle Patienten, ausser beim Größenwahn, mit einem hohen Leidensdruck verbunden. Selbst wenn man in einer solchen Situation persönlich schmunzeln würde, für die betroffene Person ist das bitterer Ernst und stets mit Leiden verbunden.

Christophe Tison est e?crivain et journaliste (Canal+).
Christophe Tison est e?crivain et journaliste (Canal+).
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Tipp
Déborah Demierre

Tipp: «LANORMALITÉ»

Ces multiples entretiens soulignent la difficulté à définir la normalité et plus encore quand il s'agit de l'appliquer à son identité, lorsque Stéphanie Pahud demande à ses interlocuteurs: «Vous vous trouvez normal?».

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La linguiste Stéphanie Pahud se pose la question de la normalité depuis son plus jeune âge. A travers un essai intitulé «LANORMALITÉ», plutôt que de répondre uniquement de façon académique à son interrogation, elle récolte des pistes autour des rapports entre normes, discours et identité.

Elle s’interroge également sur les notions de «vraie femme» et de «bon français», thèmes chers à la maître d’enseignement et de recherche en Lettres à l’Ecole de français langue étrangère de l’Université de Lausanne.

Ainsi, Stéphanie Pahud propose son point de vue de chercheuse mais donne aussi la parole à d’autres professionnels. Ce livre participatif expose alors les réflexions d’artistes, d’un chercheur en neurosciences cognitives, d’un avocat, d’un médecin ou encore d’un sociologue répondant à des questions autour de la normalité. Leurs définitions de la norme, son utilisation ou sa présence dans leurs travaux ou encore la possibilité de s’en détacher sont abordées différemment selon la sensibilité et l’intérêt de chaque personne interviewée.

Ces multiples entretiens soulignent la difficulté à définir la normalité et plus encore quand il s’agit de l’appliquer à son identité, lorsque Stéphanie Pahud demande à ses interlocuteurs: «Vous vous trouvez normal?».

Ci-dessous la réponse de Christophe Tison à cette question:

Christophe Tison est e?crivain et journaliste (Canal+).

Vous vous trouvez normal, Christophe Tison? Ne rien renier, ne rien cacher, fait de moi un e?tre infiniment normal et sain.

J’ai été enfant abusé puis punk cheveux rouges et noirs, j’ai été new-wave petit costume puis ska pantalons à carreau, j’ai été romantique à la Werther puis étudiant sage à chemise blanche, j’ai été hip-hop à capuche puis technoïde fluo des premières raves; je me suis promené en blouson de cuir noir sur les plages d’Italie et à demi nu dans les rues de Manchester; j’ai fumé de l’herbe puis pris de l’héroïne, de l’alcool et de la cocaïne, je me suis injecté tout ce qu’on peut s’injecter, j’ai bu et avalé tout ce qu’on peut boire et avaler jusqu’à n’en plus pouvoir, j’ai fréquenté les rues sombres et le dessous du monde à la recherche d’une dernière piqûre et dans le même temps dansé dans les salons et les boîtes de nuit de la jeunesse dorée en quête d’une fête sans fin; j’ai eu de l’argent, j’ai été endetté, j’ai habité chez moi et chez les autres, j’ai été menteur et honnête, voleur et généreux; j’ai follement aimé Nietzsche et Pascal, les feux les plus contraires, Proust et Bukowski, Franz Hals et James Turrell; j’ai été père attentif et négligeant, mari infidèle et amant sans faille; j’ai été interné en hôpital psychiatrique, diagnostiqué psychotique puis j’ai arrêté les drogues et l’alcool et pris le monde en plein visage et je l’ai enfin aimé… J’ai été tout cela, je ne cache rien et je ne renie rien. J’ai été tout cela et de ne rien renier, de ne rien cacher, fait de moi un être infiniment normal et sain dans un monde où chaque jour on vend des femmes en cages, un monde où on massacre au couteau de cuisine le sexe de petites filles, où on tue pour des dessins, où des jeunes filles pauvres d’argent et d’esprit avalent entièrement sur Youporn des sexes d’hommes jusqu’à s’en faire vomir et où des millions d’autres hommes les regardent en se masturbant quand leurs femmes sont endormies, un monde où on pend en pleine ville des opposants à des grues, un monde enfin où les 80 personnes les plus riches trouvent normal, elles, d’avoir autant d’argent que plus de la moitié de l’humanité et de la contraindre ainsi à vivre dans leur poubelle, et à lécher leurs emballages.   

Extrait (p.265-266) tiré de «LANORMALITÉ»
publié aux Editions de L’Age d’Homme. 

Cet essai polyphonique ose de nouvelles formes pour réfléchir à un sujet complexe. Son originalité ainsi que sa grande qualité en font un ouvrage à découvrir au plus vite!

Et vous, vous vous trouvez normal-e? Vous êtes invité-e-s à livrer votre réflexion sur le blog de Stéphanie Pahud: www.hysteriesordinaires.com

A lire : Stéphanie Pahud, «LANORMALITÉ»,
Ed. L’Age d’Homme, Lausanne, 2016, 327 p.
Illustrations : Louisa Becquelin – www.louiza.ch 
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Auswahl
Hin Van Tran

Fake-Kundendienst auf Facebook

Eigentlich wird Kundendienst-Mitarbeitern eingebläut, mit stoischer Geduld und Freundlichkeit auf noch so dumme Beschwerden zu antworten. Was passiert aber, wenn man sich als Kundendienst des Unternehmens ausgibt und genau das Gegenteil macht?

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