Ausgabe #11
Herbst 2016

Zeitalter

Zeitalter

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Text
Daniela Wüthrich

Vom Waten und Fliessen

Die Zeit – wie langsam, schleppend, zäh sie vergeht...

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Die Zeit – wie langsam, schleppend, zäh sie vergeht… Beinah unmerklich bewegen sich die Uhrzeiger, als wären die Minuten Stunden. Die Zeit schwer und träge lastet sie auf unseren Schultern, drückt einen zu Boden. Und bei jedem Schritt fühlt es sich an, als würde man durch dicke, lehmige Saucen waten. Schlamm, der an den Schuhsohlen hängen bleibt, nach unten zieht. Füsse wie aus Blei. Sie versinken in diesem braun-schwarzen Morast. Zwischen den Fingern, wie Schwimmhäute bei Wasservögeln, klebt lehmiger Brei. Das Vorankommen damit ist nicht leichter – im Gegenteil. Die Glieder werden immer schwerer, und bei jedem Eintauchen der Füsse in den dunklen, zähflüssigen Schleim entstehen Blasen. Es blubbert. Der Schlamm tropft nur langsam in Klumpen vom Körper. Waten – weiter waten durch den Sumpf.Die Zeit – wie rasch sie vergeht… Wie das Rinnsal einer Sanduhr fliesst sie, zerrinnt, sickert, versickert. Leicht und fein die winzigen Sandkörner, die kleine Hügel hinter dem Glas auftürmen. Und kurz bevor sie durch den Trichter rinnen das Gefühl, der Strahl würde noch schneller rieseln. Man möchte den sandigen Fluss aufhalten, festhalten oder eines der Sandkörnchen auffangen – diesen einen Moment. Man wünscht sich, jedes Detail nochmals erleben zu dürfen. Aber wie? Die Sanduhr bestücken mit gröberen Körnern, um das Rinnsal zu verlangsamen? Oder das Glas einfach umdrehen, um immer wieder Zeit zu gewinnen im Jetzt? Den Moment ausdehnen, damit er so lange wie möglich bleibt?

Einmal zäh und ächzend langsam, mühsam, kaum denkbar, dass sie vorüber geht. Dann wieder rasend schnell, fliegend, mit Leichtigkeit zieht sie an uns vorbei. Die Zeit – ist sie nicht viel eher Empfindung als Stunden, Tage, Jahre?

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Portrait
Déborah Demierre

Rencontre avec Verena Moser

Verena Moser est une octogénaire sensible et curieuse. Cette ancienne infirmière a toujours créé, en parallèle à sa vie professionnelle et familiale. C‘est à 50 ans qu’elle intensifie sa pratique artistique.

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Verena Moser, Birke-Prägung, aquatinte, soap ground, 76x48 cm, 2000.
Verena Moser, Birke-Prägung, aquatinte, soap ground, 76x48 cm, 2000.
VERENA MOSER, ENGADINE, AQUARELLE, 28X26 CM, 2000
VERENA MOSER, ENGADINE, AQUARELLE, 28X26 CM, 2000
Verena Moser,Eis Einschlüsse, aquatinte, aquarelle, 76x55 cm, 2008.
Verena Moser,Eis Einschlüsse, aquatinte, aquarelle, 76x55 cm, 2008.
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Text
Daniel Hell / NZZ-Online

Tipp
Hin Van Tran

Die Herrschaft der Zeit – Über die Langeweile

Langeweile, so sagt ein zerstreuungssüchtiger Zeitgeist, soll nicht sein. Doch sie überkommt uns immer wieder – und wer vor ihr davonrennt, den wird sie umso sicherer einholen. Die philosophische und religiöse Tradition kennt einen anderen Umgang mit dieser Befindlichkeit.

FB

Langeweile löst Abwehr aus. Sie ist der Inbegriff von Monotonie, fruchtlosem Warten, von Lästigkeit und Überdruss. Trotzdem – oder gerade deshalb – ist Langeweile ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Was ginge der Ökonomie verloren, wenn nicht mehr gearbeitet würde, um der Langeweile zu entrinnen? Was bliebe von der Unterhaltungsindustrie, wenn ihr stärkster Komplize, das Sich-Langweilen, ausbliebe? Langeweile ist wohl jene Befindlichkeit, die moderne Menschen am meisten zu vermeiden und zu bekämpfen suchen. Da aber jede Form von Unterhaltung, ganz besonders die seichte Unterhaltung, nur kurzfristig wirkt und den Stachel der stets drohenden Langeweile nicht wirklich zu ziehen vermag, kann jener Industriezweig mit ständig anhaltendem Interesse rechnen. Doch sind immer neue Reize nötig, um keine Gewöhnung und keinen Überdruss aufkommen zu lassen.

Blaise Pascal

Schon der Mathematiker und Philosoph Blaise Pascal (1623–1662) notierte in seinen «Pensées»: «Nichts ist dem Menschen unerträglicher als völlige Untätigkeit, also ohne Leidenschaften, ohne Geschäfte, ohne Zerstreuungen, ohne Aufgaben zu sein. Dann spürt er seine Nichtigkeit, seine Verlassenheit, sein Ungenügen, seine Abhängigkeit, seine Ohnmacht, seine Leere. Alsogleich wird dem Grunde seiner Seele die Langeweile entsteigen und die Düsternis, die Trauer, der Kummer, der Verdruss, die Verzweiflung. [. . .] Das ist der Grund, dass die Menschen so sehr den Lärm und den Umtrieb schätzen, der Grund, dass das Gefängnis eine so furchtbare Strafe ist, der Grund, dass das Vergnügen der Einsamkeit unvorstellbar ist.»

Pascal glaubte, die Abwehr der Langeweile stelle einen Grundzug des Menschen dar. Aber erst in der Moderne, vor allem in der Romantik, wurde die Langeweile zu einem breit wahrgenommenen Problem, das auch das Bürgertum erfasste. Zuvor war Langeweile ein Thema des Adels und des Mönchtums. Die Ausweitung hat mit dem technischen Fortschritt und der Individualisierung zu tun. Der technische Fortschritt hatte einen doppelten Effekt. Zum einen ermöglichte er breiteren Bevölkerungsschichten mehr Freizeit, zum andern erlaubte er die Anwendung immer raffinierterer Mittel, um die sich verbreitende Langeweile abzuwehren. Man denke nur an die extrem gesteigerte Mobilität in unserer Gesellschaft mit vielen neuen Reizquellen oder an die rasante Verbreitung immer neuer Medien.

Auch wenn heute die Kehrseite dieses technischen Fortschritts, der mit Beschleunigung einhergeht, offensichtlicher wird und sich viele Menschen «Entschleunigung» wünschen, bleibt Stillstand verpönt. Das Verharren und fehlende Fortschritte sind nicht nur in Wirtschaft und Wissenschaft eine gefürchtete Sache, sondern auch im Alltagsleben unterhaltungsgewohnter Menschen.

Langeweile hat viele Facetten und nimmt als «rasender Stillstand» (Virilio) eine Art Schaltstelle in der Dynamik vieler psychischer Störungen ein. So leiden depressive Menschen häufig darunter, dass die Zeit stillzustehen und alles sinnlos zu sein scheint. Auch bestimmte Weisen der Abwehr von Langeweile sind mit psychischen Problemen assoziiert, etwa Aufmerksamkeitsstörungen und Suchtkrankheiten. Neuerdings wird in der Psychologie auch von «boreout» gesprochen, wenn Unterforderung am Arbeitsplatz zu krankheitsförderndem Stress führt (vom englischen Wort «boredom» für Langeweile abgeleitet und im Kontrast zum allgegenwärtigen «burnout»).

Wüstenväter und -mütter

Langeweile ist aber mehr als ein Symptom. Sie ist eine menschliche Erfahrung, die seit der Antike Philosophen und religiöse Denker zu einer Auseinandersetzung mit Grundfragen der Existenz anregt. Besonders eingehend und differenziert haben sich die frühchristlichen Eremiten mit der Langeweile auseinandergesetzt, waren sie doch der Einsamkeit und Monotonie in der Wüste in extremer Weise ausgesetzt. Aber gerade die Unausweichlichkeit der langen Weile hat die Wüstenväter und -mütter, wie diese Eremiten auch genannt werden, erfahren lassen, dass es verschiedene Arten dieser Befindlichkeit gibt.

So fürchteten sie weniger das geduldige Warten auf ein Ereignis – darin übten sie sich sogar – als vielmehr eine existenzielle Langweile, die mit Unzufriedenheit und dem Gefühl der Sinnlosigkeit einhergeht. Gefährlich erschien ihnen nicht die Streckung der Zeit, die das deutsche Wort Langeweile betont, sondern eine damit verknüpfte innere Ruhelosigkeit und Hektik, die nach Sedation oder Ablenkung ruft. Diese rastlose Langweile, Leere und Verdriesslichkeit bezeichneten sie als «acedia» – meist mit «Trägheit» übersetzt – und verstanden darunter einen Zustand, der nach heutigem Sprachgebrauch «depressive Züge» hat.

Wandlung einer Versuchung

Sie sahen in der Langeweile eine spirituelle und ethische Herausforderung, weil sie die Erfahrung machten, dass die «leere» Zeit der Langeweile leichthin zu narzisstischen Phantasien und egozentrischen Handlungen verleitet und dazu verführt, das Dauerhafte und «Ewige» aus den Augen zu verlieren. Ihr spiritueller Weg und ihr religiöses Verständnis liessen sie aber in der Langeweile nicht nur einen Mangelzustand oder eine «dämonische Versuchung» sehen, sondern auch eine Realität, der sie sich zu stellen hatten. Sie warnten deshalb davor, zu glauben, die Akedia, die zu den sieben Todsünden zählte, ein für alle Mal überwinden zu können. Vielmehr erachteten sie deren Auftreten auch als Ansporn, aufs Neue ein langes Verweilen im Augenblick zu suchen, der eine Wandlung bringt. So lautet ein Väterspruch: «Geh, setz dich in deine Zelle. Sie wird dich alles lehren.»

Heute hat die Langeweile diese spirituelle und ethische Komponente verloren. Langeweile wird aus ganz anderen Gründen gemieden. Sie wird vor allem abgelehnt, weil sie das Wohlbefinden behindert, das Untätigsein fördert und der sozial geforderten Selbständigkeit entgegensteht. Das Auftreten von Langeweile wird auch kaum mehr als Aufforderung verstanden, sich wieder dem Eigentlichen und Wesentlichen im Leben zuzuwenden, sondern viel häufiger als frustrierender Zustand erlebt, den es möglichst rasch zu verlassen gilt. Langeweile wird also meistens als Reizmangel verstanden, der Unzufriedenheit hervorruft.

Mit anderen Worten: Aus der Versuchung des Mittelalters scheint eine Befindlichkeitsstörung geworden zu sein, die in leichteren Fällen durch Ablenkung und andere Bewältigungsstrategien überwunden werden soll und in schwereren Fällen einer medizinischen Therapie bedarf.

Dieser Umbruch hat eine lange Geschichte. Der zitierte Blaise Pascal ist wohl der erste Philosoph der Neuzeit, der ein Gespür für diesen sich abzeichnenden Wandel entwickelte. Als Philosoph des 17. Jahrhunderts hoffte er noch, durch eine Rückkehr zum Glauben oder durch dessen Vertiefung die Entwicklung aufhalten zu können. Für den dänischen Philosophen Sören Kierkegaard (1813–1855) waren Philosophie und Theologie bereits mit dem Virus der Langeweile bzw. des «Nichts» so sehr infiziert, dass er den «Sprung in den Glauben» nurmehr wenigen Einzelnen zutraute. Da Kierkegaard in der Langeweile eine kaum mehr zu beseitigende Eigenart des Menschen sah, bezeichnete er sie als dessen Grundübel. Er reduzierte in gewisser Weise die philosophische Klugheitslehre, die eine erste Blüte im Altertum hatte, auf den Versuch, mit variierenden Mitteln die Langweile in Schach zu halten.

Die Menschheitsgeschichte parodierte Kierkegaard mit beissendem Spott als einen einzigen erfolglosen Versuch, Langeweile abzuwehren: «Adam langweilte sich, weil er allein war, darum wurde Eva erschaffen. Und von diesem Augenblick an war die Langeweile in der Welt und nahm zu im geraden Verhältnis zur Zahl der Menschen. Adam langweilte sich allein, dann langweilten sich Adam und Eva zu zweien, dann langweilten sich Adam und Eva und Kain und Abel en famille, dann wuchs die Menge der Menschen auf Erden, und sie langweilten sich en masse. Um sich zu unterhalten, kamen sie auf den Gedanken, einen Turm zu bauen, so hoch, dass er bis in den Himmel ragte. Dieser Gedanke war ebenso langweilig wie der Turm hoch und beweist mit erschreckender Deutlichkeit, dass die Langeweile schon gesiegt hatte.»

Als Christ blieb Kierkegaard einer Konzeption der Langeweile nahe, wie sie die Wüstenväter entwickelt hatten. Er hat aber nicht nur eine neue existenzphilosophische Sprache für diese alte Problematik gefunden, sondern sie auch in den Kontext moderner Lebensbedingungen gebracht. Allerdings hielt er daran fest, dass nur eine Beziehung zum Beständigen, zu «Gott», aus dem Flüchtigen der Langeweile befreien könne.

Seinsvergessenheit

Spätere Existenzphilosophen haben diese Schlussfolgerung dann wieder relativiert oder ganz verworfen. So hat Martin Heidegger nach anderen Möglichkeiten gesucht, dem Schwindel der vergänglichen Zeit Einhalt zu gebieten. Gegen «das zerstreute Unverweilen», also das atemlose Hasten der Moderne, setzte er eine Haltung, die des Seins im Augenblick innewird. In seiner 1929/30 gehaltenen Vorlesung «Die Grundbegriffe der Metaphysik» heisst es: «Warum haben wir keine Zeit? Inwiefern wollen wir keine Zeit verlieren? Weil wir sie brauchen und verwenden wollen. Wofür? Für unsere alltäglichen Beschäftigungen, deren Sklaven wir längst geworden sind. [. . .] Am Ende ist dieses Keine-Zeit-Haben eine grössere Verlorenheit des Selbst als jenes Sich-Zeit-lassende-Zeit-Verschwenden.»

Heidegger beschwört das «Wesentliche im Dasein», das nur im Verweilen gefunden werden kann, während die Eile zur «Seinsvergessenheit» – also zur Abwesenheit des die Fülle des Lebens stiftenden Seins – führe. Es bleibt aber die Frage, ob Kontemplation allein – ohne entsprechende spirituelle Kultur – der stets drohenden Langweile Herr werden kann. Der moderne Mensch hat so viele Placebos der Ablenkung zur Verfügung und ist so stark geprägt von der technisch-wissenschaftlichen Zivilisation, dass ein kurzes kontemplatives Unterbrechen seinen Aktivitätsrausch schwerlich zum Abklingen bringen kann. Zudem können meditative Techniken auch zur Abwehr von Langeweile eingesetzt werden, ohne dem Leben neuen Grund zu geben.

Es ist wohl eine tiefere Auseinandersetzung mit dem, was ist, nötig (und mit dem, dass etwas und nicht nichts ist), um zum «Sein» zu finden. Ohne Zweifel braucht es aber das Verweilen im Augenblick, um einen Weg zu öffnen, der über das Vorgegebene hinausführt. Diesen Weg kann man nicht schnell, durch mentale Techniken womöglich beschleunigt, hinter sich bringen. Er gehört als Weg bereits zum Ziel. Das lehrt auch der spirituelle Erfahrungsschatz aller Hochreligionen. Wer um diesen langen Weg der Tradition weiss, wird kurzfristigen Lösungen misstrauen. Er wird das Vertrauen vielmehr zu üben suchen. Denn die Zentrifugalkraft der Langeweile ist zu gross, als dass sie ohne eine gegengerichtete Schwerkraft geschwächt werden könnte.

Rhythmisierung des Alltags

Eine seit alters bekannte Hilfe, diesen Weg zu beschreiten, ist die Rhythmisierung des Lebens. Damit ist ein Wechsel von Tätigkeit und Musse, ein Vor und Zurück in vita activa und vita contemplativa, gemeint: Der verrinnenden Zeit sollen feste Haltepunkte entgegengesetzt werden, um sich nicht in Hast oder Zerstreuung zu verlieren.

Eine solche Rhythmisierung ist heute zur individuellen Herausforderung geworden, weil das moderne Leben an zyklischen Taktgebern arm geworden ist. Die Technisierung hat die Nacht zum Tag gemacht, den Arbeitsplatz vom Wohnort getrennt und Zeitinseln wie Sonntage und Festtage durch die Omnipräsenz elektronischer Medien aufgelöst. Es liegt heute hauptsächlich am Einzelnen, aus der ständigen Erreichbarkeit und der ruhelosen Tätigkeit auszubrechen, um aktive Zeiten mit Zeiten der Ruhe abwechseln zu lassen. Ohne Ruhe ist der Mensch der Zeit ausgeliefert. Er vermag das Ruhige und Beständige nicht wahrzunehmen. Erst wenn Langeweile eine Suche initiiert, die dem Verweilen eine Chance gibt, kann eine Gegenwärtigkeit erfahren werden, die zeitlos scheint, weil die Zeit weder nach vorne drängt noch rückwärts zieht. Vielmehr öffnet sie sich dem Leben, wie es ist. Dieser Präsenzerfahrung beraubt sich, wer jedes Aufkommen von Langeweile abblockt. Er verstärkt, was er abwehrt: die Herrschaft der Zeit.

Dr. Daniel Hell, emeritierter Professor für klinische Psychiatrie, leitet das Kompetenzzentrum «Depression und Angst» an der Privatklinik Hohenegg in Meilen. Im vergangenen Jahr ist sein Buch «Depression als Störung des Gleichgewichts» (bei Kohlhammer) erschienen.
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Text
Stefan Sulzer

Sexy Times. Besuch in einem der exklusivsten Uhrenateliers der Welt

Nicht ohne Freude zeigen mir Herr Andersen und Herr Aeschlimann, sein Partner, ihre Kollektion. Produzieren Marken wie Patek Philippe, IWC oder Rolex Uhren zu Hunderttausenden pro Jahr, so sind es bei Andersen wenige Dutzend. Die Produktion einer besonderen Eros Uhr kann bis zu eineinhalb Jahre in Anspruch nehmen.

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Menschen, denen eine Uhr in erster Linie dazu dient, die Zeit anzuzeigen, mögen hier das erste Mal von einer Eigenheit der haute horlogerie hören, die (nur) auf den ersten Blick überrascht. Dies obwohl es sich dabei um eine jahrhundertealte Tradition handelt. Und zwar um das Verzieren von Uhrengehäusen durch äusserst explizite erotische Darstellungen. Im 18. Jahrhundert waren es die Innenseiten der Taschenuhrendeckel, die mit anzüglichen Motiven bemalt wurden. Somit konnte sich selbst der verstohlenste Perversling vor den Blicken der Puritaner schützen, ohne auf den Genuss und Anreiz solcher Bilder zu verzichten. Später wurden die Bilder in Bewegung gesetzt und welche Berufsgruppe war hierzu besser imstande, als Uhrmachermeister (und es waren tatsächliche Meister, aber dazu später mehr…), deren geschickter Umgang mit kleinsten mechanisch bewegten Teilchen sie geradezu auserkor, hier führend voranzugehen und die stolze Lanze brechend (man entschuldige den Kalauer) in neue Gebiete der Ingenieurskunst vorzudringen. Einer dieser Meister der haute horlogerie ist der Däne Svend Andersen, der Gründer der Uhrenmanufaktur Andersen Genève. Herr Andersen kam in den 60er Jahren nach Genf und wurde bald von einer der exklusivsten Manufakturen, Patek Philippe, angeheuert. Dort arbeitete er in deren atelier des grandes complications. Grande complications sind Uhrwerke, welche zusätzlich zu Stunde, Minute und Sekunde noch weitere Funktionen (oder eben Komplikationen) aufweisen, wie z.B. ewiger Kalender, Minutenrepetitionen oder mechanische Wecker. Sprich, daran misst sich die wahre Uhrmacherkunst. Nach neun Jahren bei Patek Philippe gründete Svend Andersen sein eigenes Atelier, um sich vollumfänglich seinen selbst produzierten Kreationen zu widmen. Es überstiege den Rahmen dieses Artikels, all die prämierten Sonderstücke zu erwähnen, die seither seine Werkstatt in alle Ecken der Welt verliessen.

Herr Andersens bescheidenes Atelier befindet sich seit 25 Jahren an der gleichen Adresse etwas abseits der grossen Strassen mit ihren exquisiten Boutiquen und den teuren Autos vor den fünf Sterne Hotels. Ein vertaggtes Schildchen weist auf den Eingang in einer Passage mit Kleingewerblern hin. Auch wenn er dem Bild eines Stars seiner Branche nicht entspricht (er trägt ausgelatschte Birkenstock Sandalen, ein grünes Polohemd und etwas ausgetragene Arbeitshosen), so ist er es. Bei Andersen Genève gibt es keinen glänzenden Showroom aus Marmor und Empfangsdamen mit Modellmassen. Das Atelier ist Empfangsraum zugleich und einfach eingerichtet. Die Möbel stammen aus der Anfangszeit, all die Auszeichnungen an den Wänden sind etwas angegilbt.Mich interessiert Andersen Genève besonders aufgrund der Eros Linie. Eine spezielle Edition, welche auf den Wunsch von Kunden nach beweglichen erotischen Motiven Mitte der Neunzigerjahre geschaffen wurde. Eine solche Linie ist an sich noch keine Besonderheit. Uhrenmanufakturen wie Blancpain oder Ulysse Nardin produzieren sie ebenfalls. Wo aber bei Blancpain griechische Götter mit perfekten Körpern und güldenen Lenden in ruppiger Manier vor sich hin kopulieren, sind es bei Andersen Genève fast comic-artige Lüstlinge, die es beispielsweise zu dritt auf einer Motorhaube auf dem Weg nach Paris treiben. Eine Version mit Bill Clinton in verfänglicher Pose im Oval Office ist ebenfalls vorhanden. Diese, so versichert mir Herr Andersen schmunzelnd, habe er mit seinem Anwalt vorher besprochen. «Nicht das bei meiner nächsten Amerika Reise die Monica noch Tantiemen von mir will.» Oft steht den Liebenden noch ein Hündchen zur Seite, das entweder mit dem Kopf oder dem Schwanz wackelt. Sind es bei der Konkurrenz (die sie nicht wirklich ist) meist um die vier beweglichen Teile, so sind es bei Andersen Genève bis zu deren fünfzehn. Was lustig, ja fast etwas trashig daherkommt, ist in Wahrheit etwas vom kompliziertesten und ausgefallensten, was die Uhrmacherkunst zu bieten hat. Allein der Miniatur–Maler, ein begnadeter Franzose, braucht Wochen, um ein Stück zu bemalen. Andersen gibt ungefragt zu, dass der Maler durch seine Arbeit enormen Einfluss auf das Endprodukt ausübt. Umso bedeutungsvoller das Vertrauen, auf welchem eine solche Zusammenarbeit beruht. Die meisten Kunden treten mit konkreten Vorstellungen, was das Design betrifft, an Andersen heran und wollen darüber auch einen klaren persönlichen Bezug zu sich selbst schaffen. Sie bestimmen also vor was für einem Hintergrund sich die Liebenden ihrer Lust hingeben. Ist es einmal die Skyline der Heimatstadt eines Kunden, so ist es ein anders Mal des Kunden Hündchen, das seiner blechernen Miniatur Pate steht. Bei Andersen Kunden handelt es sich weniger um reiche Spinner, als um ernsthafte Uhrensammler, die etwas Einzigartiges suchen. Und das in der besten Qualität, die man für Geld kaufen kann. Was Gravur und die Bemalung betrifft, operiert Andersen in einer eigenen Liga. Es ist ein offenes Geheimnis, dass auch Anfragen anderer renommierter Uhrenmarken an Herrn Andersen herangetragen werden, sollte ihnen ein Kundenwunsch zu kompliziert oder ausgefallen erscheinen. In welchen Produkten der Konkurrenz aber eigentlich ein Meisterwerk Andersens tickt, bleibt natürlich geheim.

Nicht ohne Freude zeigen mir Herr Andersen und Herr Aeschlimann, sein Partner, ihre Kollektion. Produzieren Marken wie Patek Philippe, IWC oder Rolex Uhren zu Hunderttausenden pro Jahr, so sind es bei Andersen wenige Dutzend. Die Produktion einer besonderen Eros Uhr kann bis zu eineinhalb Jahre in Anspruch nehmen. Es liegt auf der Hand, dass sich nur wenige diesen ausgefallenen Spass überhaupt leisten können. Über die Preise wird geschwiegen. Das sind Gentleman’s Agreement. Aber ich weiss, die fünf Uhren vor mir auf dem Tisch, machen locker den Preis eines Supersportwagens wett. Doch darum scheint es in dem Vier–Mann Betrieb niemandem wirklich zu gehen. Herr Andersen ist mittlerweile 74 und hätte es, wenn er denn nicht wollte, sicher nicht mehr nötig, jeden Tag in seinem Atelier zuzubringen. Er und Herr Aeschlimann nehmen sich eine Stunde Zeit, kramen nach alten Büchern, suchen nach Bildern und das alles für einen Halb–Laien, der nicht mal für ein Uhrenmagazin schreibt. Der Kontrast, der sich zwischen dem internationalen Renommee und der übersichtlichen Werkstatt, der uhrmacherischen Raffinesse und den lüsternen kleinen Figürchen auftut, scheint mir ein essenzieller Bestandteil des Selbstverständnisses dieser wunderbaren Manufaktur zu sein.  Man arbeitet aus Liebe zum Objekt und die Tatsache, dass man sich offenkundig in einem hochexklusiven Luxussegment aufhält, ist noch kein Grund, dies ostentativ zur Schau zu tragen.

 

Vue d’exposition Parkett 2, CentrePasquArt 2016, Timepieces (Solar System), 2014, Horloges modifiées, 45 cm Ø chacune, Courtesy the artist, photo : Julie Lovens.
Vue d’exposition Parkett 2, CentrePasquArt 2016, Timepieces (Solar System), 2014, Horloges modifiées, 45 cm Ø chacune, Courtesy the artist, photo : Julie Lovens.
Katie Paterson, Fossil Necklace, 2013, 170 fossiles, taillés et arrondis, Courtesy the artist, photo : Blaise Adilon.
Katie Paterson, Fossil Necklace, 2013, 170 fossiles, taillés et arrondis, Courtesy the artist, photo : Blaise Adilon.
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Texte
Déborah Demierre

Espace-temps chez Katie Paterson

Le Centre d'art CentrePasquArt à Bienne présente actuellement une exposition personnelle de Katie Paterson (1981). A plusieurs reprises, la plasticienne britannique aborde la notion du temps, dans ses travaux. Il s'agit du temps lié à l'espace, dimension dans laquelle l'Homme doit s'inscrire face à l'Univers.

FB

Vue d’exposition Parkett 2, CentrePasquArt 2016, Timepieces (Solar System), 2014, Horloges modifiées, 45 cm Ø chacune, Courtesy the artist, photo : Julie Lovens.

Katie Paterson, Fossil Necklace, 2013, 170 fossiles, taillés et arrondis, Courtesy the artist, photo : Blaise Adilon.

Paterson a collecté des fossiles correspondant à des événements majeurs dans l’évolution de la vie. A partir de ces nombreux fossiles, elle a créé des perles représentant chacune un temps géologique. Ces perles sont montées sous la forme d’un collier, le Fossil Necklace. Ainsi, la première perle coïncide avec les origines monocellulaires de la vie sur Terre, tandis que la dernière date de l’époque des premières écritures en Mésopotamie. Entre ces deux moments, plus de 170 perles qui correspondent tantôt à la division des continents, tantôt à la première éclosion florale ou encore aux origines de l’agriculture. L’objet permet de visualiser une durée de temps difficilement imaginable et souligne la brièveté du temps historique face au temps géologique.

De manière espiègleAs the World Turn traite de la perception du temps qui passe et de son rapport à l’espace. Un vinyle des Quatre saisons de Vivaldi tourne à la même vitesse que celle de la rotation de la Terre. Ainsi, le disque semble ne pas bouger, tellement son mouvement est imperceptible. En effet, quatre années sont nécessaires pour entendre l’ensemble de l’oeuvre musicale.

Dans Timepieces (Solar System), une série de neuf horloges indiquent l’heure sur toutes les planètes de notre système solaire, ainsi que sur la lune. Comme la durée d’une journée varie en fonction de la vitesse de rotation de chaque planète, les horloges avancent plus ou moins rapidement. La journée la plus courte se déroule sur Jupiter, en 9h 56, et la plus longue sur Mercure, en 4223 heures. Les horloges de Paterson permettent aux visiteurs d’examiner les variations du passage du temps, en fonction des différents endroits dans le système solaire.

Paterson part de questionnements élémentaires puis les traite avec rigueur. Elle collabore fréquemment avec des scientifiques et transfère les informations obtenues dans des oeuvres sensibles. Il en ressort beaucoup de poésie et une vision toute relative du temps sur la planète bleue.

à découvrir jusqu’au 20.11.2016
www.pasquart.ch
Undatierte Radierung von H. Gschwind.
Undatierte Radierung von H. Gschwind.
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Text
Minou Afzali

Ein Bild im Wandel der Zeit

Beim Besuch einer Brockenstube hing sie plötzlich vor mir: Eine handsignierte Radierung des Basler Münsters, eingefasst in einem goldenen Rahmen. Alles schien genau so wie damals, als ich das Bild zum ersten Mal gesehen hatte. Nur der Kontext war ein anderer.

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Undatierte Radierung von H. Gschwind.

Beim Besuch einer Brockenstube hing sie plötzlich vor mir: Eine handsignierte Radierung des Basler Münsters, eingefasst in einem goldenen Rahmen. Alles schien genau so wie damals, als ich das Bild zum ersten Mal gesehen hatte. Nur der Kontext war ein anderer.Wenige Monate zuvor hing das exakt gleiche Motiv im selben Rahmen im Zimmer von Herrn Kälin, einem Altersheimbewohner. Für ein Projekt befragte ich ihn zu seinen persönlichen Habseligkeiten im Heim. Von seiner Krankheit stark geschwächt lag der alte Mann während unseres Gesprächs in seinem Bett. Ich fragte ihn, welche Dinge in seinem Zimmer ihm besonders am Herzen lägen. Er deutete auf die gerahmte Radierung, auf der das Basler Münster und angrenzende Gebäude abgebildet waren und erklärte: «[…] wir hatten noch das Glück hier zu heiraten. […] Das ist also Original… ich habe also Freude, dass ich das habe.» Das Bild war Zeugnis eines wichtigen Ereignisses in Herrn Kälins persönlicher Biografie: Im Standesamt auf dem Münsterberg hatten er und seine Frau vor vielen Jahren geheiratet. Mittlerweile war Frau Kälin gestorben und mit ihrem Tod erhielt das Bild für ihren Ehemann noch einen zusätzlichen Wert. Aus diesem Grund begleitete es seinen Umzug ins Heim und wurde an prominenter Stelle in seinem Zimmer aufgehängt. Hier dekorierte es die weisse Wand über seinem Bett, wo es stets in seinem Blickfeld war.Das Bild war nur eines von mehreren persönlichen Dingen, die Herrn Kälin an seine gemeinsame Zeit mit seiner verstorbenen Frau erinnerten. Auch ein paar Möbel in seinem kleinen Heimzimmer hatte er aus seiner früheren Wohnung mitgebracht. Den grossen Bauernschrank neben seinem Bett etwa, den der alte Mann gemeinsam mit seiner Frau vor vielen Jahren bemalt hatte. Das gerahmte Bild und diese Möbel hatten den Heimbewohner bereits während verschiedenen Abschnitten seines Lebens begleitet. In der Psychologie geht man davon aus, dass wertgeschätzte Objekte ihren Besitzern den herausfordernden Übergang zwischen zwei Lebensphasen erleichtern können. Herr Kälin musste in der Vergangenheit nicht nur den Tod seiner Frau, sondern auch den Verlust seiner eigenen vier Wände verkraften. Was ihm blieb waren diese Objekte, welche die Erinnerungen an liebgewonnene Menschen und Orte wachhielten.  Herrn Kälin sah ich nach unserem Gespräch nie wieder. Dem Bild hingegen begegnete ich Monate später in dieser Brockenstube wieder, wo es zwischen vielen anderen herrenlosen Bildern hing. Ich kaufte das Bild und nahm es mit nach Hause.

Das Gespräch fand im Rahmen der vom SNF geförderten Studie CommuniCare – Kommunikationsdesign in kultursensiblen Alters-und Pflegeeinrichtungen statt (2013-2016). Der Fokus der Studie richtet sich auf das räumliche Umfeld der sogenannten «mediterranen Alterseinrichtungen» in der Schweiz. Unter anderem wurden dabei Bewohnerinnen und Bewohner mit und ohne Migrationshintergrund zu ihren persönlichen Dingen im Heim befragt.
Vgl. Habermas (1999). Geliebte Objekte – Symbole und Instrumente der Identitätsbildung. Berlin: Suhrkamp.
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Text
Nicole Hametner

Das technische Bild und die Zeit

In einer Gegenüberstellung von Fotografie und dem bewegten Bild versuchte ich mit einem Experiment ausfindig zu machen, wie Dunkelheit im digitalen Videobild wahrgenommen werden kann.

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Das Verhalten des technischen Bildes zur Zeit

In einer Gegenüberstellung von Fotografie und dem bewegten Bild versuchte ich mit einem Experiment ausfindig zu machen, wie Dunkelheit im digitalen Videobild wahrgenommen werden kann. Ich habe eine Bild mit einer analogen Fotokamera während einer Belichtungszeit von zehn Minuten gemacht und gleichzeitig, während derselben Dauer den Bildausschnitt mit einer Videokamera gefilmt.

Weil sich in der Fotografie während der Dauer der Aufnahme das gesamte Licht auf dem Film sammelt, entsteht so ein sichtbares Bild der nächtlichen Landschaft. Dem gegenüber nimmt das Videobild zwar unzählige Einzelbilder auf, jedes davon aber nur in einem Bruchteil einer Sekunde. Durch das zu schwach einfallende Licht pro Bild entsteht ein Rauschen des Sensors. Durch dieses Flimmern der kleinen bewegten Lichtpunkte erschien das Videobild in konstanter Bewegung und stellte sich so direkt der statisch eingefrorenen Fotografie entgegen.

Das Verhalten beider Medien weckte mein Interesse über unsere eigene Wahrnehmung von Zeit nach zu denken.

Maschine und Wahrnehmung

Der Philosoph Henri Bergson stellte der wissenschaftlich messbaren Zeit die persönlich erlebte Dauer entgegen. Wir können Zeit subjektiv erfahren oder sie als klar definierte teilbare Einheit verstehen. Zeit lässt sich also mechanisch messen und Zeit lässt sich erleben, intuitiv wahrnehmen.

Fotografie stammt wie Bergson aus dem Zeitalter der Industrialisierung. Mit dem Aufkommen neuer Technologien ändert sich unsere Wahrnehmung der Zeit. Als der Tageslauf mit dem Betrieb der Fabriken synchronisiert wurde und die Uhr dem Arbeiter zur Pünktlichkeit verhalf. Die Uhr lieferte dem Arbeiter Kontrolle über seinen zeitlich neu strukturierten Alltag, gleichzeitig nahm das im 19. Jahrhundert aufkommende technische Bild Einfluss auf das Gesehene.

Trotz ihres Funktionierens als Maschine, liegt Fotografie ausserhalb der verbalen Sprache, sie ist mit unserem Verstand alleine nicht zu fassen, ähnlich unserer Unfassbarkeit gegenüber der Zeit.

Bergson sieht in der Wahrnehmung und im Bild mehr Realität als im Begriff und im Verstand. «Sich in die Wahrnehmung zu versenken», macht die Zeit, während sie sich ereignet, jenseits des Verstandes zugänglich. (Lazzarato, s.8)

Fotografie und Videobild

In der Dunkelheit nutzte ich die Technik der Fotokamera um sichtbar zu machen, was mit blossem Auge nicht  mehr wahrgenommen werden konnte.

Die Aufnahme war mit einem Warten verbunden, bis die Belichtungszeit vorüber war und auch anschliessend bis das Bild im Chemiebad fertig entwickelt wurde.

Was mich an dem Prozess der langsamen Sichtbarmachung so faszinierte war die Idee des latenten Bildes.

Ein Bild dessen Entstehen sich zwischen Abwesenheit und Präsenz zugleich befindet.

Dieser Schwebezustand zwischen Hier und Dort wird deutlicher in der Tatsache, dass jede Fotografie ein Zeichen von etwas nicht mehr existentiell Anwesendem ist.

Zudem befindet sich Fotografie zeitlich stets zwischen dem Moment der Aufnahme und dem Moment der Betrachtung, wie ein Pendel an seinem toten Punkt.

Neben der Gleichzeitigkeit von Abwesenheit und Präsenz kommt es also auch zu einer Verdichtung von Vergangenheit und Gegenwart.

Während die Realität auf der analogen fotografischen Aufnahme einen Abdruck hinterlässt wird sie im digitalen Videobild ins Unendliche zersplittert, als Daten codiert wird sie als Interpretation durch den Codex wiedergegeben.

Nicht nur der Bezug zum Aufgenommenen ist im Videobild ein anderer, auch sein Verhalten zur Zeit. Durch die ständige Berechnung der Datenmenge befindet sich der Bildaufbau in konstanter Bewegung und erzeugt ein Bild das niemals als Ganzes vorhanden zu sein scheint.

Augenblick und Dauer

Diese Flüchtigkeit eines Bildes liegt auch dem Augenblick inne. Der Augenblick ist der von uns kürzest wahrnehmbare Moment. Er vergeht ebenso schnell wie er in seiner Plötzlichkeit einmalig aufgetreten ist.

Weil jeder Moment, sei er auch noch so kurz auch eine gewisse Dauer hat, lassen sich die beiden Begriffe nicht immer klar voneinander abgrenzen. Dennoch stellt sich der Augenblick als Zeitpunkt verstanden gegenüber der Dauer, die einen gewissen Zeitraum einnimmt.

Wenn man sich die Porträts aus den Anfängen der Fotografie ansieht, wirkt es oft so als würden sie, umhüllt von einem Schleier, Zeit selbst sichtbar machen.

Mit diesem Beispiel ist nicht die Rede von einer klassischen Momentaufnahme welche den entscheidenden Augenblick feiert, ganz im Sinne Henri Cartier Bressons.

Vielmehr resultiert die Ausstrahlung der frühen Porträts aus einer Daueraufnahme, in der über einen längeren Zeitraum Licht eingefangen wurde.

Weil sich die Modelle während der längeren Belichtungszeit nicht stillhalten konnten ist ihre Bewegung im Bild sichtbar. Diese Bewegungsunschärfe verweist auf die Zeit die während der Aufnahme vergangen ist und nun als gesamte Dauer im Bild festgehalten ist. Hier zeigt sich die Verdichtung einer Zeitdauer. Besonders die Bewegungsunschärfe vergegenwärtigt, dass die einzelnen Augenblicke während der Porträtaufnahme, von Anfang bis Ende gleichzeitig im Bild festgehalten wurden.

Die Dauer der Aufnahme wird unendlich verdichtet bis hin zur eingefrorenen Bewegung.

Derart komprimiert endet die Dauer ohne Ausdehnung im Raum bewegungslos – zeitlos.

Ich habe mir Zeitlosigkeit immer als unendliche Weite vorgestellt, bis mir durch den Gedanken der Verdichtung hin zur Dauerlosigkeit bewusst wurde, dass ich wohl fälschlicherweise an den Begriff der Ewigkeit gedacht haben muss. Letztere erstreckt sich ins Unendliche wohingegen Dauerlosigkeit als unendliche Verdichtung hin zu einem Punkt Stillstand bedeutet.

Im Vergleich zu den frühen Porträtaufnahmen ermöglicht die heutige Technik eine augenblickliche Momentaufnahme. Eine Momentaufnahme die als Schnitt in der Zeit die Kontinuität der Dauer bricht.

Das bewegte Bild des Films, das aus Momentaufnahmen besteht, bewirkt durch eine rasche Aneinanderreihung derer eine Illusion von Bewegung und erzeugt so eine Simulation von Dauer. So auch das digitale Videobild, welches zerteilt in unzählige Fragmente sich in ständiger Bewegung befindet. Nichts steht still, alles ist ins unendliche zersplittert.

Die Kamera und ich

Angetrieben von den Beobachtungen in meinem Experiment, kam in der Dunkelheit stehend zwischen Fotokamera und Videorecorder die Frage auf, wo ich mich selbst mit meiner Wahrnehmung von Zeit zwischen Moment- und Daueraufnahme positionieren würde.

So wie die analoge fotografische Dauerbelichtung das Licht über einen längeren Zeitraum speichert, so verstehe ich auch mein eigenes Erleben als Ansammlung von Dauer, die sich in meiner Erinnerung manifestiert. Dennoch kommt es dabei nicht zum Stillstand wie in der Fotografie.

Meine unmittelbare Wahrnehmung in der Dunkelheit liegt näher am Videobild, da mein Auge in der Dunkelheit beinahe nur ein Flimmern wahrnimmt, ähnlich dem Rauschen des Sensors der Videokamera. Mein Erleben ist auch zerteilt in einzelne Augenblicke, eine Ansammlung von Momentaufnahmen. Als Reize die weitergeleitet, als Signale in konstanter Bewegung, in meinem Gehirn ein Ganzes simulieren.

In beiden Fällen ermöglichte mir das Warten auf das Bild einen Fokus auf die Wahrnehmung und mit dieser wurde mir, die Zeit, ganz im Sinne von Bergson, ein kleines Stück zugänglicher.

Maurizio Lazzarato. Videophilosophie. Berlin: b-books. 2002

Donatella Versace
Donatella Versace
The Du­ch­ess of Alba
The Du­ch­ess of Alba
Es geht auch anders. Fragen sie Iris Apfel.
Es geht auch anders. Fragen sie Iris Apfel.
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Text und Interview
Stefan Sulzer

Zeitgerecht altern. Die edle Akzeptanz des biologischen Verfalldatums

Der Schriftsteller und Philosoph Philipp Tingler im Gespräch.

FB

Donatella Versace

Dem vorliegenden Thema stehe ich zugegebenermassen recht ignorant gegenüber. Was natürlich, wie so oft, vor allem einer wohligen Unwissenheit zu verdanken ist. Das Thema der Schönheitschirurgie und körperlichen Mutation interessiert mich nicht besonders. Allerdings ist es auch nicht so, dass ich mir noch nie über die Relevanz derselben Gedanken gemacht hätte. Auch ist es immer leicht, und somit feige, über etwas zu urteilen, was einen selbst nicht betrifft. Würde ich wirklich nichts gegen Haarausfall unternehmen? Trüge ich den depardieuschen Zinken tatsächlich mit Stolz und Grazie? Laut einer Studie fürchten Männer den Haarausfall mehr als Impotenz. Was wenn einen beides trifft? Mich stört auch dieser fahle Hang zur Natürlichkeit, dem man gerade im urbanen Raum seit geraumer Zeit wieder häufiger begegnet. Die Tatsache, dass wir Lebensformen finden, die nicht diesem Diktat folgen und den natürlichen Imperativ getrost ignorieren, sehe ich als Leistung einer fortschrittlichen Kultur. Warum also diese Skepsis, wenn es um die künstliche Veränderung des menschlichen Körpers geht?

Um eine Öffnung des eigenen Blicks bemüht, traf ich mich zum Mittagessen mit meinem alten Freund Philipp Tingler. Ein den meisten vielleicht aus dem Literaturclub bekannter Schriftsteller und Philosoph (das wird jeweils so eingeblendet wenn er was sagt, und das ist nicht selten der Fall). Dies hatte drei Vorteile: 1. schrieb Philipp bereits viel über die Thematik der Schönheitschirurgie, den Wahn nach ewiger Jugendlichkeit und die Auswüchse der Superreichen in diesem Feld. 2. Sind wir nur äusserst selten einer Meinung. Ich habe die meisten von Philipps Buchcovers fotografiert (also ihn) und der Auswahlprozess war immer langwierig und anstrengend. Eine Diskussion mit ihm würde also garantiert nicht auf die Selbstbeweihräucherung meiner vorgefassten Meinung führen (etwas wo wir uns allerdings zu 100% einig sind: Curb your Enthusiasm ist etwas vom Besten, das je fürs Fernsehen produziert wurde). 3. Schuldete er mir noch ein Essen im Brisket, womit keine Steuergelder für die Entstehung dieser Zeilen Verwendung fanden.

Stefan Sulzer: Meine schwammige Prämisse sieht salopp gesagt etwa so aus: Leute die offensichtlich genug Geld haben um sich die Besten ihres Faches zu leisten (Plastische ChirurgInnen) sehen oft trotzdem bekloppt aus. Worin liegt der Reiz? Will man so aussehen? Ist man selbst überrascht oder gar enttäuscht wenn man sich danach sieht? Ist es ein Statussymbol? Geht es um den ewigen Wunsch, jünger auszusehen? Zeugt es von Unfähigkeit und Mutlosigkeit, sich der Realität des Verfalls zu stellen?

Philipp Tingler: Noch nicht mal das würde ich als allgemeingültigen Grund akzeptieren.

S: Wieso?

P: Man muss diese Frage immer mit Bezug auf das relevante Milieu beantworten. In der akademischen Diskussion werden solche Sachen immer vor dem Hintergrund eines vermeintlichen Ideals von natürlichem Aussehen beurteilt. Das übersieht, dass für ein Milieu, welches medial gerade total durch alle möglichen Reality-Formate exponiert ist, Natürlichkeit gar kein Kriterium darstellt. Da geht es um sichtbare Körpermodifikation als Statussymbol. Es signalisiert, dass man sich das leisten kann…

S: …ist ja trotzdem keine Yacht oder eine Villa in Antibes. So teuer sind solche Eingriffe ja auch nicht mehr…

P: …kommt darauf an. Jedenfalls signalisiert es, dass man auf sich achtet, dass man bereit ist, für sein Aussehen Opfer zu bringen. Dies nicht nur in finanzieller Hinsicht. Man leidet ja auch während und nach dem Eingriff. Und nochmals, es zeigt auch einfach: ich kann es mir leisten….

S: …wie eine Vogelscheuche auszusehen…

P: …naja, das Aussehen ist auch immer im Hinblick auf die relevante Kultur zu beurteilen.

S: Gut aber jemand wie Donatella Versace sieht für mich trotzdem aus als stamme sie aus Mordor…

P: Das sind Sonderfälle, die muss man gesondert betrachten. Es gibt aber eine Kultur in der übermässig weisse Zähne, eine orange Sprühbräune, gewaltige Lippen als schön empfunden werden. Es geht ja nur darum, dass man sich innerhalb der relevanten Peergroup positioniert und nicht für ein abstraktes allgemein gültiges Verständnis von Schönheit. Ich würde sagen, dass man bei diesen ganzen Diskussionen aufpassen muss, nicht seine eigenen Vorstellungen, die natürlich auch immer von dem Milieu her gebildet sind in dem man sich aufhält, auf andere Milieus zu übertragen.

S: Trotzdem sehen doch viele aus wie „frightend Tupperware“, um Frankie Boyle zu zitieren.

P: Es erscheint Dir bizarr und mir ja auch, aber das sind unsere Urteile. Ich bin auch oft überrascht wenn ich sehe wie viel Leute, die noch gar nicht alt sind, schon haben machen lassen. Ich finde ja selbst auch, dass diese vakanten Gesichter nicht unbedingt attraktiv sind. Oft sind sie ja zu gar keiner Expression mehr fähig. Ich glaube aber nicht, dass sich ein Grossteil dieser Personen im Spiegel ansehen und sagen: „Oh mein Gott, so wollte ich das aber gar nicht haben…“ Ich bin überzeugt, dass sie sich nach der ihnen relevanten Umgebung und ihren relevanten Medien ausrichten.

S: Aber gerade wenn man den Umgang der Medien mit Schauspielerinnen betrachtet, ist doch offensichtlich, wie brutal das Bashing dann ausfällt.

P: Wir dürfen hier die Dinge nicht vermischen. Ich rede von der Gesellschaft die The Only Way Is Essex, The Real Houswives oder auch die Kardashians schaut. Ich mein hast Du Dir mal The Real Houswives angeschaut? Die sehen alle aus, als wären sie vom Fliessband gefallen, die sehen alle absolut gleich aus. Es ist gespenstisch.

S: Und Du glaubst, dass sie happy sind, wenn sie in den Spiegel schauen?

P: «Happy» ist nun auch wieder so eine philosophische Kategorie. Ich glaube auf jeden Fall nicht, dass sie sich im Spiegel anschauen und sagen: «Oh Gott im Himmel was ist nur mit mir passiert?» Ich habe das Gefühl die wissen genau, wie sie aussehen wollen. Die gehen mit ganz konkreten Wünschen zu ihren Chirurgen und so sehn sie dann aus.

S: Verlassen wir mal das Trash Segment à la The Only Way Is Essex oder TOWIE, wie ich es aus England her kenne und konzentrieren wir uns auf Schauspieler und Schauspielerinnen wie beispielsweise Renée Zellweger, die ja heute, im Vergleich zu früher, doch sehr anders aussieht.

P: ich finde ja auch Britney Spears sieht mittlerweile komplett anders aus als früher.

S: Das sind ja auch die Frauen (und es wird fast ausschliesslich über Frauen geschrieben wenn es um plastische Eingriffe geht. Welcher Journalist mag über die Verunstaltungen bei Axl Rose, Gene Simons oder Mickey Rourke schreiben. Uns werde also, auch wenn wir zwei Männer sind, die das Thema bereden, nicht voreilig Misogynie vorgeworfen) die dann gnadenlos von den Medien dafür zerrissen werden.

P: Da ist die Frage wichtig: Was ist das Ziel? Das Ziel ist nicht unbedingt immer jung auszusehen. Und oft ist das ja auch gar nicht der Fall. Viele Leute sehen ja nicht jung oder alt aus sondern alterslos.

S: Viele der auf formaler Ebene charakterstiftenden Merkmale werden ja auch geglättet, wenn nicht gar gänzlich ausgelöscht.

P: Aber das wäre ja schlecht für Schauspielrinnen?

S: Genau deswegen verstehe ich es ja nicht.

P: Bei solch enorm exponierten Schauspielrinnen ist einerseits der Druck natürlich enorm hoch, andererseits manifestieren sich die Eingriffe möglicherweise stärker als man das erwartet hätte.

S: Das ist genau meine Vermutung.

P: Bei Zellweger ist natürlich das Problem, dass wir sie von früher her kennen. Sie sieht ja nicht unnatürlich aus und mittlerweile ja eher wieder so wie wir sie von früher her kennen. Es gibt ja auch die Leute, die man nicht kennt, aber sofort sieht, dass sie so gebotoxt sind, dass sie zu keiner Miene fähig sind oder die Lippen falsch sind. Bei Zellweger ist das neue Gesicht nur deshalb auffällig, weil ein Vergleich zum dem davor existiert. Deswegen würde ich da nicht von einem «zu-viel» sprechen.

S: Völlig losgelöst von etwaigen moralischen Bedenken, die ich in dieser Thematik als irrelevant erachte, frage ich mich, wie jemand, wie z.B. Donatella Versace, die ja ästhetischen Belangen nicht völlig abgeneigt sein kann, sich im Spiegel betrachtet und ehrlich denkt: «Momol, das sieht prächtig aus». Und wenn es um Statussymbole ginge: Ist das Selbstwertgefühl dann echt so klein, dass es nicht reicht, ein Modeimperium zu führen und erfolgreich zu sein?

P: Ich finde diese Argumentation nicht legitim. Man muss jedem Menschen zugestehen, dass er ein eigenes Verhältnis dazu haben darf wie er aussieht oder aussehen will. Ich finde gleichzeitig auch nicht, das Donatella extrem aussieht. Man könnte ja auch sagen, ein Bodybuilder sieht extrem aus. Das sind Wege von Veränderungen, das sind Projekte, die stetig fortschreiten.

S: Ich finde ja auch die Hörigkeit gegenüber einem pseudoplausiblen Diktat der Natürlichkeit verlogen…

P: ….die Natürlichkeit ist echt ein sehr doppelgesichtiges Ideal – was wirklich natürlich ist will doch kein Mensch sehen…

S: …deshalb ist das für mich auch keine hehre Kategorie. Mir geht es nicht um Natürlichkeit, mir geht es alleine um die Frage, finden solche Menschen das, was sie an sich verändert haben, schön?

P: Aber dann reduzierst Du es zu einer Geschmacksfrage.

S: Klar, ich mache den überheblichen Fehler, von mir auf eine Mehrheit zu schliessen. Nochmals: Ich finde an diesen Personen nichts moralisch verwerfliches oder ethisch suspektes. Ich vermute lediglich, dass viele diese Eingriffe im Nachhinein weniger schön finden, als sie sie antizipiert haben. Es gibt ja genug Interviews mit Menschen, die schönheitschirurgische Eingriffe bereuen.

P: Aber Du kannst das doch nicht von Mehrheitsentscheiden abhängig machen.

S: Warum nicht? Wir wollen ja auch einer Mehrheit gefallen.

P: Aber Mehrheitsentscheide hätten ganz viele Kunstrichtungen verhindert. Dann wären ganz viele Romane nicht veröffentlicht worden. Du als bildender Künstler musst doch wissen, dass man so was nicht mit Mehrheitsentscheidungen regeln kann. Natürlich gibt es Versuche, Schönheit objektivierbar zu machen. Dann ist es eine Frage der Proportion, der Symmetrie, harmonischem Erscheinungsbild und letztendlich auch eine Frage der Authentizität. Passt das? Wirkt das echt? Und dann sage ich: «Gut Donatella sieht vielleicht extrem aus. Aber ist sie nicht auch extrem? Sind viele der Sachen die sie entwirft, nicht auch extrem?» Wenn das so ist, wer bin ich denn, der sich darüber eine Meinung bildet?

S: Darum geht es nicht. Ich fände es absolut falsch, hier jemandem Vorschriften zu machen oder gar auf seine Intelligenz oder seinen Charakter zu schliessen. Mich interessiert es als Phänomen, und auch die Tatsache, dass man bei gewissen Leuten das Gefühl nicht los wird, dass sich dahinter eine Sucht verstecken könnte.

P: Ich glaube sehr wohl, dass solche Eingriffe Suchtpotenzial haben können. Das kann Züge von Body-dysmorphic-disorder tragen. Man sich also im Spiegel betrachtet und was völlig anderes sieht, als alle anderen. Das kennt man ja aus der Mager- oder auch Muskelsucht. Interessant finde ich aber die Auswirkungen des massenhaften Zugangs zu diesen Möglichkeiten und die damit einhergehende alltagskulturelle Relevanz. Das wir uns beispielsweise abgewöhnen müssen, eine Einschätzung des Alters einer Person anhand des Gesichts zu formen. Ich bin noch so aufgewachsen, dass ich das Alter einer Person darüber taxiere, dass ich der Person ins Gesicht schaue. Aber das wird bald kulturell wahrscheinlich gar keine Relevanz mehr haben.

S: Warum steht man dann nicht offen zu den Eingriffen?  Viele exponierte Leute tun das nicht. Ich glaube es hat mit dem Wunsch nach naturgegebener Schönheit zu tun. Es gibt nun mal Menschen, die mit 45 viel jünger aussehen, genauso wie es welche gibt, die genau wie 45 aussehen und nochmals andere, die halt 10 Jahre älter aussehen. Ich tue dann also so, als gehörte ich ersterer Kategorie an. Warum dann ein Tabu darum erschaffen und so tun, wenn es eh offensichtlich Bullshit ist und jeder und jede sieht, dass ich was machen liess.

P: Du hast es eh zur Hälfte selbst beantwortet. Es hängt einerseits mit dem immer noch sehr virulenten Ideal der Natürlichkeit zusammen, hinter dem ja nur Eitelkeit steckt. Wer aber gilt schon gerne als eitel?Aber wie gesagt, es gibt auch das nicht kleine Segment an Personen, wo sichtbare Modifikationen ein Statussymbol sind. Da werden Davor/Danach Bilder gepostet, da wird Wissen ausgetauscht über Implantate. Da ist es erstrebenswert, künstlich auszusehen.  Das ist kein Nischenphänomen sondern ein neues popkulturelles Leitbild, das mit Natürlichkeit nichts mehr zu tun hat.

S: Ich glaube trotzdem, dass es vielen um diesen Aspekt der Natürlichkeit geht und da scheint es mir offensichtlich, dass das nicht wirklich funktioniert. Oder es gibt tatsächlich ganz viele Personen, wo es bestens funktioniert hat und ich sehe es einfach nicht und akzeptiere es als naturgegeben.

P: Ist es denn ein Kriterium, dass man es nicht sehen sollte? Weil es per se verwerflich ist?

S: Absolut nicht. Ich vermute einfach, das bei vielen, wo die Eingriffe klar erkennbar sind, die Motivation war, Eingriffe zu vollziehen, die danach nicht erkennbar sein sollten.

P: Wieso kommst Du zu diesem Eindruck?

S: Weil ich eine Motivation zu erkennen glaube, die sich nicht erfüllt.

P: Du darfst nicht vergessen, dass das ein dynamischer Prozess ist. Die Fälle, die wir vielleicht als krass ansehen mögen, besonders bei älteren Menschen, die die ersten Eingriffe in Zeiten machen liessen, wo das eher brachiale Methoden waren, stehen ja oft bei unserer Betrachtung vorerst an einem Endpunkt, dem aber ein jahrelanger Prozess der Veränderung unterliegt. Aber ich stimme Dir zu, dass es immer noch die Fälle gibt, wo man das Gefühl hat, hier ist ein Effekt nicht erreicht worden. Es gibt also zwei Kategorien. Einerseits: Hier ist etwas versucht worden und es hat nicht geklappt oder es ist, andererseits, etwas gewünscht worden, das zwar drastisch aussehen mag, aber absolut der Vorstellung entspricht.

The Du­ch­ess of Alba

S: Kennst du die Duchess of Alba?

P: Ja, sie ist leider vor ein paar Jahren verstorben. Die find ich total faszinierend. Wusstest Du, dass die Herzogin von Alba als einzige Person der Welt das Recht hatte, auf einem Esel in die Kathedrale von Sevilla zu reiten?

S: Und hat sie es getan?

P: Das weiss ich nicht.

S: Das wäre so was von gesetzt, wenn ich dieses Privileg hätte.

P: Das Problem bei diesem Thema ist immer, das man das Gefühl hat, es handelt sich um ein augenfälliges Phänomen, trotzdem ist da eine Ambivalenz zwischen all den Rollenmustern und Möglichkeiten. Stetig wird betont, Individualität und Authentizität seien das wichtigste, anderseits finden sich überall relativ rigide Normierungen.

S: Es hat aber auch damit zu tun, dass wir Leute dabei beobachten, wie sie gegen etwas ankämpfen, was uns alle betrifft. Und wenn dies nicht klappt, dann sehen wir es als lächerlichen Versuch an, dem Unausweichlichen in die Augen zu sehen.

P: Aber es ist natürlich nicht erfolglos im Versuch, alterslos zu erscheinen. Ausserdem handelt es sich bei Leuten wie den Kardashians auch um ein ökonomisches Projekt. Ihr Körper ist ihre Marke, ihr Emblem. Es handelt sich dabei um eine Verdinglichung des Körpers die unsere Zeit ganz allgemein auszeichnet. Und um eine Betrachtung des Körpers als Projekt. Und die bizarren Fälle, die Du ansprichst, sind eher ein Zeichen frühere Zeiten, wo die Methoden noch viel rabiater waren als heute. Alltagskulturell ist dadurch auch die Skepsis neu, die wir jemandem entgegenbringen, der einfach nur gut aussieht. Wir sagen sofort: «Da stimmt doch was nicht». Das ist eine völlige Neubewertung von Schönheit als Ideal, weil sie nichts mehr ist, das schicksalshaft verteilt wird sondern auf einem Eigenbeitrag des Individuums beruht.

S: Das heisst entweder glauben wir an gute Gene, oder einen äusserst geschickten Chirurgen.

P: Genau, egal was es ist, Schönheit ist verdächtig.

Es geht auch anders. Fragen sie Iris Apfel.

Annex: Der Grund für meine Ressentiments diesem ganzen Getue gegenüber, rührt auch aufgrund verschiedener Aussagen von Schönheitschirurgen. Ich erinnere mich an ein Interview im Tagesanzeiger mit dem Schönheitschirurgen Clarence P. Davis (nur schon der Name, give me a break).

Auf die Frage: Gibt es viele Frauen, die einen Kaiserschnitt bevorzugen? antwortet der Doktor:

«Eher nein, Frauen sind da eigentlich sehr natürlich eingestellt. Ich sehe das auch bei meiner schwangeren Frau: Sie will natürlich gebären, ich hätte lieber einen Kaiserschnitt, damit nachher untenrum alles wieder so ist wie vorher. Da beisse ich aber auf Granit.»

Wie wichtig ist die innere Schönheit einem Schönheitschirurgen? «Die Schönheit meiner Frau wird mir nie verleiden. Was aber tausendmal mehr zählt, sind ihre menschlichen Werte. Dass meine Frau auch noch in einer schönen Verpackung daherkommt – umso besser.»

Und wenn die Verpackung verblasst und sich Ihre Frau nicht operieren lassen will? «Dann gibt es wahrscheinlich Probleme.»

Mindestens ist er ehrlich.  Von «nie» zu «ohne Ops wahrscheinlich bald» in zwei Sätzen. Und dann fragt man sich, warum viele Leute dieser Industrie Oberflächlichkeit vorwerfen.

Das ganze Interview unter: www.tagesanzeiger.ch
Eine Diskette ha?lt bis zu 30 Jahre. Doch wer hat heute noch ein passendes Lesegera?t griffbereit. Foto: Thinkstock
Eine Diskette ha?lt bis zu 30 Jahre. Doch wer hat heute noch ein passendes Lesegera?t griffbereit. Foto: Thinkstock
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Text
Matthias Schüssler, Tagesanzeiger Online

Tipp
Hin Van Tran

Daten für die Ewigkeit

Das Internet vergesse nie, behaupten die Datenschützer. Das stimmt leider nicht. Damit die digitalen Schätze über Jahrzehnte sicher sind, braucht es besondere Vorkehrungen.

FB

Eine Diskette ha?lt bis zu 30 Jahre. Doch wer hat heute noch ein passendes Lesegera?t griffbereit. Foto: Thinkstock

Das Internet vergesse nie, behaupten die Datenschützer. Das stimmt leider nicht. Damit die digitalen Schätze über Jahrzehnte sicher sind, braucht es besondere Vorkehrungen.

Zu Anfang der digitalen Revolution ­waren Dokumente in erster Linie Gebrauchs­gegen­stände aus dem Office-­Bereich. Sie wurden auf dem Personal Computer gespeichert, der im Vergleich zum Smartphone eine ziemlich unpersönliche Maschine ist.

Das Smartphone begleitet seinen Träger jedoch auf Schritt und Tritt. Es sammelt mittels Sensoren, GPS und Kamera nonstop Daten über Aufenthaltsort und Aktivität bis hin zu gesundheitlichen Para­metern. Mit immer leistungsfähigeren, kleineren Geräten und den Wear­ables ist die Selbstdokumentation in ­einer Detailschärfe möglich, die mit analogen Mitteln nie möglich wäre.

Aus dem kontinuierlichen Strom von Bildern, Videos und Telemetrie ergibt sich eine Art Hightechtagebuch, das sich Lifelog nennt. Die Lifelogger (siehe «Tages-­Anzeiger» vom 19. Mai) sehen darin einen Weg in die Unsterblichkeit. Die körperlosen Daten bleiben über den Tod hinaus erhalten: Wer Giga- und Tera­bytes anhäuft, ist in der Lage, das eigene Leben als eine Art digitales Geisterbild zu konservieren. Und auf der Ebene der globalen Gesellschaft entwickelt sich das Internet zum Weltgedächtnis. In ihm sind sowohl Grossereignisse als auch Alltagsbanalitäten gespeichert.

Nur Jahre bis Jahrzehnte sicher

Es gibt jedoch eine Krux bei der Sache: Es ist überhaupt nicht absehbar, welche Daten überdauern und welche spurlos verschwinden werden. Anders als häufig behauptet, vergisst das Internet längerfristig sehr wohl. Webdienste kommen und gehen und mit ihnen in aller Regel auch die Kundenkonten. Laut einem Bericht der BBC sind 11?Prozent der Inhalte, die in sozialen Medien verlinkt werden, bereits nach einem Jahr nicht mehr abrufbar.

Auch Selbstgespeichertes ist nicht für die Ewigkeit. Die durchschnittlichen Datenträger sind nur wenige Jahre bis Jahrzehnte haltbar. Das gilt für Festplatten. Sie beginnen schon nach drei Jahren zu schwächeln, wie eine Untersuchung des Back-up-Dienstleisters Backblaze zeigte. DVDs wären im Idealfall 20 bis 30 Jahre haltbar. Bei den Billigprodukten darf man sich darauf allerdings nicht ver­lassen. Der Kostendruck brachte viele Hersteller dazu, Rohlinge von diversen Drittherstellern zu beziehen. Das wirkt sich negativ auf die Zuverlässigkeit aus. Magnetbänder haben eine Lebensdauer von 30 bis 50?Jahren. Sie sind jedoch nicht für den Privatgebrauch vorgesehen. Speicherkarten und SSD-Speicher überdauern als Archivmedium zwischen 5 bis 10 Jahre.

Möchte man seine Daten länger speichern, braucht es Spezialtechnologien. Das Fraunhofer-Institut für physikalische Messtechnik entwickelt ein Verfahren namens «Bits on Film», bei dem Daten auf Polymerfilm ausbelichtet werden und auf diese Weise bis zu 500 Jahre halten. Die M-Disc ihrerseits soll ihren Inhalt sogar 1000 Jahre sicher speichern können. Diese DVD-Variante verwendet eine spezielle Trägerschicht. Sie ist laut dem Hersteller so «hart wie Stein». Für diese «Millennium-Scheibe» benötigt man einen speziellen Brenner. Zum Lesen genügt ein herkömmliches Gerät.

Die ein Jahrtausend überdauernde Scheibe weist auf das zweite Problem hin: Es ist nichts gewonnen, wenn zwar die digitalen Inhalte noch gelesen werden können, sich aber nicht mehr entschlüsseln lassen. Dateiformate geraten nämlich sehr schnell aus der Mode.

Auf Standardformate setzen

Dieses Problem wird schon heute mit 20 Jahre alten Text­verarbeitungs­dateien deutlich. Dokumente, welche mit Winword 2 im Jahr 1989 angelegt wurden, sind in neuen Word-Versionen unzugänglich. Die modernen Programme wissen den alten Code nicht mehr zu inter­pretieren. Um Daten über mehrere Jahrzehnte zu retten, muss man auf die absoluten Stand­ardformate setzen – und selbst dann gibt es keine Garantie.

Die Omnipräsenz des Internets mit seinen Cloud-Diensten täuscht darüber hinweg, wie flüchtig die als Bits und ­Bytes gespeicherten Informationen sind. Nun kann man sich darüber streiten, ob die heute gesammelten Daten wertvolle Erkenntnisse für die kommenden Generationen beinhalten – oder ob sie als Verlängerungsversuch einer egomanischen «Selfie-Gesellschaft» über den Tod hinaus zu werten sind.

Es bleibe dahingestellt, ob sich in der Zukunft überhaupt jemand für diese Datenhinterlassenschaften interessieren wird. Man könnte sie als Angebot an die kommenden Generationen verstehen – denen es dann überlassen bleibt, ob sie es annehmen wollen oder nicht.

aus: Tages-Anzeiger / Erstellt: 23.06.2014, 06:48 Uhr

Unwichtiges vom Wichtigen trennen

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Text und Interview
Shoko Wanger, ZEIT x FvF

Tipp
Bénédict Rohrer

Ahead of Time: Scott Thrift On Discovering the Cure for the Common Clock

Sometimes, on sunny, windy days, Scott Thrift walks to the cemetery near his apartment and flies a kite. There are no power lines. No trace of urban pandemonium. No people but those under his feet. Incidentally, he says, theirs is the company he seeks.

FB
Photography: Collin Hughes
Photography: Collin Hughes
Photography: Collin Hughes
Photography: Collin Hughes
Photography: Collin Hughes
Photography: Collin Hughes
Photography: Collin Hughes
Photography: Collin Hughes
Photography: Collin Hughes
Photography: Collin Hughes
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Text
Nicole Hametner

Nachdenken über Zeit

Eine Dokumentationsreihe von Arte versucht der komplexen Frage nach der Zeit nachzugehen.

FB

Zwischen 1903-1905 lebte Albert Einstein an der Kramgasse in Bern. In diesem Raum hängt die Uhr, von welcher Albert Einstein die Zeit abgelesen und möglicherweise auch über ihr Verhalten nachgedacht hat. 1916 erschien seine Relativitätstheorie, mit der er die bisherige Vorstellung von Raum und Zeit revolutionierte.

Eine Dokumentationsreihe von Arte versucht der komplexen Frage nach der Zeit nachzugehen.

 

 

Als Ergänzung eine kleine Liste als Anregung das eigene Nachdenken über Zeit zu vertiefen:

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Text
Patricia Schneider

Keine Zeit!

Ich wollte diesen Artikel schon vor zwei Wochen schreiben und eigentlich sollte das Thema ein ganz anderes sein.

FB

Ich wollte diesen Artikel schon vor zwei Wochen schreiben und eigentlich sollte das Thema ein ganz anderes sein. Es sollte um die Alterung von Digitaldrucken gehen, im Speziellen um die Tinten, welche von unabhängigen Stellen getestet werden. Aufgrund der Informationen des Wilhelm Research Institutes weiss ich nun, dass die Erzeugnisse, die ich mit meinem A1-Plotter ausdrucke, sofern ich das richtige Papier benutze, 100 Jahre halten, hinter UV-Glas ist es sogar doppelt so lang. Gut zu wissen, dass ich mich zu Lebzeiten nicht mehr damit beschäftigen muss, ob und wie sich meine Arbeiten verändern. Henry Wilhelm und Carol Brower Wilhelm haben bereits in den siebziger Jahren begonnen, die Alterung von Farbfotografien zu untersuchen und ihr Institut gehört immer noch zu den führenden Forschungseinrichtungen, welche die aktuellen Drucktechnologien testen. Wenn man allerdings die Webseite des Instituts anschaut, könnte man meinen, dass sie in den neunziger Jahren stecken geblieben sind. Das lässt mich unweigerlich an meine eigene Webseite denken, die schon seit geraumer Zeit ein Update oder besser noch eine komplette Überarbeitung nötig hätte. Auf meiner To-do-Liste rückt dieses Vorhaben aber immer wieder nach hinten, denn zuerst kommen sicher die Vorbereitung und Durchführung von Modulen, Einführungs- und Projektwochen, selbstverständlich auch die Besprechung von Seminar-, Bachelor- und Masterarbeiten und nicht zu vergessen die Mitarbeit bei einem Forschungsprojekt. Genauso wichtig sind mir aber auch das Vorwärtskommen mit der eigenen künstlerischen Arbeit und die damit verbundenen Ausstellungen, welche nie genau dann stattfinden, wenn es zeitlich gerade günstig wäre. Aber zurück zum Thema Alterung von Kunstwerken: Bei meiner weiteren Recherche bin ich auf einen interessanten Artikel von Tabea Lurk gestossen, die an der Hochschule Bern zur Alterung von Netzkunstwerken geforscht hat und nun an der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Basel die Mediathek leitet. Sie befasst sich mit digitalen Kunstwerken, deren Lebenszeit durch das digitale Umfeld geprägt ist. Wenn sich die Version des Abspielprogramms geändert hat, ein Browser auf das Werk zugreifen muss oder ein Plug-in benötigt wird, kann es sehr schnell passieren, dass ein Werk nicht mehr dargestellt werden kann. Gemessen an der vergleichsweise kurzlebigen Fotografie überdauern diese Kunstwerke eine noch kürzere Zeitspanne, wenn sich der Autor oder die Autorin nicht die Mühe machen, das Werk mitsamt seiner digitalen Umgebung zu archivieren. Der Artikel brachte mich insofern ins Grübeln, als diese Aussagen auch auf die Videokunst zutreffen. Ich habe mir nie die Mühe gemacht, die VHS-Videos, welche ich in den neunziger Jahren produziert habe, zu digitalisieren. Obwohl ich die Magnetbänder zusammen mit einem funktionstüchtigen Gerät (immerhin trocken, dunkel und kühl gelagert) aufbewahrt habe, weiss ich nicht, ob ich sie noch zum Laufen bringen könnte. Es fehlt mir schlicht die Zeit, um das herauszufinden oder vielleicht ist es auf meiner Prioritätenliste einfach so weit nach hinten gerückt, weil ich diese Arbeiten längst als ein Teil meiner Vergangenheit akzeptiert habe, der nicht mehr aufgefrischt werden muss. Es wäre bestimmt auch interessant gewesen, ein Interview mit Frau Lurk zu führen, aber das hätte bis zum Redaktionsschluss leider nicht mehr gereicht. Ich musste also eine neue Spur suchen und habe zunächst an die Ausstellung im Kunstmuseum Solothurn mit dem Titel Zeit verstreichen. Moment und Dauer in der Gegenwartskunst gedacht. Es hat mir letzte Woche immerhin noch gereicht, die Gruppenausstellung, welche bis Ende Oktober dauert, anzuschauen. Es handelt sich um verschiedene Positionen, welche sich mit dem Phänomen der Zeitlichkeit beschäftigen. Vom Wunsch, die Zeit anhalten zu können, über Werke, die sich mit der Vergänglichkeit oder der Zeit als Metapher beschäftigen, bis zur Titel gebenden Videoarbeit von Claudia Kübler «Zeit verstreichen» wird die Zeit sehr unterschiedlich thematisiert. Nur wer sich die Zeit nimmt, sich auf Langsamkeit, Wiederholungen und Wartezeiten einzulassen, wird die Zeit plötzlich vergessen und dabei dennoch keine Zeit verlieren. Die Ausstellung ist vielleicht ein guter Anlass, um sich über sein eigenes Zeitmanagement Gedanken zu machen. Ich habe dieses Jahr eine Auszeit genommen, um mich Dingen zu widmen, für die ich sonst nie Zeit habe. Ich konnte als Gastdozentin drei Monate in Bibao unterrichten, habe dort eine grosse Ausstellung realisiert, habe genäht, gedruckt und bin noch einen Monat in Ecuador herumgereist. Paradoxerweise war ich in diesem halben Jahr fast stärker ausgelastet als sonst und habe es auch dieses Jahr nicht geschafft, meine Steuererklärung rechtzeitig einzureichen. Mein Bedürfnis die freie Zeit möglichst gut auszunutzen hat dazu geführt, dass die freie Zeit letztlich wieder zu knapp wurde. Das Problem war dabei weniger die gegebene Zeit, als die Qual, aus einem riesigen Angebot von Möglichkeiten auswählen zu müssen. «Leben heisst aussuchen» hat Kurt Tucholsky mal gesagt – das scheint mir etwas vom Schwierigsten überhaupt zu sein. Zum Thema Zeit gibt es zahlreiche Sprichworte: «Gut Ding will Weile haben» (Ovid) haben wir alle als Kinder hören müssen und haben es gehasst, weil es meistens so zu verstehen war, dass die Arbeit noch nicht gut genug erledigt war. Viel passender für die heutige Zeit scheint mir daher Senecas Weisheit: «Es ist nicht zu wenig Zeit, die wir haben, sondern es ist zu viel Zeit, die wir nicht nutzen.» Der Grund, dass wir die Zeit nicht besser nutzen, sind die «Zeitfresser». Auf dem ersten Rang der Zeitfresser steht bei mir das Mailaccount. Einmal drauf geklickt ist es, als ob ich den Jackpot geknackt hätte: Ein unaufhörlicher Strom von neuen Mails wird heruntergeladen und wartet darauf, sortiert und beantwortet zu werden. Dabei sind einige wichtige Anfragen und Projekte, auf die ich unbedingt reagieren muss, aber immer öfter auch Informationen, die mich nichts angehen, die aber zur Sicherheit an alle potenziell Interessieren verschickt wurden, Newsletter, die ich mal abonniert habe, aber gar nie dazu komme, sie auch zu lesen, und dann gibt es auch noch die Fragen von Schülern und Studierenden, die es bequemer finden, direkt nach Öffnungszeiten der Werkstatt und dergleichen zu fragen, als die Information auf dem Internet selber herauszusuchen. Nebst dem Mailaccount gibt es noch zahlreiche andere Programme, die dauernd erneuert und aktualisiert werden wollen und mir meine kostbare Zeit rauben, und wenn ich dann zu müde bin, um noch etwas zu erledigen, verführt mich bestimmt ein Film oder eine Serie dazu, noch länger als geplant auf einen Bildschirm zu schauen. Inzwischen gibt es bereits Hilfsprogramme wie etwa Focus Writer, die den Zugriff auf sämtliche Programme für einen festgelegten Zeitraum blockieren, damit man sich ungestört einer Aufgabe widmen kann. Von solchen Hilfsmitten halte ich aber nicht so viel – ich würde mich gelegentlich ganz gerne ablenken und treiben lassen, aber leider fehlt mir auch dazu die Zeit. Manchmal wünschte ich mir, ich könnte die Zeit anhalten und wenn alles um mich herum stillsteht die Bücher lesen, die sich neben meinem Bett stapeln, die Filme schauen die ich verpasst habe, alle Ausstellungen besuchen, die mich interessieren, den Bürokram erledigen, der sich auf meinem Schreibtisch stapelt, endlich den Keller und Estrich ausmisten und mich von all dem unnötigem Ballast befreien. Und wenn die Zeit dann wieder weiterlaufen würde, könnte ich mich unbekümmert mit allen Freunden treffen und würde dann wahrscheinlich feststellen, dass diese keine Zeit haben.

 

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Veranstaltungshinweis
Annika Hossain

LernZeiten – Zeit für Bildung und Erziehung?

Zeit stellt eine unvermeidliche Dimension jeglichen Nachdenkens über Erziehung und Bildung dar.

FB

Zeit stellt eine unvermeidliche Dimension jeglichen Nachdenkens über Erziehung und Bildung dar. Sei es bei der Frage nach dem passenden Zeitpunkt, der angemessenen Dauer, der optimalen Geschwindigkeit oder einem sinnvollen Rhythmus – immer spielt die Zeit eine wichtige Rolle: als unabhängige oder abhängige Variable, als Bedingung oder Konsequenz, als Planungsgrundlage oder Grenze.

Im Zentrum des Kongresses 2017 der Schweizerischen Gesellschaft für Bildungsforschung (SGBF), in Zusammenarbeit mit der Schweizerischen Gesellschaft für Lehrerinnen- und Lehrerbildung (SGL), stehen folgende Fragen:

Wann sollen fundamentale Bildungsprozesse, genauer die obligatorische Schulzeit, der Unterricht, die einzelnen Fächer, die berufliche Bildung beginnen und enden? (Fortsetzung des Kongressthemas von 2016)

Welche Erkenntnisse und Errungenschaften sind zeitlos und von bleibendem Wert, welche verfallen mit der Zeit?

Wie kann Unterricht, wie können Lehr? und Lernprozesse zeitlich strukturiert werden, um optimale Lernaktivitäten im Hinblick auf nachhaltige Ergebnisse zu ermöglichen?

Hat sich beispielsweise die standardisierte Zeit einer Lektion von 45 bis 50 Minuten bewährt oder hat sie ausgedient?

Wie können Lehrerinnen und Lehrer in Bildungsinstitutionen den unterschiedlichen Voraussetzungen und dem unterschiedlichem Bedarf an Lernzeit der Lernenden Rechnung tragen?

Wie erlernen Schülerinnen und Schüler den Umgang mit Zeit als Ressource in und ausserhalb der Schule?

Dies sind nur einige Beispiele von Fragen, die das Kongressthema anregen möchte, und zu denen wir die Forschenden einladen, Beiträge einzureichen. Es sind jedoch auch Beiträge zu andern Themen willkommen, denn noch wichtiger als die Zuordnung zur Kongressthematik ist den Organisatoren die Qualität und Vielfalt der Beiträge.

SGBF Kongress 201726. – 28.6.2017
Uni Fribourg 
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