Essay Stefan Sulzer
Biedermann und Brandstifter
Essay Stefan Sulzer
Biedermann und Brandstifter
Das Muster ist bekannt und mag wenig erstaunen. Ein kataklystisches Ereignis folgt dem nächsten. Es zu politisieren, wird umgehend als Beweis des pietätslosen Usurpierens gesellschaftlicher Tragödien zuhanden einer politischen Ideologie stigmatisiert. Die heuchlerische Verweigerung, Verantwortung für politische Entscheide zu übernehmen, findet sich auf beiden Seiten des politischen Spektrums und wird, frei jeglicher kritischen Selbstreflexion, im Diente des strategischen Kalküls gezielt eingesetzt. Niemand, wirklich niemand, bewegt sich allerdings so schambefreit zwischen giftiger Hysterie und faktischer Blindheit vor der Wirklichkeit wie der amerikanische Fox-Fernsehmoderator Sean Hannity. Obwohl schon längst zum Multimillionär aufgestiegen, ist Hannity immer darum bemüht, seine working class credibility und die damit einhergehende Nähe zum amerikanischem Arbeiter durch seine mehrjährige Tätigkeit auf dem Bau zu betonen (es ist nicht überliefert was genau sein Aufgabenbereich auf den Baustellen war; Überprüfen der statischen Integrität von Gerüsten, oder das Verpfeifen illegaler mexikanischer Wanderarbeiter). Er ist einer der gefährlichsten Anhänger und Säer haarsträubender Verschwörungstheorien (nicht weit hinter dem verrückten Info-Wars Zampano Alex Jones oder Rush Limbaugh) und wird gerade dafür von Millionen von Amerikanern geliebt.
Als nach dem Attentat in Las Vegas, dessen Dimensionen selbst in einem von Amokläufen gebeutelten Land wie den USA keine alltägliche Nebensächlichkeit darstellte, die unumgängliche Frage nach dem Sinn halb- oder vollautomatischer Waffen zum tausendsten Male laut wurde, sahen sich die Fragestellenden unverzüglich dem Vorwurf ausgesetzt, den Tod unschuldiger Menschen für politische Zwecke zu missbrauchen. Jetzt über die Einschränkung des gottgegebenen Rechts auf Waffengebrauch zu diskutieren sei verfrüht, zeuge vom Nichtvorhandensein etwelcher Empathie und Pietät. Dass die Geschwindigkeit, in welcher sich gerade unter Trump die Meldungen über mögliche oder tatsächliche Katastrophen verbreiten, ein späteres Zurückkommen auf die Thematik verhindert, ist kalkuliert. Wer das nicht glaubt, suche nach nur einem Monat nach dem Attentat in Las Vegas auf CBS, MSNBC, CNN, ABC oder Fox noch nach Sendungen dazu. Viel zu vieles ist in der Zwischenzeit passiert, die Rufe sind verstummt oder richten sich an neue Adressaten.
Den Vorwurf der eigennützigen Politisierung gesellschaftlicher Tragödien im Dienste der persönlichen/parteiideologischen/politischen Agenda ist ein auch in der Schweiz vielgehörtes, jedoch geistloses Argument. Was sonst darf man bitte von bezahlten Politikern erwarten, als dass sie auf Probleme und Veränderungen in der Gesellschaft, die sie repräsentieren, achten und gegebenenfalls reagieren. Der Ruf nach sinnvolleren gun law schien einigen verfrüht, für die Opfer kam er definitiv zu spät. Natürlich bedarf es einer gewissen objektiven, von individuellem Leid befreiten Analyse. Wenn aber jede Statistik oder Verschärfung von Waffengesetzen (siehe Australien oder Grossbritannien) das selbe Resultat hervorbringt, darf hinter dem Argument nicht ein ernsthaftes Interesse an der Lösung eines Problems vermutet werden, sondern die Verhinderung gesellschaftlichen Fortschritts. Die Zahlen sind eindeutig und lassen den konklusiven Schluss zu: Mehr Waffen, mehr Tote durch Waffen. Der von der NRA mantraartig vorgetragene Schmäh «the only thing that stops a bad guy with a gun is a good guy with a gun» wurde gerade in Las Vegas ad absurdum geführt.
Selbst wenn Fox News für seine erzkonservative Meinungsmache bekannt ist, Moderatoren wie Shepard Smith oder Chris Wallace haben sich nach Trumps Einzug ins Weisse Haus das Recht auf kritische Fragen nicht nehmen lassen. Ganz anders Sean Hannity. Selbst der Angriff seitens Ann Coulter, ihres Zeichens Verfasserin hasserfüllter Kommentare und ursprüngliche Verfechterin einer Präsidentschaft Trump (Titel ihres Buches: In Trump we trust), die Hannity der blinden Gefolgschaft bezichtigte und einen (berechtigten) Mangel an journalistischer Distanz diagnostizierte, lies den Hörigen der trumpschen Politik unbeeindruckt. Auf ihre Attacke, Hannity würde folgsam auch den Kommunismus unterstützen, wäre das in den Augen Trumps etwas Gutes, tat er mit einem entnervten «Du langweilst mich» ab.
Wurde bei den Opfern in Las Vegas noch eine politfreie Totenruhe gefordert, war Hannity einer der ersten und unerbitterlichen Ankläger Hilary Clintons als in Bengasi bei einem Terrorangriff vier Personen im Dienste der US Regierung getötet wurden. Der Vorwurf: Sie hätte als Aussenministerin nicht für genügend Schutz gesorgt und trage somit die Verantwortung für den Tod der vier US-Amerikaner. Hier wurde der Ruf nach einer nüchternen Abklärung und angebrachten Empathie gegenüber den Opfern getrost einer politisch motivierten Attacke geopfert. Wird First Lady Melania dafür kritisiert, dass sie in hochhackigen Designer high heels in die von der Flutkatastrophe betroffenen Gebiete fliegt, tut Hannity dies als Zeichen einer kleingeistigen Verkümmerung linker Eliten ab, die das big picture aus den Augen verloren hätten. Das kommt von jemandem, der Obama als abgehobenen Schnösel gerügt hat, weil er sein Hamburger nicht mit Ketchup sondern mit einer soch exquisiten Delikatesse kommunistischer Provenienz wie Dijon Senf bestellte!
Bisweilen zieht Hannity überraschende Minoritäten zur Untermauerung seiner Argumente hinzu. Er, der einen Ehrendoktor der Evangelikalen Liberty University besitzt, wettert nur allzu gern gegen den politischen Islam, wobei ein immer wiederkehrendes Argument jenes ist, dass in islamischen Ländern Schwule und Lesben von Häuserdächern gestossen würden. Dies könnte getrost als Weckruf an eine die Individualrechte mit Füssen tretende Regierung gelesen werden, wären da nicht all die abfälligen Kommentare betreffs der Rechte von LGBTQ Menschen in den USA. Die Verletzung ihrer Rechte interessieren Hannity nur, wenn sich dadurch ein Argument gegen eine ihm noch verhasstere Gruppe bilden lässt. Im eigenen Land zählen dieselben Rechte dann nicht mehr. Ungeborenes Leben ist unter allen Umständen zu schützen, doch wenn geborene Menschen Waffengewalt zum Opfer fallen, wird das Recht auf Ausübung zur Gewalt höher gewertet als das Recht, unversehrt zu leben. Hannity sieht das menschliche Leben wie eine Packung Kondome. Verpackt sind sie wertvoll, gebraucht aber wertlos.
Gleiches Muster findet sich bei Frauenrechten. Die Affäre Weinstein lies sich perfekt für den verkommenen, unmoralischen Umgang Hollywoods mit Schauspielerinnen ausschlachten. Für Hannity ein Beweis, dass in Kalifornien Sodom und Gomorra-artige Zustände herrschen und gerade Frauen unter der Herrschaft ekliger, alter Machos zu leiden haben. Dies alles trifft zu. Nur wäre es glaubwürdiger, wären die Rechte der Frauen auch sonst ein prominenter Punkt auf Hannitys Agenda. Konsequenterweise müsste man erwarten können, dass er das Recht der Frau auf ihren eigenen Körper respektiert oder die Sparmassnahmen der Trump Administration ablehnt, die die Non-Profit Organisation Planned Parenthood betreffen und Auswirkungen auf abertausende Frauen haben. Denkste! Wer Hannity dabei zuschaut wie er genüsslich die Doppelmoral der politischen Elite und Hollywoods anklagt, wie er betont, wie arm und schutzbedürftig die Opfer sexueller Gewalt sind und gleichzeitig weiss, wie eng sein Verhältnis zu dem Fox-Gründer und wegen sexueller Belästigung abgesetzten Roger Ailes und zu seinem Vorbild, einem der erfolgreichsten Fernsehmoderatoren aller Zeiten, Bill O’Reilly, ist, dem wird übel ob solch einer selektiven Sichtweise. Weinstein wurde von allen Seiten (auch der Linken) wegen seiner Verfehlungen geächtet und aus seiner eigenen Firma entlassen. O’Reilly, dessen letzte aussergerichtliche Abfindung eines Opfers seines prädatorischen sexuellen Verhaltens 32 Millionen Dollar betrug (wie Megyn Kelly richtig bemerkt: Man bezahlt nicht 32 Millionen Dollar Abfindung weil man die Bluse einer Arbeitskollegin kommentiert) wurde nach Bekanntwerden all dieser Tatsachen trotzdem von Hannity in sein Studio eingeladen und durfte sich da auch noch als Opfer darstellen. Als der schleimige Roger Ailes diesen Mai viel zu spät das Zeitliche segnete, hielt Hannity eine peinliche Laudatio, in der er seinen ehemaligen Boss als Vorkämpfer der journalistischen Freiheit, patriotischen Krieger und zweiten Vater pries.
Neben Sean Hannity tummeln sich auf Fox noch weitere journalistische Scharfmacher, deren Hörigkeit Trumps Politik gegenüber jeden halbwegs kritischen Geist erstaunen muss. Lou Dobbs letztwöchiges Interview mit Trump war so was von biased (parteiisch, unausgewogen, befangen), dass die Energie zwischen Interviewer und Interviewtem schon fast sexuelle Qualität erreichte. Wäre einem der Sender die bildliche Untermauerung des Gesagten schuldig geblieben, hätte man sich ohne weiteres vorstellen können, dass sich hier zwei Kumpels in der Saune unterhalten. Oder im von Trump oft bemühten locker room. Als Präsidententochter Ivanka Trump an einer W20-Konferenz in Berlin ob ihrer Behauptung, ihr Vater sei ein «enormer Unterstützer von Frauen», ausgebuht wurde, sah Herr Waters darin eine Attacke auf Frauen allgemein und geisselte die Kritik an Ivanka als Kritik an einer starken Frau. Nur um am Schluss seiner leidenschaftlichen Rede anzumerken, dass er es allerdings «wirklich mochte, wie Ivanka in das Mikrophon sprach». Dies sollte ein billiger blowjob joke sein, weil man, in kindlicher Phantasie, das Mikrophon, so war der Witz intendiert, auch als Penis hätte lesen können. Wie ernst lassen sich jegliche gutklingende Verteidigungen von Rechten von Frauen, Homosexuellen oder Migranten interpretieren, wenn sie vor dem Hintergrund billigster Politikmache betreiben werden?
Dieses Schema ist nicht rechten Medien vorenthalten. Jedoch finden sich in Diskussionsrunden auf CNN, CBS oder ABC immer wieder Verteidiger Trumps, die eingebunden werden in eine gesunde Mixtur sich unterscheidender Meinungen. Jeffrey Lord gehörte bis zu seinem bescheuerten «Sieg Heil» Tweet praktisch zum CNN Inventar. Hannity hingegen hat die eh schon spärlichen Einladungen an politische Gegner seit dem Einzug Trumps als Präsident gleich ganz abgeschafft. Gäste verkommen zur mundtoten Requisite. Häresie oder Kritik, duldet ein Demagoge im Range Hannitys nicht in seinem Studio. Gäste reden dem Moderator nach dem Mund und setzten, wenn überhaupt, den Ungeheuerlichkeiten seitens Hannitys noch einen drauf. Brillante Denker im Format eines Cornel West wichen den einsilbigen Salven eines Sherriff David Clarke.
Nichts wäre einfacher, als diesen Artikel mit dutzenden Artikeln und Video Clips zu untermauern. Allerdings wäre das schon eine ideologisch motivierte Selektion meinerseits. Wer sich ein Bild machen will, schaue sich ganz einfach die letzte Episode Hannity an. Beweise für die Thesen dieses Textes lassen sich im 20 Sekunden Takt finden.
Der französische Soziologe und Ethnologe Emile Durkheim definierte Ideologie wie folgt: «Ideology is the use of notions to govern the collation of facts rather than deriving notions from them» (frei übersetzt: Ideologie ist der Gebrauch von Ahnungen um das Bewerten von Tatsachen zu steuern, anstatt Ahnungen von ihnen abzuleiten) Oder banaler: Change the names and you change the story. So einfach ist das. Bei Sean Hannity zumindest.
Tipp Stefan Sulzer
Victoria – Ein gigantischer Ritt durch eine Berliner Nacht
Tipp Stefan Sulzer
Victoria – Ein gigantischer Ritt durch eine Berliner Nacht
Text Stefan Sulzer
Navigo ergo sum
Text Stefan Sulzer
Navigo ergo sum
Das Ziel war klar. Als altgedientes Ding-Dong Redaktionsmitglied durfte ich nach der fadenscheinigen Ablehnung meines letzten Themanvorschlags (Fadenkreuz), diesmal einen weiteren seriösen Kandidaten ins Rennen bringen: Autokorrektur. Während sich meine Kolleginnen mit der zerstörerischen Macht der automatisierten Korrektur moderner Computer-Algorithmen oder der hoffnungsvollen Entwicklung des matriarchalischen Korrektivs in Bhutan auseinandersetzen würden, dürfte ich mich auf den Auto-Teil des Titels konzentrieren und als Teil meines Rechercheprozesses (Wochenendausfahrten), die luxuriöseste Form des Individualverkehrs testen. Kurz: Ich würde mich ein paar Wochenenden auf Strassen vergnügen, die sich wie von Gotteshand drapierte Asphalt-Spaghetti über die Berge dieses Landes legen. Das war der Plan. Doch die Menschen, welche für das Ausleihen von Wagen an Medienvertreter verantwortlich zeichnen, haben, so scheint es, mit Google Maps einen Blick auf den HKB Parkplatz geworfen und ob all der erblickten Elektrovelos und verrosteter Toyota Camrys entschieden, dass sich durch einen Verleih an mich kein neues, zahlungsfreudiges Kundensegment eröffnen würde. Dabei gibt es an der HKB durchaus die ein oder andere Person, der ein rassiges Gefährt etwas mehr Verve verleihen würde …
Die Suche nach grosszügigen Autofirmen führte mich schlussendlich doch noch ans Ziel. Der den Inbegriff der nordischen Eleganz und des revolutionären Interieur-Designs darstellende Volvo XC 90 wurde mir für eine geschlagene Woche zur Verfügung gestellt. Volvo hat sich designtechnisch schon lange des klotzigen Traktoren-Images entledigt und verkörpert zeitgenössische, unangestrengte Coolness geradezu emblematisch. Der Grund, warum Volvo nicht als erstes für einen Test angefragt wurde ist simpel: auch wenn ich mir den ausgeliehenen XC 90 nie werde leisten können, so habe ich doch, ohne je ein neues Modell gefahren zu haben, immer gespürt, dass ich, würde ich je ein Auto besitzen, mich für die Marke aus Göteborg entscheiden würde. Design und Image der coolen Nordländer treffen bei vielen kunstaffinen Menschen auf eine ganz besondere Resonanz, doch dazu später mehr. Ausserdem hätte mir der Test eines Sportwagens erlaubt, ein Wochenende lang in eine Rolle zu schlüpfen, die ich auch bei dem Jahreseinkommen eines texanischen Öl-Magnaten nicht dauerhaft würde besetzen wollen: die des Maserati-, Jaguar- oder Porschefahrers. Lieber wäre ich durch einen Sportwagentest für kurze Zeit zu einer Person geworden, die ich nicht bin, als durch den famosen Volvo einen Ausblick in eine Welt kriegen, die ich nur aus fehlendem pekuniären Erfolg nicht meine eigene nenne. Die Tatsache, dass sich Volvo Schweiz als einzige der sieben angefragten Firmen bereit erklärte, mir nicht irgendeinen Testwagen zur Verfügung zu stellen, sondern ihr exquisites Topmodell, soll als weiteres Zeugnis der ewigen Beziehung der Schweden mit den Künsten dienen.
Volvo macht auch deshalb Sinn, weil es ja zu einem Teil auch uns Schweizern gehört. Oder wer hat noch nie eine ähnliche Konversation mit einem geografieschwachen Amerikaner erlebt:
„Where are you from?“
„Switzerland“
„Oh, how very interesting, I have a friend who drives a Volvo …“
Nordische Automobilhersteller haben es geschafft, mit ihren Produkten feingeistige homo artistici in ihren Bann zu ziehen. Egal an wie viele Bäume sich der Architekturstudent in den 80ern gekettet oder vor wie viele Castor-Transporte er sich gelegt hat und wie unvorstellbar es für ihn nun, Mitte Fünfzig wäre, einen «vulgären Maserati» oder «protzigen BMW» zu fahren; ein Saab oder Volvo bilden eine gegenüber jeglichen schöngeistigen und gutmenschlichen Vorbehalten autarke Kategorie des gehobenen automobilen Understatements. Der Saab 900 (ein von der Redaktionsleiterin gern gefahrenes Automobil) wird nicht von ungefähr bis heute als Architektenkarre bezeichnet. Das abgehobene Kognitariat findet seine edle Weltanschauung am deutlichsten in schwedischem Stahl gespiegelt.
Lange waren Autos und Motorräder alles für mich. Die Fahrprüfungen beider Fortbewegungsmittel wurden zeitnah dem 18. Geburtstag bestanden (alles andere kommt im Aargau dem Aussatz gleich) und selbst als Kind mussten die weichen Teddy Bären und Plüschaffen im Bett den harten Matchbox Autöli weichen. Doch dann kam, für einen aargauischen Prolo-Bauern etwas unerwartet, der Eintritt in die Kunstwelt und die heimliche Liebe wich fürs erste der Beschäftigung mit hochstehender geistiger wie retinaler Nahrung. Eines Tages fiel mir jedoch Roland Barthes Essay über den neuen Citroën DS, welches in seinem Buch Mythologien des Alltags publiziert ist, in die Hände. Barthes vergleicht darin das Auto mit gotischen Kathedralen, spricht von der «Preisung der Scheiben» und der «Vergeistigung des Automobils» (schicksalhaft wurde Barthes in Paris von einem Kleintransporter überfahren und starb einen Monat später an den Folgen des Unfalls). Offenkundig durfte die Gestaltung eines Fahrzeuges auch komplexe Geister bewegen, ohne dass eine solche Beschäftigung als Beweis einer zerebralen Simplizität herhalten musste.
Während vieler Jahre gab es aus der Welt des Automobils nichts wirklich Aufregendes zu berichten. Ein Design glich dem anderen, CW-Werte und Windkanäle bestimmten die Form und führten dementsprechend zu einem sämigen Einheitsbrei an Gestaltungsentwürfen. Nicht so heute. So wurden in den letzten Jahren nicht nur spannende Karosserien geschmiedet, sondern vermehrt ein Augenmerk auf den Ort gelegt, in dem der Pilot, die Pilotin, am meisten Zeit verbringt: dem Cockpit, bzw. dem Innenraum. Von Fachjournalen als eines der schönsten Wageninterieurs der letzten Jahre gepriesen (lange eine Ehre, die sich Range Rover und Rolls Royce teilten), empfängt mich der XC 90 mit einem angenehm neutralen Ledergeruch. Auch wenn ich in meinem Test weniger über solch profane Fakten wie Preis (137’350chf) oder Leistung (407 PS) pontifizieren möchte, so werden beide dieser Faktoren schon in den ersten Fahrminuten evident. Mit gehörigem, von einem Elektromotor unterstützten, Zug, fahre ich gen Zürich. Man fühlt sich in dem hyper-stylischen Cockpit wärmstens aufgehoben. Die edlen Materialen wie die fischgrätähnlichen, offenporigen Echtholzapplikationen, das weiche Leder, der beleuchtete Schaltknauf aus Kristallglas des schwedischen Glasproduzenten Orrefors und der satte, 1400 Watt starke Sound aus den 19 Bowers & Wilkins Lautsprechern lassen einen gediegenen Wochenend-Roadtrip durch die österreichischen Alpen, Norditalien und das Valle di Poschiavo erahnen. Das Innenraum-Design verkörpert eine Dualität an kühler Futuristik und heimeliger Wärme, so dass man sich zwar als Teil einer zukunftsgewandten Gesellschaft des 21. Jahrhundert erkennt, ohne jedoch das Gefühl einer schützenden Nestwärme zu vermissen. Trotz seiner imposanten Aussenmasse (fast 5m lang, über 2m breit) und einem Gewicht von fast zweieinhalb Tonnen, strahlt der XC 90 ein Gefühl der unbekümmerten Eleganz und Lässigkeit aus. Dies ist nebst dem luxuriösen Fahrgastraum auch der alle Unebenheiten willig absorbierenden Luftfederung geschuldet. Besondere Freude hatten Fahrgäste allerdings nicht im Fahrersitz (der eh nicht zur Verfügung stand), sondern im Fond. Mir wurde nämlich nicht irgendeine Baureihe des XC 90 ausgeliehen, sondern das EXCELLENCE Modell, welches eigentlich für CEOs gedacht ist, die das Steuern eines Fahrzeuges lieber einem samtpfotenen Chauffeur überlassen. Abgesehen von den beschränkten Kapazitäten (man bezahlt mehrere Zehntausend Franken drauf, um statt sieben nur vier Personen transportieren zu können) bietet der EXCELLENCE Vorteile, welche man auf den ersten Blick als negierbar erachtet; nur um sich nach 30 minütiger Fahrt zu fragen, wie man je in einem Auto Platz nehmen konnte, welches nicht über belüftete Massagesitze und einen Champagnerkühlfach verfügten. Die Massagefunktion ist, Volvo sei Dank, auch in den Vordersitzen vorhanden, so dass kraft der akzentuierten Hot-Stone-Massage, selbst der ödeste Autobahnabschnitt des Landes (Zürich – Bern) zu einem erholsamen Unterfangen wird.
Bitte gestatten Sie mir hier einen kurzen Exkurs in die Frage, warum fahrzeugbezogenes Interieur Design lange Zeit diesen Ausdruck nicht wirklich verdiente und warum es grösstenteils dafür verantwortlich zeichnet, wie man sich beim Navigieren eines Gefährts fühlt. Die offensichtliche Tatsache ausser Acht lassend, dass man die meiste Zeit im und nicht ums Auto verbringt, geht es um viel mehr als ergonomisch adäquat platzierte Knöpfe und Schalter. Vielmehr versprüht das noble Interieur ein sentiment de bonheur und eine Überlegenheit der allgemeinen Lugubrität unserer Zeit gegenüber. Die Plastiklawinen, welchen einen beim Einsteigen in die meisten Fahrzeuge der 80er Jahre verschlangen, sind glücklicherweise passé. Viele Autobauer bevorzugen eine eher aufrechte Sitzposition, wie man sie beispielsweise beim Golf oder praktisch allen Porsche 911 vorfindet. Was ich mich schon als 11-jähriger Bub beim Betrachten eines Lamborghini Countach Cockpits fragte: Warum sind nicht alle Fahrgasträume mit enorm hohen, den Fahrenden und die Fahrende umwickelnden Mittelkonsolen versehen, die eine viel immersivere Fahrerfahrung provozieren. Auch fühlt man sich durch die räumliche Eingrenzung des eigenen Körpers wie in einem schützenden Kokon. War es früher italienischen Supersportwagen vorbehalten, ihr Inneres so zu präsentieren, gestalten immer mehr Designer heutige Interieurs nach diesem Prinzip. Selbst Porsche hat mit dem Typus 991 ab 2011 das erste Mal eine solch hochgezogene Mittelkonsole präsentiert. Volvo wendet in all seinen neuen Modellen dieses Design an, sehr zur Freude des an einem holistischen und non-exhaustiven Fahrgenuss interessierten Connaisseurs.
Ich bin kein pseudo-neutraler Auto-Journalist. Die kritische Distanz als Credo jeglicher journalistischen Schreibe ist für mich kein Muss. Natürlich gibt es auch beim XC 90 Verbesserungsmöglichkeiten (z.B. den Verbrauch). Nichtsdestotrotz fällt nach tagelangen Ausfahrten auf Strassen dieses wundervollen Kontinents, die Rückgabe des stolzen Begleiters schwer. Wie werde ich die Dank der grosszügig isolierten Fahrgastzelle wohltuende Ruhe vermissen, wenn sich bei der nächsten Zugfahrt ein Baby bemerkbar macht oder zwei pensionierte Wanderer das letzte Abstimmungsergebnis diskutieren? „Isolation is the essence of land art“, sprach Walter De Maria. Ich würde dem beifügen: „the essence of luxury is isolation“. Beim letzten Aussteigen vergegenwärtige ich mir die Tatsache, dass ich höchstwahrscheinlich nie mehr in ein Gefährt von solch unbestechlichem Luxus steigen werde. Ein Luxus, der nicht auf grossspurigem Protzen und ostentativer Zurschaustellung materieller Mittel beruht, sondern den mühelosen Genuss, des an seiner Umwelt nicht sonderlich interessierten Zeitgenossen, auf eine solch unaufgeregte Art befördert, dass er gänzlich unbemerkt die Misere dieser Welt etwas erträglicher erscheinen lässt.
Das Testfahrzeug wurde grosszügigerweise von Volvo Schweiz und der Garage Häusermann in Effretikon zur Verfügung gestellt.
Roland Barthes Essay über den Citroën DS aus dem Jahr 1957
Essay Stefan Sulzer
Von Trump und anderen Löchern
Essay Stefan Sulzer
Von Trump und anderen Löchern
Fluchen kann herrlich vulgär sein, ohne dass es jedoch gleichzeitig primitiv sein muss. Sprachliche Finessen können sich darin ebenso manifestieren wie die unverkennbare Klassenzugehörigkeit. Fluchen kennt aber auch klare geografische Differenzen. In Grossbritannien, einem Land das mit grosser Leidenschaft flucht, darf am TV beispielsweise erst nach dem sogenannten watershed (Wasserscheide) gehörig geschimpft werden (neben der Darstellung von Gewalt und Sex, die ebenfalls erst nach 21 Uhr erlaubt ist). Ist der Gebrauch des Wortes „cunt“ (Fotze) in Australien und Grossbritannien völlig ungefährlich und nicht selten als Beleidigung beider Geschlechter zu hören, verstummt in den USA ein Raum, sobald das unsäglichste aller Worte ausgesprochen wird. Ebenfalls in den USA wurden dafür extra Abbreviationen geschaffen, damit man das Unaussprechliche trotzdem aussprechen kann. C-word für cunt, n-word für nigger. Wie der Sprachwissenschaftler Hans-Martin Gauger herausgefunden hat, liegt der Fokus unterschiedlicher Sprachen beim Fluchen auf unterschiedlichen Körperfunktionen oder Regionen. Finden sich im Englischen oft auf die Sexualität anspielende Kraftausdrücke und Beleidigungen (das ubiquitäre fuck, motherfucker, dickhead, bellend, twat, tosser, sodding, tits up, bollocks, knobhead etc.), so fluchen deutschsprachige Menschen exkrementell oder fäkalisch (Scheisse, Arschloch, verpiss dich etc.). Es gibt natürlich für die meisten Beispiele ein englisches Equivalent und vice versa, jedoch werden diese nicht in der selben Häufigkeit benutzt. Auch benutzt man im Englischen oft Fluchwörter, die nicht a priori negativ besetzt sind. Etwas, was sich von Scheisse nicht sagen lässt. Eine detailliertere Auseinandersetzung mit den sprachlichen Differenzen finden Sie im nachfolgenden Spiegel Interview mit Hans-Martin Gauger.
Der äusserst scharfzüngige politische Kommentator Bill Maher warnt davor, sich zu schnell durch einzelne Worte beleidigen zu lassen und dabei gewichtigere Zusammenhänge aus den Augen zu verlieren. Die besonders in den USA grassierende Forderung nach „safe spaces“ und „trigger warnings“ an Universitäten durch sogenannte Social Justice Warriors (SJW) kontert er folgendermassen: „What matters is while you self-involved fools were policing the language at the Kids‘ Choice Awards, a mad man talked his way into the White House. Stop protecting your virgin ears and start noticing you’re getting fucked in the …“ (zum Thema passend handelt es sich hier übrigens um eine perfekte Kombination von exkrementellem und sexuellem Fluchen).
Spiegel Interview mit dem Sprachforscher Hans-Martin Gauger
TV-Interview mit Hans-Martin Gauger
Was Louis C.K. vom n-word hält
Recherche Stefan Sulzer
Wenn das Foulspiel ernst wird – Körpereinsatz auf Leben und Tod
Recherche Stefan Sulzer
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Räumen wir in Zeiten des kollektiven Fussballrausches mit dem Klischee auf, dass Frauenfussball in vielen Aspekten weniger attraktiv sei als der an moderne Kriegsführung erinnernde, strategisch und körperlich überlegene Männerfussball. Selbst was das Foul betrifft, ist hier ein genderspezifisches Defizit auf der Seite der Frauen fehl am und auf dem Platz, wie die bezaubernde Elizabeth Lambert vorzüglich zu beweisen weiss.
Hart on Ice. Die tiefe Rivalität der beiden US Eiskunstlaufprinzessinen Nancy Kerrigan und Tonya Harding erreichte ihren Höhepunkt, als Hardings Ehemann jemand dazu anstiftete, Kerrigans Knie zu zertrümmern und so seiner Frau den unangefochtenen ersten Platz im US Figure Skating Team und somit die Teilnahme an der Winterolympiade 1994 in Lillehammer zu gewähren. Weder wurde Kerrigans Knie zertrümmert, noch ihr Bein gebrochen. Alles kam ans Licht, Harding wurde als Beast gebrandmarkt und dem Absturz folgten die üblichen Peinlichkeiten in Form eines Sextapes und einer eher bescheidenen Karriere im Boxring.
Der Wille zum Sieg – oder wie ich lieber sterbe, als zu verlieren. Die beiden Ausnahme–Formel 1 Piloten Alain Prost und der stürmische Ayrton Senna mochten sich schon vor dem Entscheidungsrennen 1990 in Suzuka nicht. Erschwerend kam hinzu, dass Senna, obwohl auf der Poleposition, auf der schmutzigen und dadurch weniger schnellen rechten Seite starten musste. Prost stand in seinem Ferrari auf Platz zwei. Vergeblich versuchte Senna vor dem Start, bei der Rennleitung eine Änderung zu erzwingen. Er wusste um seine Nachteile und witterte bei der entsprechenden Ablehnung seitens der Verantworlichen eine Verschwörung. Wie vorhergesehen kam er beim Start weniger schnell weg als Prost. Senna entschied sich dazu, bei enorm hoher Geschwindigkeit seinen Konkurrenten in der ersten Kurve abzuschiessen und somit seinen Weltmeistertitel zu sichern. Es bleibt bis heute umstritten, ob Senna das Recht hatte, sich in der Kurve durchzwengen zu wollen („going for the gap“), oder ob es pures Kalkül war (er pochte auf ersteres und deshalb wurde ihm der Titel auch zugesprochen).
Dasselbe in Deutsch: Schumacher handelt genauso, als er Damon Hill um seinen Weltmeistertitel bringt.
Wenn sich sogenannte Fans einmischen, kann es selbst bei ansonsten eher verletzungsarmen Sportarten gefährlich werden. Dies muss Monica Seles leider erfahren, als ihr ein Zuschauer bei einer Matchpause ein Messer in den Rücken rammt.
Der Klassiker. Dazu braucht es keinen Kommentar. Mike Tyson knabbert während eines Fights Evander Holyfields Ohr an. Why not?
Die Hymne des Beschisses: Das von Spike Jonze gedrehte Video zu Beastie Boys’ Sabotage
Text Stefan Sulzer
Sexy Times. Besuch in einem der exklusivsten Uhrenateliers der Welt
Text Stefan Sulzer
Sexy Times. Besuch in einem der exklusivsten Uhrenateliers der Welt
Menschen, denen eine Uhr in erster Linie dazu dient, die Zeit anzuzeigen, mögen hier das erste Mal von einer Eigenheit der haute horlogerie hören, die (nur) auf den ersten Blick überrascht. Dies obwohl es sich dabei um eine jahrhundertealte Tradition handelt. Und zwar um das Verzieren von Uhrengehäusen durch äusserst explizite erotische Darstellungen. Im 18. Jahrhundert waren es die Innenseiten der Taschenuhrendeckel, die mit anzüglichen Motiven bemalt wurden. Somit konnte sich selbst der verstohlenste Perversling vor den Blicken der Puritaner schützen, ohne auf den Genuss und Anreiz solcher Bilder zu verzichten. Später wurden die Bilder in Bewegung gesetzt und welche Berufsgruppe war hierzu besser imstande, als Uhrmachermeister (und es waren tatsächliche Meister, aber dazu später mehr…), deren geschickter Umgang mit kleinsten mechanisch bewegten Teilchen sie geradezu auserkor, hier führend voranzugehen und die stolze Lanze brechend (man entschuldige den Kalauer) in neue Gebiete der Ingenieurskunst vorzudringen. Einer dieser Meister der haute horlogerie ist der Däne Svend Andersen, der Gründer der Uhrenmanufaktur Andersen Genève. Herr Andersen kam in den 60er Jahren nach Genf und wurde bald von einer der exklusivsten Manufakturen, Patek Philippe, angeheuert. Dort arbeitete er in deren atelier des grandes complications. Grande complications sind Uhrwerke, welche zusätzlich zu Stunde, Minute und Sekunde noch weitere Funktionen (oder eben Komplikationen) aufweisen, wie z.B. ewiger Kalender, Minutenrepetitionen oder mechanische Wecker. Sprich, daran misst sich die wahre Uhrmacherkunst. Nach neun Jahren bei Patek Philippe gründete Svend Andersen sein eigenes Atelier, um sich vollumfänglich seinen selbst produzierten Kreationen zu widmen. Es überstiege den Rahmen dieses Artikels, all die prämierten Sonderstücke zu erwähnen, die seither seine Werkstatt in alle Ecken der Welt verliessen.
Herr Andersens bescheidenes Atelier befindet sich seit 25 Jahren an der gleichen Adresse etwas abseits der grossen Strassen mit ihren exquisiten Boutiquen und den teuren Autos vor den fünf Sterne Hotels. Ein vertaggtes Schildchen weist auf den Eingang in einer Passage mit Kleingewerblern hin. Auch wenn er dem Bild eines Stars seiner Branche nicht entspricht (er trägt ausgelatschte Birkenstock Sandalen, ein grünes Polohemd und etwas ausgetragene Arbeitshosen), so ist er es. Bei Andersen Genève gibt es keinen glänzenden Showroom aus Marmor und Empfangsdamen mit Modellmassen. Das Atelier ist Empfangsraum zugleich und einfach eingerichtet. Die Möbel stammen aus der Anfangszeit, all die Auszeichnungen an den Wänden sind etwas angegilbt.Mich interessiert Andersen Genève besonders aufgrund der Eros Linie. Eine spezielle Edition, welche auf den Wunsch von Kunden nach beweglichen erotischen Motiven Mitte der Neunzigerjahre geschaffen wurde. Eine solche Linie ist an sich noch keine Besonderheit. Uhrenmanufakturen wie Blancpain oder Ulysse Nardin produzieren sie ebenfalls. Wo aber bei Blancpain griechische Götter mit perfekten Körpern und güldenen Lenden in ruppiger Manier vor sich hin kopulieren, sind es bei Andersen Genève fast comic-artige Lüstlinge, die es beispielsweise zu dritt auf einer Motorhaube auf dem Weg nach Paris treiben. Eine Version mit Bill Clinton in verfänglicher Pose im Oval Office ist ebenfalls vorhanden. Diese, so versichert mir Herr Andersen schmunzelnd, habe er mit seinem Anwalt vorher besprochen. «Nicht das bei meiner nächsten Amerika Reise die Monica noch Tantiemen von mir will.» Oft steht den Liebenden noch ein Hündchen zur Seite, das entweder mit dem Kopf oder dem Schwanz wackelt. Sind es bei der Konkurrenz (die sie nicht wirklich ist) meist um die vier beweglichen Teile, so sind es bei Andersen Genève bis zu deren fünfzehn. Was lustig, ja fast etwas trashig daherkommt, ist in Wahrheit etwas vom kompliziertesten und ausgefallensten, was die Uhrmacherkunst zu bieten hat. Allein der Miniatur–Maler, ein begnadeter Franzose, braucht Wochen, um ein Stück zu bemalen. Andersen gibt ungefragt zu, dass der Maler durch seine Arbeit enormen Einfluss auf das Endprodukt ausübt. Umso bedeutungsvoller das Vertrauen, auf welchem eine solche Zusammenarbeit beruht. Die meisten Kunden treten mit konkreten Vorstellungen, was das Design betrifft, an Andersen heran und wollen darüber auch einen klaren persönlichen Bezug zu sich selbst schaffen. Sie bestimmen also vor was für einem Hintergrund sich die Liebenden ihrer Lust hingeben. Ist es einmal die Skyline der Heimatstadt eines Kunden, so ist es ein anders Mal des Kunden Hündchen, das seiner blechernen Miniatur Pate steht. Bei Andersen Kunden handelt es sich weniger um reiche Spinner, als um ernsthafte Uhrensammler, die etwas Einzigartiges suchen. Und das in der besten Qualität, die man für Geld kaufen kann. Was Gravur und die Bemalung betrifft, operiert Andersen in einer eigenen Liga. Es ist ein offenes Geheimnis, dass auch Anfragen anderer renommierter Uhrenmarken an Herrn Andersen herangetragen werden, sollte ihnen ein Kundenwunsch zu kompliziert oder ausgefallen erscheinen. In welchen Produkten der Konkurrenz aber eigentlich ein Meisterwerk Andersens tickt, bleibt natürlich geheim.
Nicht ohne Freude zeigen mir Herr Andersen und Herr Aeschlimann, sein Partner, ihre Kollektion. Produzieren Marken wie Patek Philippe, IWC oder Rolex Uhren zu Hunderttausenden pro Jahr, so sind es bei Andersen wenige Dutzend. Die Produktion einer besonderen Eros Uhr kann bis zu eineinhalb Jahre in Anspruch nehmen. Es liegt auf der Hand, dass sich nur wenige diesen ausgefallenen Spass überhaupt leisten können. Über die Preise wird geschwiegen. Das sind Gentleman’s Agreement. Aber ich weiss, die fünf Uhren vor mir auf dem Tisch, machen locker den Preis eines Supersportwagens wett. Doch darum scheint es in dem Vier–Mann Betrieb niemandem wirklich zu gehen. Herr Andersen ist mittlerweile 74 und hätte es, wenn er denn nicht wollte, sicher nicht mehr nötig, jeden Tag in seinem Atelier zuzubringen. Er und Herr Aeschlimann nehmen sich eine Stunde Zeit, kramen nach alten Büchern, suchen nach Bildern und das alles für einen Halb–Laien, der nicht mal für ein Uhrenmagazin schreibt. Der Kontrast, der sich zwischen dem internationalen Renommee und der übersichtlichen Werkstatt, der uhrmacherischen Raffinesse und den lüsternen kleinen Figürchen auftut, scheint mir ein essenzieller Bestandteil des Selbstverständnisses dieser wunderbaren Manufaktur zu sein. Man arbeitet aus Liebe zum Objekt und die Tatsache, dass man sich offenkundig in einem hochexklusiven Luxussegment aufhält, ist noch kein Grund, dies ostentativ zur Schau zu tragen.
Text und Interview Stefan Sulzer
Zeitgerecht altern. Die edle Akzeptanz des biologischen Verfalldatums
Text und Interview Stefan Sulzer
Zeitgerecht altern. Die edle Akzeptanz des biologischen Verfalldatums
Dem vorliegenden Thema stehe ich zugegebenermassen recht ignorant gegenüber. Was natürlich, wie so oft, vor allem einer wohligen Unwissenheit zu verdanken ist. Das Thema der Schönheitschirurgie und körperlichen Mutation interessiert mich nicht besonders. Allerdings ist es auch nicht so, dass ich mir noch nie über die Relevanz derselben Gedanken gemacht hätte. Auch ist es immer leicht, und somit feige, über etwas zu urteilen, was einen selbst nicht betrifft. Würde ich wirklich nichts gegen Haarausfall unternehmen? Trüge ich den depardieuschen Zinken tatsächlich mit Stolz und Grazie? Laut einer Studie fürchten Männer den Haarausfall mehr als Impotenz. Was wenn einen beides trifft? Mich stört auch dieser fahle Hang zur Natürlichkeit, dem man gerade im urbanen Raum seit geraumer Zeit wieder häufiger begegnet. Die Tatsache, dass wir Lebensformen finden, die nicht diesem Diktat folgen und den natürlichen Imperativ getrost ignorieren, sehe ich als Leistung einer fortschrittlichen Kultur. Warum also diese Skepsis, wenn es um die künstliche Veränderung des menschlichen Körpers geht?
Um eine Öffnung des eigenen Blicks bemüht, traf ich mich zum Mittagessen mit meinem alten Freund Philipp Tingler. Ein den meisten vielleicht aus dem Literaturclub bekannter Schriftsteller und Philosoph (das wird jeweils so eingeblendet wenn er was sagt, und das ist nicht selten der Fall). Dies hatte drei Vorteile: 1. schrieb Philipp bereits viel über die Thematik der Schönheitschirurgie, den Wahn nach ewiger Jugendlichkeit und die Auswüchse der Superreichen in diesem Feld. 2. Sind wir nur äusserst selten einer Meinung. Ich habe die meisten von Philipps Buchcovers fotografiert (also ihn) und der Auswahlprozess war immer langwierig und anstrengend. Eine Diskussion mit ihm würde also garantiert nicht auf die Selbstbeweihräucherung meiner vorgefassten Meinung führen (etwas wo wir uns allerdings zu 100% einig sind: Curb your Enthusiasm ist etwas vom Besten, das je fürs Fernsehen produziert wurde). 3. Schuldete er mir noch ein Essen im Brisket, womit keine Steuergelder für die Entstehung dieser Zeilen Verwendung fanden.
Stefan Sulzer: Meine schwammige Prämisse sieht salopp gesagt etwa so aus: Leute die offensichtlich genug Geld haben um sich die Besten ihres Faches zu leisten (Plastische ChirurgInnen) sehen oft trotzdem bekloppt aus. Worin liegt der Reiz? Will man so aussehen? Ist man selbst überrascht oder gar enttäuscht wenn man sich danach sieht? Ist es ein Statussymbol? Geht es um den ewigen Wunsch, jünger auszusehen? Zeugt es von Unfähigkeit und Mutlosigkeit, sich der Realität des Verfalls zu stellen?
Philipp Tingler: Noch nicht mal das würde ich als allgemeingültigen Grund akzeptieren.
S: Wieso?
P: Man muss diese Frage immer mit Bezug auf das relevante Milieu beantworten. In der akademischen Diskussion werden solche Sachen immer vor dem Hintergrund eines vermeintlichen Ideals von natürlichem Aussehen beurteilt. Das übersieht, dass für ein Milieu, welches medial gerade total durch alle möglichen Reality-Formate exponiert ist, Natürlichkeit gar kein Kriterium darstellt. Da geht es um sichtbare Körpermodifikation als Statussymbol. Es signalisiert, dass man sich das leisten kann…
S: …ist ja trotzdem keine Yacht oder eine Villa in Antibes. So teuer sind solche Eingriffe ja auch nicht mehr…
P: …kommt darauf an. Jedenfalls signalisiert es, dass man auf sich achtet, dass man bereit ist, für sein Aussehen Opfer zu bringen. Dies nicht nur in finanzieller Hinsicht. Man leidet ja auch während und nach dem Eingriff. Und nochmals, es zeigt auch einfach: ich kann es mir leisten….
S: …wie eine Vogelscheuche auszusehen…
P: …naja, das Aussehen ist auch immer im Hinblick auf die relevante Kultur zu beurteilen.
S: Gut aber jemand wie Donatella Versace sieht für mich trotzdem aus als stamme sie aus Mordor…
P: Das sind Sonderfälle, die muss man gesondert betrachten. Es gibt aber eine Kultur in der übermässig weisse Zähne, eine orange Sprühbräune, gewaltige Lippen als schön empfunden werden. Es geht ja nur darum, dass man sich innerhalb der relevanten Peergroup positioniert und nicht für ein abstraktes allgemein gültiges Verständnis von Schönheit. Ich würde sagen, dass man bei diesen ganzen Diskussionen aufpassen muss, nicht seine eigenen Vorstellungen, die natürlich auch immer von dem Milieu her gebildet sind in dem man sich aufhält, auf andere Milieus zu übertragen.
S: Trotzdem sehen doch viele aus wie „frightend Tupperware“, um Frankie Boyle zu zitieren.
P: Es erscheint Dir bizarr und mir ja auch, aber das sind unsere Urteile. Ich bin auch oft überrascht wenn ich sehe wie viel Leute, die noch gar nicht alt sind, schon haben machen lassen. Ich finde ja selbst auch, dass diese vakanten Gesichter nicht unbedingt attraktiv sind. Oft sind sie ja zu gar keiner Expression mehr fähig. Ich glaube aber nicht, dass sich ein Grossteil dieser Personen im Spiegel ansehen und sagen: „Oh mein Gott, so wollte ich das aber gar nicht haben…“ Ich bin überzeugt, dass sie sich nach der ihnen relevanten Umgebung und ihren relevanten Medien ausrichten.
S: Aber gerade wenn man den Umgang der Medien mit Schauspielerinnen betrachtet, ist doch offensichtlich, wie brutal das Bashing dann ausfällt.
P: Wir dürfen hier die Dinge nicht vermischen. Ich rede von der Gesellschaft die The Only Way Is Essex, The Real Houswives oder auch die Kardashians schaut. Ich mein hast Du Dir mal The Real Houswives angeschaut? Die sehen alle aus, als wären sie vom Fliessband gefallen, die sehen alle absolut gleich aus. Es ist gespenstisch.
S: Und Du glaubst, dass sie happy sind, wenn sie in den Spiegel schauen?
P: «Happy» ist nun auch wieder so eine philosophische Kategorie. Ich glaube auf jeden Fall nicht, dass sie sich im Spiegel anschauen und sagen: «Oh Gott im Himmel was ist nur mit mir passiert?» Ich habe das Gefühl die wissen genau, wie sie aussehen wollen. Die gehen mit ganz konkreten Wünschen zu ihren Chirurgen und so sehn sie dann aus.
S: Verlassen wir mal das Trash Segment à la The Only Way Is Essex oder TOWIE, wie ich es aus England her kenne und konzentrieren wir uns auf Schauspieler und Schauspielerinnen wie beispielsweise Renée Zellweger, die ja heute, im Vergleich zu früher, doch sehr anders aussieht.
P: ich finde ja auch Britney Spears sieht mittlerweile komplett anders aus als früher.
S: Das sind ja auch die Frauen (und es wird fast ausschliesslich über Frauen geschrieben wenn es um plastische Eingriffe geht. Welcher Journalist mag über die Verunstaltungen bei Axl Rose, Gene Simons oder Mickey Rourke schreiben. Uns werde also, auch wenn wir zwei Männer sind, die das Thema bereden, nicht voreilig Misogynie vorgeworfen) die dann gnadenlos von den Medien dafür zerrissen werden.
P: Da ist die Frage wichtig: Was ist das Ziel? Das Ziel ist nicht unbedingt immer jung auszusehen. Und oft ist das ja auch gar nicht der Fall. Viele Leute sehen ja nicht jung oder alt aus sondern alterslos.
S: Viele der auf formaler Ebene charakterstiftenden Merkmale werden ja auch geglättet, wenn nicht gar gänzlich ausgelöscht.
P: Aber das wäre ja schlecht für Schauspielrinnen?
S: Genau deswegen verstehe ich es ja nicht.
P: Bei solch enorm exponierten Schauspielrinnen ist einerseits der Druck natürlich enorm hoch, andererseits manifestieren sich die Eingriffe möglicherweise stärker als man das erwartet hätte.
S: Das ist genau meine Vermutung.
P: Bei Zellweger ist natürlich das Problem, dass wir sie von früher her kennen. Sie sieht ja nicht unnatürlich aus und mittlerweile ja eher wieder so wie wir sie von früher her kennen. Es gibt ja auch die Leute, die man nicht kennt, aber sofort sieht, dass sie so gebotoxt sind, dass sie zu keiner Miene fähig sind oder die Lippen falsch sind. Bei Zellweger ist das neue Gesicht nur deshalb auffällig, weil ein Vergleich zum dem davor existiert. Deswegen würde ich da nicht von einem «zu-viel» sprechen.
S: Völlig losgelöst von etwaigen moralischen Bedenken, die ich in dieser Thematik als irrelevant erachte, frage ich mich, wie jemand, wie z.B. Donatella Versace, die ja ästhetischen Belangen nicht völlig abgeneigt sein kann, sich im Spiegel betrachtet und ehrlich denkt: «Momol, das sieht prächtig aus». Und wenn es um Statussymbole ginge: Ist das Selbstwertgefühl dann echt so klein, dass es nicht reicht, ein Modeimperium zu führen und erfolgreich zu sein?
P: Ich finde diese Argumentation nicht legitim. Man muss jedem Menschen zugestehen, dass er ein eigenes Verhältnis dazu haben darf wie er aussieht oder aussehen will. Ich finde gleichzeitig auch nicht, das Donatella extrem aussieht. Man könnte ja auch sagen, ein Bodybuilder sieht extrem aus. Das sind Wege von Veränderungen, das sind Projekte, die stetig fortschreiten.
S: Ich finde ja auch die Hörigkeit gegenüber einem pseudoplausiblen Diktat der Natürlichkeit verlogen…
P: ….die Natürlichkeit ist echt ein sehr doppelgesichtiges Ideal – was wirklich natürlich ist will doch kein Mensch sehen…
S: …deshalb ist das für mich auch keine hehre Kategorie. Mir geht es nicht um Natürlichkeit, mir geht es alleine um die Frage, finden solche Menschen das, was sie an sich verändert haben, schön?
P: Aber dann reduzierst Du es zu einer Geschmacksfrage.
S: Klar, ich mache den überheblichen Fehler, von mir auf eine Mehrheit zu schliessen. Nochmals: Ich finde an diesen Personen nichts moralisch verwerfliches oder ethisch suspektes. Ich vermute lediglich, dass viele diese Eingriffe im Nachhinein weniger schön finden, als sie sie antizipiert haben. Es gibt ja genug Interviews mit Menschen, die schönheitschirurgische Eingriffe bereuen.
P: Aber Du kannst das doch nicht von Mehrheitsentscheiden abhängig machen.
S: Warum nicht? Wir wollen ja auch einer Mehrheit gefallen.
P: Aber Mehrheitsentscheide hätten ganz viele Kunstrichtungen verhindert. Dann wären ganz viele Romane nicht veröffentlicht worden. Du als bildender Künstler musst doch wissen, dass man so was nicht mit Mehrheitsentscheidungen regeln kann. Natürlich gibt es Versuche, Schönheit objektivierbar zu machen. Dann ist es eine Frage der Proportion, der Symmetrie, harmonischem Erscheinungsbild und letztendlich auch eine Frage der Authentizität. Passt das? Wirkt das echt? Und dann sage ich: «Gut Donatella sieht vielleicht extrem aus. Aber ist sie nicht auch extrem? Sind viele der Sachen die sie entwirft, nicht auch extrem?» Wenn das so ist, wer bin ich denn, der sich darüber eine Meinung bildet?
S: Darum geht es nicht. Ich fände es absolut falsch, hier jemandem Vorschriften zu machen oder gar auf seine Intelligenz oder seinen Charakter zu schliessen. Mich interessiert es als Phänomen, und auch die Tatsache, dass man bei gewissen Leuten das Gefühl nicht los wird, dass sich dahinter eine Sucht verstecken könnte.
P: Ich glaube sehr wohl, dass solche Eingriffe Suchtpotenzial haben können. Das kann Züge von Body-dysmorphic-disorder tragen. Man sich also im Spiegel betrachtet und was völlig anderes sieht, als alle anderen. Das kennt man ja aus der Mager- oder auch Muskelsucht. Interessant finde ich aber die Auswirkungen des massenhaften Zugangs zu diesen Möglichkeiten und die damit einhergehende alltagskulturelle Relevanz. Das wir uns beispielsweise abgewöhnen müssen, eine Einschätzung des Alters einer Person anhand des Gesichts zu formen. Ich bin noch so aufgewachsen, dass ich das Alter einer Person darüber taxiere, dass ich der Person ins Gesicht schaue. Aber das wird bald kulturell wahrscheinlich gar keine Relevanz mehr haben.
S: Warum steht man dann nicht offen zu den Eingriffen? Viele exponierte Leute tun das nicht. Ich glaube es hat mit dem Wunsch nach naturgegebener Schönheit zu tun. Es gibt nun mal Menschen, die mit 45 viel jünger aussehen, genauso wie es welche gibt, die genau wie 45 aussehen und nochmals andere, die halt 10 Jahre älter aussehen. Ich tue dann also so, als gehörte ich ersterer Kategorie an. Warum dann ein Tabu darum erschaffen und so tun, wenn es eh offensichtlich Bullshit ist und jeder und jede sieht, dass ich was machen liess.
P: Du hast es eh zur Hälfte selbst beantwortet. Es hängt einerseits mit dem immer noch sehr virulenten Ideal der Natürlichkeit zusammen, hinter dem ja nur Eitelkeit steckt. Wer aber gilt schon gerne als eitel?Aber wie gesagt, es gibt auch das nicht kleine Segment an Personen, wo sichtbare Modifikationen ein Statussymbol sind. Da werden Davor/Danach Bilder gepostet, da wird Wissen ausgetauscht über Implantate. Da ist es erstrebenswert, künstlich auszusehen. Das ist kein Nischenphänomen sondern ein neues popkulturelles Leitbild, das mit Natürlichkeit nichts mehr zu tun hat.
S: Ich glaube trotzdem, dass es vielen um diesen Aspekt der Natürlichkeit geht und da scheint es mir offensichtlich, dass das nicht wirklich funktioniert. Oder es gibt tatsächlich ganz viele Personen, wo es bestens funktioniert hat und ich sehe es einfach nicht und akzeptiere es als naturgegeben.
P: Ist es denn ein Kriterium, dass man es nicht sehen sollte? Weil es per se verwerflich ist?
S: Absolut nicht. Ich vermute einfach, das bei vielen, wo die Eingriffe klar erkennbar sind, die Motivation war, Eingriffe zu vollziehen, die danach nicht erkennbar sein sollten.
P: Wieso kommst Du zu diesem Eindruck?
S: Weil ich eine Motivation zu erkennen glaube, die sich nicht erfüllt.
P: Du darfst nicht vergessen, dass das ein dynamischer Prozess ist. Die Fälle, die wir vielleicht als krass ansehen mögen, besonders bei älteren Menschen, die die ersten Eingriffe in Zeiten machen liessen, wo das eher brachiale Methoden waren, stehen ja oft bei unserer Betrachtung vorerst an einem Endpunkt, dem aber ein jahrelanger Prozess der Veränderung unterliegt. Aber ich stimme Dir zu, dass es immer noch die Fälle gibt, wo man das Gefühl hat, hier ist ein Effekt nicht erreicht worden. Es gibt also zwei Kategorien. Einerseits: Hier ist etwas versucht worden und es hat nicht geklappt oder es ist, andererseits, etwas gewünscht worden, das zwar drastisch aussehen mag, aber absolut der Vorstellung entspricht.
S: Kennst du die Duchess of Alba?
P: Ja, sie ist leider vor ein paar Jahren verstorben. Die find ich total faszinierend. Wusstest Du, dass die Herzogin von Alba als einzige Person der Welt das Recht hatte, auf einem Esel in die Kathedrale von Sevilla zu reiten?
S: Und hat sie es getan?
P: Das weiss ich nicht.
S: Das wäre so was von gesetzt, wenn ich dieses Privileg hätte.
P: Das Problem bei diesem Thema ist immer, das man das Gefühl hat, es handelt sich um ein augenfälliges Phänomen, trotzdem ist da eine Ambivalenz zwischen all den Rollenmustern und Möglichkeiten. Stetig wird betont, Individualität und Authentizität seien das wichtigste, anderseits finden sich überall relativ rigide Normierungen.
S: Es hat aber auch damit zu tun, dass wir Leute dabei beobachten, wie sie gegen etwas ankämpfen, was uns alle betrifft. Und wenn dies nicht klappt, dann sehen wir es als lächerlichen Versuch an, dem Unausweichlichen in die Augen zu sehen.
P: Aber es ist natürlich nicht erfolglos im Versuch, alterslos zu erscheinen. Ausserdem handelt es sich bei Leuten wie den Kardashians auch um ein ökonomisches Projekt. Ihr Körper ist ihre Marke, ihr Emblem. Es handelt sich dabei um eine Verdinglichung des Körpers die unsere Zeit ganz allgemein auszeichnet. Und um eine Betrachtung des Körpers als Projekt. Und die bizarren Fälle, die Du ansprichst, sind eher ein Zeichen frühere Zeiten, wo die Methoden noch viel rabiater waren als heute. Alltagskulturell ist dadurch auch die Skepsis neu, die wir jemandem entgegenbringen, der einfach nur gut aussieht. Wir sagen sofort: «Da stimmt doch was nicht». Das ist eine völlige Neubewertung von Schönheit als Ideal, weil sie nichts mehr ist, das schicksalshaft verteilt wird sondern auf einem Eigenbeitrag des Individuums beruht.
S: Das heisst entweder glauben wir an gute Gene, oder einen äusserst geschickten Chirurgen.
P: Genau, egal was es ist, Schönheit ist verdächtig.
Annex: Der Grund für meine Ressentiments diesem ganzen Getue gegenüber, rührt auch aufgrund verschiedener Aussagen von Schönheitschirurgen. Ich erinnere mich an ein Interview im Tagesanzeiger mit dem Schönheitschirurgen Clarence P. Davis (nur schon der Name, give me a break).
Auf die Frage: Gibt es viele Frauen, die einen Kaiserschnitt bevorzugen? antwortet der Doktor:
«Eher nein, Frauen sind da eigentlich sehr natürlich eingestellt. Ich sehe das auch bei meiner schwangeren Frau: Sie will natürlich gebären, ich hätte lieber einen Kaiserschnitt, damit nachher untenrum alles wieder so ist wie vorher. Da beisse ich aber auf Granit.»
Wie wichtig ist die innere Schönheit einem Schönheitschirurgen? «Die Schönheit meiner Frau wird mir nie verleiden. Was aber tausendmal mehr zählt, sind ihre menschlichen Werte. Dass meine Frau auch noch in einer schönen Verpackung daherkommt – umso besser.»
Und wenn die Verpackung verblasst und sich Ihre Frau nicht operieren lassen will? «Dann gibt es wahrscheinlich Probleme.»
Mindestens ist er ehrlich. Von «nie» zu «ohne Ops wahrscheinlich bald» in zwei Sätzen. Und dann fragt man sich, warum viele Leute dieser Industrie Oberflächlichkeit vorwerfen.
Das ganze Interview unter: www.tagesanzeiger.ch
Text Stefan Sulzer
Thank God
Text Stefan Sulzer
Thank God
Das Stück, welches von der Geschichte des Glaubens handelt, bestückt mit seinem klar erkennbaren Regisseur, seinen Beleuchtern, Souffleusen und Garderobieren, den technischen Helfern, den Schauspielerinnen und Statisten – das Stück, welches über Jahrtausende hinweg aufgeführt wurde, hat nicht nur sämtliche Adaptionen über sich ergehen lassen müssen, in vielen Teilen der heutigen Gesellschaft wurde es gar abgeschafft. Die religiösen Theaterhäuser schliessen wegen Mangels an Interesse und Relevanz, die Türen bleiben zu, an ihnen hängend ein Schild mit der Aufschrift: Wegen Todes geschlossen. Wenn sich die grossen Erzählungen der Moderne, wie Lyotard die nach Allgemeingültigkeit strebenden Welterklärungsmodelle nennt, auch in einer Vielfalt an Diskursen zersetzt haben, ganz ohne theoretische oder ideologische Krücke gehen die wenigsten Menschen durchs Leben. Dabei veränderte sich die Bedeutung der Sünde nicht lediglich seit den Zeiten der Aufklärung. Selbst während der letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts erfuhr sie eine Wandlung von der die fromme Gesellschaft straff strukturierenden Instanz, zu einer in der Bedeutungslosigkeit versinkenden Nebensächlichkeit, welcher der ranzige Ruch des Biederen und Prüden anhaftete. Zu sündigen ist längst keine Sünde mehr.
Wurde die Beichte derselben vom Philosophen Agamben noch als wirksame Methode der Subjektivierung beschrieben, so hat sie ihre Funktion, der breiten Masse als potentes Korrektiv zu dienen, zumindest bei uns grösstenteils verloren. Früher kam, korsettiert durch parochiale Regeln und Glaubenssätze, noch die Pein hinzu, sich konstant seiner Verfehlungen bewusst zu werden und sich dadurch selbst «mit Schmerzen zu durchbohren» (1.Timotheus 6:10). Füllen noch 613 Vorschriften die Tora (248 Gebote, 365 Verbote), so verkürzte Jesus das ganze Konvolut an Regeln auf zwei alles umfassende Grundgesetze: Erstens Gott, zweitens seinen Nächsten zu lieben (Markus 12:28-31). Was unverändert bleibt ist das konstante erinnert werden an die eigene Fehlbarkeit, an die Notwendigkeit, sich anhand gewagter Metaphern freizukaufen. Von der Selbstkasteiung über die Enthaltsamkeit bis zur Opferung von Tier oder Mensch, die Methoden, sich unter widrigen Umständen von der Sünde zu reinigen, scheinen heute so aus der Zeit gefallen, dass es uns schwer fallen mag, uns ihrer konstitutionellen Macht überhaupt zu entsinnen.Dementsprechend fehlen heute nicht nur die altbekannten Verfahren Busse zu tun (wer beichtet heute noch?), aus strafrechtlicher Sicht sah sich der Gesetzgeber gezwungen, sich der veränderten gesellschaftlichen Wirklichkeit anzupassen, indem er beispielsweise das Konkubinatsverbot aufhob. So geschehen im Kanton Zürich im Jahr 1972, zwanzig Jahre später im Wallis. Die kollektive Apostasie scheint trotz kurzzeitigem Aufblitzen von neo-hippiesken oder kabbalaähnlichen Lifestyle-Religionen voranzuschreiten.
Zizek sieht in der christlichen Lehre des Freikaufs von Sünde durch Jesus‘ Opfertot ein weiteres Problem. Nämlich die Unmöglichkeit, einem solchen Opfer überhaupt gerecht zu werden. In Die gnadenlose Liebe schreibt er: «Gott hat seinen Sohn geopfert, um uns durch die Liebe an ihn zu binden. Es geht also nicht nur um Gottes Liebe zu uns, sondern auch um sein (narzisstisches) Begehren, von uns Menschen geliebt zu werden.» Gott ermöglicht durch die Installation des Baumes der Erkenntnis von Gut und Böse erst die Versuchung, welche von ebendiesem ausgeht, «er befreit uns vom Chaos das Er selbst angerichtet hat». (Zizek)Die Adoleszenz mit dem Begriff der Sünde zu verknüpfen, deutet einen Übergang zum Erwachsenensein und die Reflexionsfähigkeit, das eigene Handeln betreffend, an. Kinder, mutmasslich frei von Sünde, erhalten im Entwicklungsschritt des Teenagertums die Möglichkeit und Chance, sich zu versündigen und somit gegen externe, durch wen oder was auch immer sanktionierte Normen zu verstossen. Über die Unbedarftheit des Kinderdaseins legt sich ein Schatten der Schuld, des Falschmachens, der Täterschaft. Allerdings wird diese Schuld durch eine mit dem Vergehen einhergehende Geringfügigkeit verbunden. Der Mord an James Bulger durch zwei Zehnjährige war keine Jugendsünde. Der Begriff der Jugendsünde bezieht sich also nicht nur auf die Phase, während der die Übertretungen geschehen, sondern vielmehr auch auf die Schwere des Verbrechens. Das Stehlen unterhalb eines Bankraubes, das Ausprobieren bewusstseinserweiternder Substanzen diesseits des Junkytums, erste Sexuelle Erfahrungen vor dem Ausleben ungehemmter Promiskuität, dies alles gehört/e irgendwie zu der Phase des Erwachsenwerdens. Genauso wie die Möglichkeit, Dinge auszuprobieren und Situationen auszuloten, für welche es zwar genaue Anweisungen geben mag, deren Anziehungskraft aber einen Erfahrungswert versprechen, der gerade durch die Möglichkeit des Scheitern, Schmerzes oder Verlustes anziehend erscheint. Auch geht es um genuin gemachte Erfahrungen, welche nicht als blosser Beisatz verstanden werden, sondern konstitutiv das Ich formen. Und das nicht immer unter klaren Verhältnissen, bereits bekannten Konsequenzen oder stabilem Boden.Doch egal unter welchen religiösen oder säkularem Glaubensbild wir unser Leben stellen, der Wunsch nach allgemeingültigem, konklusiven Wissen (und entsprechenden Antworten) bleibt unerfüllt. Genau darin sieht Zizek die eigentliche Aporie der menschlichen Existenz: «Der Mensch strebt zwangsläufig einen alles umfassenden Begriff der Wahrheit, eine universelle und notwendige Erkenntnis an, doch zugleich bleibt ihm diese Erkenntnis für immer verwehrt».Die Verfehlung, auch die jugendliche, bleibt uns als mehr oder wenig abstrakter Begriff erhalten. Vielleicht sollte wir uns die Kategorisierung des grossen Helmut Schmidts zu eigen machen: «Ich teile die Menschheit in drei Kategorien: Wir normale Menschen, die irgendwann in ihrer Jugend mal Äpfel geklaut haben, die zweite hat eine kleine kriminelle Ader, und die dritte besteht aus Investmentbankern.» In unsere Zeit übertragen könnte man die Kategorien vielleicht so ordnen: Wir normale Menschen, die irgendwann in unserer Jugend Grand Theft Auto 2 für die PS3 geklaut haben, die zweite mit dem Bedarf eines Sondersettings, und die dritte aus Investmentbankern.Gewisse Dinge ändern sich nie. Thank God!
Weiterführende Lektüre:? Slavoj Zizek, Die gnadenlose Liebe, Suhrkamp 2001
Text Stefan Sulzer
Irgendwie da, irgendwie nicht
Text Stefan Sulzer
Irgendwie da, irgendwie nicht
Stillstand mag ein kontradiktorischer Wunsch des Zeitgeistes sein. Ein hipper Lebensentwurf entgegen aller Hektik und Flüchtigkeit unserer Gesellschaft. Die Suche nach Entschleunigung eines sich immer schneller drehenden Rades der Zeit. Allerdings gibt es ihn, den Stillstand, auch unfreiwillig., ungefragt und ungesucht; fernab jeglicher delikat riechenden Wohlfühloasen und managerbeheimatenden Alphotels. Hier geht es vielmehr um ein suspendiert sein vom Leben, ein purgatorium-ähnliches Schweben zwischen Leben und Tod. Ein gefangen sein im eigenen Körper, physisch zwar am Leben, aber ohne jegliches Bewusstsein. Als Wesen ohne Charakter, Leidenschaft oder Charme. Als im vegetativen Stadium erstarrte Hülle.
Die verschiedenen Ausprägungen zerebraler Störungen oder Schädigungen, welche ein Koma nach sich ziehen können, sind vielfältig und für Aussenstehende oft nur eine abscheuliche und grauenhafte Ahnung. Als Jean-Dominque Bauby, seines Zeichens Chefredaktor des französischen Magazins Elle, Ende 1995 einen ihn ins Koma befördernden Schlaganfall erlitt, erwachte er einige Wochen später zwar wieder aus selbigem, allerdings mit der seltenen Diagnose des sogenannten Locked-in Syndroms. Im Gegensatz zu einem Koma, bei welchem mit hochspezialisierten medizinischen Gerätschaften nach messbaren Strömungen einer kognitiven Leistung als letzten Beweises des Bewusstseins gesucht wird, ist sich eine Locked-in Syndrom betroffene Person bewusst, was um sie passiert. Die Möglichkeit mit der Umwelt zu kommunizieren ist aber, wenn überhaupt vorhanden, enorm eingeschränkt. In Baubys Fall soll es ihm gelungen sein, sich mit seiner Betreuerin mit Hilfe von Blinzeln zu verständigen (er hat ihr so das gesamte Buch Le scaphandre et le papillion diktiert haben. Buchstabe für Buchstabe. Er verstarb tragischerweise drei Tage nach dessen Publikation. Der Amerikanische Künstler Julian Schnabel verfilmte es unter dem selben Titel mit Mathieu Amalric. Trailer zu dem in Cannes prämierten Film: https://www.youtube.com/watch?v=G69Zh7YIg8c). Andere Betroffene des Locked-in Syndroms können lediglich vertikale Augenbewegungen machen (die Steuerung der vertikalen Blickbewegung liegt an einem anderen Punkt des Gehirns als die horizontale).
Der komplette Verlust des Bewusstsein wie auch der Möglichkeit, zu kommunizieren, führt des Weiteren zu der entscheidenden Frage nach dem Sinn oder Unsinn von lebenserhaltenden Maßnahmen, sowie der Frage: wer, sollte der Wille des betroffenen Patienten diesbezüglich nicht bekannt sein, die Macht und Verantwortung dieser Entscheidung zu tragen hat. Einer der bekanntesten Fälle, welcher in seinem Endstadium sogar den Washingtoner Capitol Hill beschäftigte, ist der von Terri Schiavo. Terri Schiavo war eine junge Frau, über deren Schicksal sich ihr Ehemann und ihre Eltern durch alle Instanzen des Amerikanischen Justizsystems hindurch stritten. Der ärztlichen Expertise Glauben schenkend, dass der vegetative Zustand Terris Schiavos keine Heilung erfahren kann und wissend, dass ein ebensolches Leben den Willen seiner Frau verletzen würde, entschied sich Michael Schiavo dazu, die künstliche Ernährung gegen den Willen der Familie seiner Frau an einem gewissen Punkt zu beenden. Immer betonend, dass Terri und er das so besprochen hätten und keiner von ihnen je in einem solchen Zustand ‚leben‘ wollte. Allerdings beruhte diese Abmachung auf mündlichen Aussagen, was fehlte war ein schriftliches Dokument das diese auch belegen könnte. Und so entbrannte im erz-christlichen Amerika eine unerbittliche Debatte über die Helligkeit des Lebens und die Frage wer über ebendiese Entscheidungsgewalt hätte (interessant ist wie unterschiedlich heilig ein Leben in den Augen dieser pro-life Leute sein kann. Was ist mit zur Todesstrafe verurteilten? Was mit kollateralen Opfer in Kriegen? Was mit den Opfern von Waffengewalt?). Die Familie von Terri Schiavo versuchte die Maßnahmen zu verlängern, wissend, dass eine Heilung von fast allen behandelnden Ärzten als unmöglich diagnostiziert wurde, eine Tatsache, die durch die erfolgte Obduktion auch bestätigt wurde. Die Hirnrinde und der Hirnstamm waren so stark beschädigt, dass es nicht die geringste Chance einer Genesung gegeben hätte.
Neben dem tragischen Verlust seiner Frau hatte Michael Schiavo mit protestierenden Gläubigen vor seiner Haustür zu kämpfen. Er erhielt Morddrohungen und das Entfernen der Schläuche, wurde ihm als ein verhungern lassen seiner Frau vorgeworfen. Dass es aber durchaus Fälle gibt, wo eine Verbesserung eines aussichtslosen Traumas möglich ist, zeigt die untenstehende ARTE Dokumentation. Darin ebenfalls zu sehen eine von drei spezialisierten Kliniken weltweit, die durch spezielle Versuchsanordnungen untersuchen, ob ein Patient im vegetativen Stadion gewisse kognitive Leistungen erbringt welche sich in Magnetresonanztomographen visualisieren lassen.
Der einzig positive Effekt, den der Terri Schiavos Fall auf die amerikanische Gesellschaft hatte, war das Bewusstsein, dass wer eine klare Meinung darüber hat, was mit ihm oder ihr in solch einem Fall geschehen soll, die Verantwortung hat, das zu einem Zeitpunkt zu bestimmen, der eine solche Entscheidung noch zulässt. Schiavo wurde diese Entscheidung verwehrt. Gesamthaft verbrachte sie 15 lange Jahre im Wachkoma bevor sie 2005 von etwas erlöst wurde, was die Wenigsten von uns als Leben bezeichnen würden.
Weiterführende Informationen:
Arte Dokumentation über Koma-Patienten:
https://www.youtube.com/watch?v=Cc6ssYy0lKU
New York Times Dokumentation des Falles Terri Schiavo
https://www.youtube.com/watch?v=O-rQ3tIabvM
Almodovars Film Hable con ella:
https://www.youtube.com/watch?v=7fl8tyEIXXI
Text Stefan Sulzer
Ein antisemitisches Skandälchen – oder was wir vom jüdischen Humor lernen sollten
Text Stefan Sulzer
Ein antisemitisches Skandälchen – oder was wir vom jüdischen Humor lernen sollten
Vor einigen Jahren beschäftigte sich die Schweiz mit einem literarischen Pseudo-Skandal. Der Autor Thomas Meyer wurde kurz nach Veröffentlichung seines Romans Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse von einem Berner Literaturwissenschaftler des Antisemitismus bezichtigt. Kern der Diskussion war die an und für sich nicht unspannende Frage: Wie wird etwas Gesagt- oder Geschriebenes durch die Herkunft (religiös, politisch, national, «gesellschaftsschichtlich») des Sprechers beeinflusst? Tut sie das nur unter gewissen Umständen? Oder gezwungener Massen? Oder ausnahmslos nie? Ist es tatsächlich irrelevant, wer etwas sagt? Wird das Was nicht doch geradezu vom Wem konstituiert? Diese Fragen sind in der Causa Meyer deshalb wichtig, da Letzterer selbst Jude ist. Es geht also darum: Kann ein Jude antisemitisch sein oder unbewusst antisemitische Texte verfassen? Und dürfen Juden (oder Angehörige einer anderen Minderheit) über sich selbst Witze machen, die ihnen aufgrund ihrer Zugehörigkeit exklusiv zustehen?
Matthias Lorenz, so heisst obiger Wissenschaftler, beruft sich bei der Analyse von Meyers Buch auf Martin Gubsers sechs Indikatoren anhand derer sich der antisemitische Grad literarischer Texte messen lasse:
1. die Verwendung tradierter antisemitischer Stereotype, die die Figur auf ihr Judentum reduzierten
2. die ‚jiddelnde‘ Figurensprache als Instrument, eine Figur lächerlich zu machen
3. die Betonung einer spezifischen Andersartigkeit ‚der Juden‘, wenn diese im Text als Makel erscheine
4. eine dichotomische Rollenverteilung zwischen guten Nichtjuden und schlechten Juden
5. einen pejorativen Erzählerkommentar
6. Will ein Autor mit einem fiktionalen Text literarischen Antisemitismus aufzeigen, so muß er durch geeignete Distanzierungsmittel den Unterschied zum Aufweisen hinreichend deutlich machen. Fehlen diese Hinweise, muss der Autor damit rechnen, dass der Text als antisemitisch interpretiert und ihm die Verantwortung dafür angelastet wird.
Lorenz findet im Text zuhauf Beweise für ein «Perpetuieren antisemitischer Projektionen». Dies jemandem vorzuwerfen ist keine unbedeutende Anschuldigung – umso erstaunlicher, wenn Lorenz behauptet, er wolle damit «nichts lostreten».
Den kapitalen Fehler in seiner Besprechung begeht Lorenz aber mit dem Hinweis, Meyer sei ja auch Weltwoche Autor (siehe #1). Er verletzt damit das eigene Beharren auf die Autarkie eines Textes, der gelöst von jeglicher Autorschaft auf den Seziertisch der kritischen Textanalyse gehört (Lorenz: «Letztlich liesse sich der Roman wirklich nur über die unbefriedigende Hilfskonstruktion retten, dass sein Autor Jude ist. Aber das würde bedeuten, der Grad an Judentum eines Autors sei eine entscheidende Grösse bei der Interpretation literarischer Texte. Das aber wäre ein ebenso absurdes wie bedenkliches Argument. – Allerdings hatte ich in meiner Besprechung erwähnt, dass die Motive eines Autors relativ unerheblich dafür sind, welche Aussagen, Bilder und Wertvorstellungen ein Text entfaltet. Und auch die Frage, ob er Jude ist oder nicht.»). Warum spielt es bei Lorenz’ Untersuchung des Textes keine Rolle, ob Meyer Jude ist, Weltwoche Autor aber schon? Er erhebt damit einen ungeheuerlichen Vorwurf: Weil Meyer bei dem «rechtsäusseren» Blatt schreibend tätig ist, könnte sein im Buch manifestierender Antisemitismus (laut Lorenz) ja auf echten Überzeugungen fussen. Oder er wolle damit den eh schon antisemitischen Blick seiner Leserschaft bedienen. Der Weltwoche-Verweis ist keine leere Aussage. Sie dient einem Zweck und was damit insinuiert wird, ist eklig. Lorenz denkt im Schema rechts = antisemitisch / links = pro-Israel. Eine dichotome Formel, die niemand so unterschreiben würde, der oder die in den letzten Jahren auch nur einen Kommentar zu diesem Thema von den rechten, evangelikalen Kommentatoren Glenn Beck oder Sean Hannity gehört hat. Oder wer einem der jetzigen Präsidentschaftskandidaten der republikanischen Partei zuhört. Oder wer sich die Reaktion derselben auf den Iran-Deal unter Obama angesehen hat. Lorenz hantiert hier mit solch veralteten Mustern, um einen Autor zu diffamieren, dass man dahinter, wie Meyer selbst sagt, eine paranoide Leseart vermuten darf.
«Antisemitische Stereotype werden fortgeschrieben, ohne ihre Geschichte zu reflektieren und ihre Effekte zu hinterfragen, ohne sie zu problematisieren oder zu entkräften», meint Lorenz. Irgendwie klingt das eher nach Beruf und nicht nach Berufung. Muss die Kunst diese Aufträge tatsächlich selbst erfüllen? Oder gibt es für langweiligere Jobs nicht auch langweiligere Menschen, die sie getreu ihrem Glauben und ihrer Überzeugungen pflichtgemäss ausführen?
Er sei sich bewusst, meint Lorenz, dass seine Kritik auch wegen seiner deutschen Herkunft «heikel» sei. Hier wünschte man sich die von ihm geforderte Autarkie herbei, denn ob er Deutscher, Iraner oder Papuaneugenier ist, ist absolut irrelevant. Niemand würde ihm vorwerfen, die geäusserte Kritik fundiere auf dem Wappen seines Passes.
Für was er sich hätte entschuldigen können, ist das Nichtvorhandenseins eines Sinns für Humor, und spezifisch, für die wahrscheinlich reichste humoristische Tradition überhaupt: die Jüdische. Sie ist, entschuldigen Sie den Kalauer, quasi das Mekka der Selbstironie. Etwas, was Menschen aus diesen Breitengraden oft nicht einmal dann erkennen, wenn man sie damit auf den Kopf schlägt.
Leute wie Woody Allen und der divine Larry David haben sich hier in Territorien vorgewagt, die Gois (Nichtjuden) versagt sind. Und das aus gutem Grund! Nochmals, es geht hier um die Frage: Darf ein Jüdin über den Holocaust spassen (fragen Sie Sarah Silverman)? Dürfen Afro-Amerikaner den Begriff Nigger verwenden, und ist dieser nur ihnen vorbehalten? Jay-Z sagt zu Letzterem klar ja. Somit werde der hässliche Begriff seinem angestammten Kontext entrissen und zu einem endearing (liebeswerten) Terminus.
Eine Betrachtung der sublimen Serie Curb your Enthusiasm, eines Comedy-Sets von Jim Jeffries, Bill Burr oder Louis CK, muss Jünger der politischen Korrektheit in ein paralysierendes Wachkoma senden.
Ist Larry David also antisemitisch wenn er in einer Episode aus Versehen einem Holocaust-Überlebenden (survivor) eine muskulösen survivor der gleichnamigen TV-Serie gegenübersetzt und die beiden darüber zu streiten beginnen, ob ein Konzentrationslager nun tatsächlich schlimmer war, als wochenlang im Sand in Flip-Flops rumzulatschen. Oder wenn er fröhlich Wagner vor sich hin pfeift. Oder wenn er sich beim Sex mit einer Palästinensischen Hünchenrestaurant-Besitzerin nur zu gern aufgrund seiner Herkunft beleidigen lässt. Nachtragend aber seinem jüdischen Freund versichert, dass das ein kleiner Preis für den besten Sex sein, den er je gehabt hat.
Ist Larry David antisemitisch? Natürlich nicht! Darf ein Katholik so etwas produzieren? Niemals!
Die von Lorenz angesprochenen Klischees sind gerade Teil des Humors. Die überdominante Mutter (wie wir sie zB. beim jüdischen Charakter Howard Wolowitz der Serie Big Bang Theory her kennen, der notabene von einem jüdischen Schauspieler gespielt wird), oder das Verhältnis zu Geld. Wieder in Curb your Enthusiasm: David findet heraus, dass sein Anwalt Berg gar nicht jüdischer, sondern schwedischer Herkunft ist. Panisch entzieht er ihm jegliche Macht und vertraut einen wirklich jüdischen Anwalt mit seiner Scheidung, nur um dann sein Haus n seine Frau zu verlieren.
Nie hätte eine solch peinliche Diskussion im angelsächsischen Raum stattgefunden. Obwohl auch dort die Sucht des Beleidigtseins grassiert. Viele Satiriker weigern sich mittlerweile, die lukrativen Einladungen von Universitäten anzunehmen, da sich unter dem Publikum ein erschreckend grosser Anteil von Leuten verbirgt, deren Existenz sich nur aus der Erfahrung speist, konstant wegen irgendwas beleidigt zu sein. Die Bereitschaft, über sich selbst zu lachen, existiert nicht. Ihre Umgebung sehen sie nicht als eine die eigenen Gedanken herausfordernde universitäre Institution an, sondern als Wohlfühl-Kita, mit Ausblick und Schmuseecke.
Der Umgang mit den eigenen Abgründen, der eigenen Herkunft und Verfassung scheint bei Personen wie Allen und David entspannter und, dem jüdischen Gott sei Dank, deshalb auch lustiger.
#1 Als zweimaliger Ab-Abonnent des Blattes weiss ich ausnahmsweise mal ein bisschen Bescheid. Die Abbestellung folgte keiner Ideologischen Ader meinerseits, sondern nachdem ich zu meinem eigenen Verdruss bemerken musste, dass sich unter Köppel vor allem das antagonistische Anschreiben gegen jedwelche, als Mainstream gebrandmarkte Inhalte, zum eigentlichen journalistischen Mantra der gesamten Redaktion entwickelte. Eiskappen wuchsen auf den Seiten der Weltwoche ebenso an wie der Nutzen eines kannibalistischen Kapitalismus für die dritte Welt (Geschieht natürlich später, es nennt sich sich ja auch trikle- und nicht pouring-down Effekt). Man kann und soll der Weltwoche vieles vorwerfen, eine anti-israelische Haltung entbehrt aber jeglicher Grundlage.
Sensibelchen klicken folgende Links besser nicht an: Curb your Enthusiasm: Survivor: www.youtube.com/watch?v=In2XfN3hIi4 Curb your Enthusiasm: Larry hat Sex mit einer Palästinenserin: www.youtube.com/watch?v=kEQL0pnMSls Curb your Enthusiasm: Are you jewish?www.youtube.com/watch?v=kQ1u9Fno3jU Curb your Enthusiasm: Schwedischer Anwalt: www.youtube.com/watch?v=uGkLjfPWqeI&ebc Triumph the Insult Comic Dog (vom jüdischen Satiriker Robert Smigel „gespielt“) gibt ein Beispiel politischer Korrektheit: www.youtube.com/watch?v=j556MWGVVqI Sarah Silverman als Hitler: www.youtube.com/watch?v=7DcrmnRijTQ Sarah Silverman: Jewish people driving German cars: www.youtube.com/watch?v=whixWpH9MVQ Trump und seine Gedanken zu Israel (hier sollte erwähnt werden, dass es eine immer noch grosse linke Bewegung in der israelischen Politik gibt und viele genauso wenig von Trumps Aussagen halten wie die meisten Europäer) :www.youtube.com/watch?v=FHL2ZrbdeA4 Interaktives Tool der Washington Post mit Konversationen zu dem umstrittensten Wort der englischen Sprache: www.washingtonpost.com/wp-dre/features/the-n-word Ein Washington Post und The Atlantic Artikel zur Thematik der political correctness und warum sich Satiriker gegen einen Auftritt an einer Universität entscheiden. www.washingtonpost.com www.theatlantic.com Buch: Ein Hering im Paradies – Enzyklopädie des jüdischen Witzes: www.amazon.de
Interview Stefan Sulzer
Wann ist Wahn Wahn? Und kann er auch witzig sein?
Interview Stefan Sulzer
Wann ist Wahn Wahn? Und kann er auch witzig sein?
Ich treffe Dr. Oliver Pintsov, einen aus Wien stammenden Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie in seiner Wohnung im Zürcher Niederdorf. Dr. Pintsov hat in Wien Medizin und in Basel Sexualtherapie studiert und seine Ausbildung in Wien und Zürich absolviert. Derzeit ist er konsiliarisch für die KJPP (Klinik für Kinder und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie) und in freier Praxis tätig.
Nähere Informationen zur Person unter: www.pintsov.com
Stefan Sulzer: Wie würden Sie, medizinisch gesehen, Wahn definieren?
Oliver Pintsov: Der Wahn ist eine Vorstellung, die nicht unseren allgemein gültigen Realitätsvorstellungen entspricht.
S: Quasi ein von der Gesellschaft tradierter Wert, der als «normal» gilt.
O: Das wäre das Gegenteil vom Wahn. Eigentlich ist jegliche Religiosität per Definition Wahn. Aber es ist kulturell akzeptiert, somit werten wir es nicht als Wahn.
Etwas, das für die Allgemeinheit eine Überzeugung darstellt, die nicht mit unseren Vorstellungen vereinbar ist, wird als Wahn bezeichnet.
S: Das heisst, was bei uns als Wahn gelten könnte, würde in einem anderen Kulturkreis gar nicht als Wahn klassifiziert werden?
O: Absolut. In den afrikanischen Kulturen findet sich eine ganz andere Akzeptanz von Spiritismus, Geistern und so weiter. Das ist dort verankert und wenn jemand sagt, er ist besessen, dann wird das akzeptiert und nicht als Wahn gedeutet. Bei uns hingegen wird jemand psychiatrisch behandelt wenn er meint, er sei von etwas besessen.
S: Was sind die Diagnose-Tools, um zu bestimmen: Diese Person leidet unter Wahn?
O: Generell diagnostizieren wir in der Psychiatrie indem wir Fragen stellen. In den meisten Fällen ist es ja so, dass der Wahn augenscheinlich ist. Häufig kommt dann jemand und erzählt, dass er das Gefühl hat, «er wird verfolgt». Fragt man nach wird es immer klarer, dass er kein «echter Geheimagent» ist. Somit werden die Wahnvorstellungen recht deutlich.
Es gibt aber auch Fälle, in denen die betroffene Person argwöhnisch ist und schon eine so paranoide Haltung entwickelt hat, dass sie erst gar nicht mit den Inhalten ihres Wahns herausrückt. Dann lässt es sich nur anhand anderer Anzeichen vermuten.
S: In Ihrer Praxis als klinischer Psychiater und Sexualtherapeut – wie oft kommen Sie in Ihrer Tätigkeit in Berührung mit Leuten, die unter Wahnvorstellungen leiden?
O: Ich habe meine Ausbildung zwei Jahre lang auf einer Station in Wien begonnen, die sich fast ausschliesslich mit Psychosen beschäftigt hat. Da war Wahn Alltagsgeschäft. 80-90% der Patienten haben dort Wahnsymptome gezeigt. Jetzt in der Praxis ist es viel seltener. Wenn, dann bekomme ich Zuweisungen von Kollegen, die eine Nachbetreuung eines Menschen wünschen, der psychotisch ist oder gewesen ist. Ich habe aktuell nur eine einzige Person mit einer wahnhaften Symptomatik.
Grundsätzlich sind Personen mit Wahnvorstellungen seltener in einem Praxissetting anzutreffen, als in einem stationären Setting im Spital.
S: Was sind die Schritte, die gemacht werden, nachdem Sie die Diagnose, dass eine Person unter Wahnvorstellungen leidet, gestellt haben? Wie sehen die ersten Massnahmen aus? Ich nehme an, dass auch medikamentös behandelt wird?
O: Man muss zuerst sagen, dass Wahn per se keine Diagnose ist, sondern ein Symptom im Rahmen von Diagnosen. Das kann im klassischen Fall bei der schizophrenen Psychose auftreten, wo man typischerweise den Verfolgungswahn beobachten kann. Der schwarze Helikopter, Hirnchip, usw.
Der Wahn kann aber genauso auftreten bei der Manie – typischerweise der Grössenwahn oder bei einer Depression, da sind dann häufig Verarmungswahnvorstellungen zu beobachten. Das kann sogar soweit gehen, dass man denkt, man sei eigentlich tot, nicht mehr existent.
Also, der Wahn ist Teil von verschiedenen psychiatrischen Erkrankungen.
Generell ist die Gabe von Medikamenten wie Antipsychotika häufig der erste notwendige Schritt, weil dadurch eine gewisse Distanz entsteht. Was beim Wahn passiert, ist dass einem Dinge zu nah kommen. Man hat keinen Überblick mehr, Eindrücke sind so intensiv und werden so persönlich verarbeitet, dass man sich davon nicht lösen kann. Klassisches Beispiel: Man läuft durch die Stadt und jemand schaut einen etwas komisch an. Man sagt dann zu sich nicht: «Der schaut einfach». Sondern man bezieht das Schauen auf sich, das wird dann Beziehungsideen genannt. Das ist der erste Schritt — alles wird auf sich bezogen und so verarbeitet, dass es sukzessive als unmittelbare Bedrohung wahrgenommen wird. Und die Antipsychotika schaffen es häufig, eine Gewisse Distanz hinein zu bringen. Erst dann ist ein therapeutisches Arbeiten möglich.
S: Gibt es Fälle, die Sie erlebt haben, die wirklich als «crazy» bezeichnet werden könnten?
O: Da möchte ich lieber Beispiele aus Wien bringen, im Fall, dass das jemand lesen und sich darin wiedererkennen würde.
S: Das lesen keine drei Leute…aber bitte.
O: Was sicherlich einer der spezielleren Fälle war, war eine Dame, die ich in Wien therapiert habe: Sie dachte, sie müsse mithilfe ihrer sexuellen Energie Osama Bin Laden finden. Sie hatte das Gefühl, Ärzte ohne Grenzen würde sie anheuern, damit sie durch ihre sexuelle Attraktivität Osama bin Laden aufspüren würde.
S: Um ihn dann umzubringen?
O: Nein, einfach nur mal aufspüren.
Dann habe ich mal eine Person gehabt, die, als sie aus dem Spital entlassen wurde, gesagt hat: «Herr Doktor, ich habe gute Neuigkeiten. Der Kühlschrank spricht nicht mehr mit mir. Aber dafür die Waschmaschine.»
S: Und das wurde dann als «geheilt» abgehakt?
O: Das war dann wirklich ein trauriger Fall, der nicht heilbar war. Den konnte man stabilisieren, so dass er in einem Setting ausserhalb des Spitals leben konnte, aber der war dann sehr häufig wieder bei uns. Er hat auch bei der Visite auf die Frage, wie es ihm ginge, gesagt: «Nicht gut, weil ich bin gestern vier mal gestorben.»
Was ich sehr spannend fand, war als ein Patient auf eine Mitpatientin zeigte und zu mir sagte: «Herr Doktor, Herr Doktor! Ich bin gerade diese Person.» Aber das geht schon über den Wahn hinaus. Darüber könnte man jetzt philosophieren. Im angloamerikanischen Raum würde das als Wahn bezeichnet werden, bei uns würde man von einer Ichstörung reden.
S: Und zuletzt: Kann Wahn auch witzig sein?
O: Humor entsteht doch häufig aus Situationen, die unerwartet sind. Wo man aneinander vorbeiredet. Natürlich – wenn jemand in einer eigenen Realität lebt, ist es klar, dass solche Situationen entstehen, Situationskomik eben. Davon muss man sich distanzieren. Das ist für alle Patienten, ausser beim Größenwahn, mit einem hohen Leidensdruck verbunden. Selbst wenn man in einer solchen Situation persönlich schmunzeln würde, für die betroffene Person ist das bitterer Ernst und stets mit Leiden verbunden.
Text Stefan Sulzer
When geeks get married
Text Stefan Sulzer
When geeks get married
Weil der Ring im Champagnerglas oder am Halsband eines knuffigen Hündchens langsam ins Reich der verkitschten Nullerjahreheiratsanträge gehören (eigentlich noch weiter zurück) und meist einhergehen mit äusserst hässlichen Einladungskarten in Form von schwarz-weiss Fotos der Heiratswilligen vor einer mittelalterlichen Burg, dachte sich professional Geek Martin was ganz Besonderes für seine eigene Invitation aus. Ein Spiel. Please enjoy: http://game.geekonaut.de
Text Stefan Sulzer
Die übergewichtig amerikanische Cousine des Supermarktes – die Mall
Text Stefan Sulzer
Die übergewichtig amerikanische Cousine des Supermarktes – die Mall
Die einschneidenden Veränderungen, die beide Erfindungen provozierten, standen und stehen in krassem Gegensatz zur eigentlich vorgesehenen Nutzung. Der Österreicher Victor Gruen, architektonischer Urvater der Mall, erhoffte sich in der Schaffung lebenswerter Zentren, leicht Le Corbusier‘s Wohnmaschinen ähnelnd (allerdings mit erhöhtem Fokus auf Konsum statt Wohnen), ein holistisches Ereignis, welches sowohl der kulturellen als auch der kommerzieller Erfahrung dienen sollte. Da die aus dem Zweiten Weltkrieg heimkommenden Soldaten vielerorts jene Arbeitsplätze wiederbesetzten, die während des Krieges an Frauen vergeben wurden, formierten sich letztere anfangs der Fünfziger Jahre in den Augen vieler Marktforscher zu einer primären Zielgruppe, wenn es um die Gestaltung vorstädtischer Einkaufsmöglichkeiten ging. Shopping Malls sollten als Plattform sozialer Interaktion im Umfeld einer aufstrebenden, meist weissen, Suburbia genutzt werden. Die sie bewohnenden Subjekte sollten, dem Wunsch Gruens folgend, in erster Linie verantwortungsbewusste Citoyens sein, nicht hedonistische Konsumenten. Öffentliche Einrichtungen wie Poststellen, Theater, Kinderspielplätze etc. sollten diesbezüglich ein Gleichgewicht ermöglichen. Alsbald führte die Einsicht, dass eine internationale Ladenkette weit mehr zur Profitabilität beiträgt als eine Poststelle, zur Aufgabe dieses Ziels. Das Kommunale wich dem Privaten. Der Konsument sollte sich uneingeschränkt der Huldigung des Kommerzes hingeben können, ohne den Tempel des Konsums durch solch unnötige öffentliche Einrichtungen entweiht zu sehen. Der Verschiebung der kaufstarken weissen Mittelschicht in suburbane Gebiete, folgte eine Verwahrlosung der Innenstädte. Zahlreiche kleine Shops litten unter dem massenhaften Abzug ihrer Käuferschaft. Die erste innerstädtische „indoor mall“, Midtown Plaza, war ein Versuch Gruens, das System der Shopping Mall in das Zentrum einer Stadt, in diesem Fall Rochester NY, zu übertragen. Er wollte hiermit dem white flight – der Migration der weissen Mittelklasse in klassen- und rassengetrennte Suburbs, entgegenwirken. Leider ohne Erfolg. Gruen war sich des Fluchs, welcher seinen Plänen wie ein Schatten folgte, bewusst als er sagte: „The spirits that I had summoned overtook the world.“ Daran änderte auch die Errichtung einer der ersten autofreien Fussgängerzonen Europas in Wien nicht viel. Sein Versuch, das Gefühl der europäische Städtezentren in die amerikanischen Suburbs zu übertragen, war gescheitert. Als er Ende der 60er Jahre nach Wien zurückkehrte, musste er feststellen, dass die „selling machines“ bereits deren Zentrum erreicht hatten. Wer sich in heutigen Stadtkernen bewegt, entdeckt, egal ob in Belfast oder Belgrad, eine universelle, mit den selben Ladenketten bestückte, Gemeinarchitektur, an der Victor Gruen nur bedingt seine Freude haben würde.
Mehr zu den Gebäuden von Victor Gruen:
mall-hall-of-fame.blogspot.ch/2008_05_01_archive.html
Text Stefan Sulzer
Away we go
Text Stefan Sulzer
Away we go
Das Verlangen, dem normativen Diktat der Masse einen eigenen, andersseitigen Entwurf als mögliche Gegenwelt zu präsentieren, manifestiert sich bisweilen in sehr abenteuerlichen Haltungen. So beispielsweise in Lee Lozanos kalkulierten Strategie des Rückzugs, der nicht nach einer Wirkung sucht deren Sprengkraft über den singulären Akt der Auflehnung einer einzelnen Person hinauszuwachsen und eine Flächenbrand ähnliche Ausbreitung und somit Ansteckung der Masse erzielen soll. Ihre Art des Gegenentwurfs wird nicht einem möglichen Einbezug unbekannter Anderer angepasst, sondern verläuft eng und stringent entlang klar platzierter Parameter. Er soll weder inspirierend noch einladend wirken. Ihr General Strike Piece, das sich 1969 Lozanos Distanzierung aus der New Yorker Kunstszene zum Inhalt machte, erfuhr eine ungeahnte Steigerung, als ihre für wenige Wochen angelegte Arbeit Decide to Boycott Women, in eine lebenslange, bis zu ihrem Tod siebenundzwanzig Jahre später führende, Weigerung jeglicher Interaktion mit Frauen führte. Sie soll soweit gegangen sein und nicht mal mehr einen Laden betreten haben wenn er von einer Frau bedient wurde, genauso wenig wie sie während ihres kurzen comebacks in die New Yorker Szene im Jahr 1998 mit weiblichen Ausstellungsmachern kollaborieren würde.
Ganz anders Praxis des französischen Kollektivs Claire Fonataine. Hier wird durch unzählige Schriften, Interviews und anderweitige Publikationen und Ausstellungen klar, dass die künstlerische Arbeit Teil eines grösseren Ganzen ist, dessen immenser theoretischer Überbau einen gleichberechtigten Platz im Kosmos Claire Fontaine einnimmt. Oder, in nochmals anderer Manier, beim deutsch-englischen Künstler Tino Sehgal, wo das allseits bekannte Moment des erklärenden Dokumentierens (gerade im Feld der Performance) der ephemeren Begegnungen Platz macht. Seine „konstruierten Situationen“ fordern das in der Kunstwelt omnipräsente Kriterium der venalen Aneignung durch die präzise Einflussnahme des Künstlers heraus.
All dies geschieht natürlich nicht, ohne dass das System Kunstmark auch hier Wege findet, Werke in seinem nimmersatten ökonomischen Schlund zu verschlingen. Sei es durch massgeschneiderte Neon Portraits des Hundes zahlungswilliger Käufer (Claire Fontaine) oder der Tatsache, dass Lee Lozanos Nachlass durch eine der grössten kommerziellen Galerien der Welt, Hauser & Wirth, verwaltet wird.
L
Weitere Informationen:
Lee Lozano:
www.frieze.com/issue/review/lee_lozano_and_bik_van_der_pol/
Tino Sehgal:
www.zeit.de/2012/31/Kuenstler-Tino-Sehgalwww.spiegel.de/kultur/gesellschaft/kunststar-tino-sehgal-brachial-an-den-start-gehen-a-674565.html
Claire Fontaine:
www.clairefontaine.ws/index.htmlwww.frieze.com/issue/article/claire_fontaine/
Text Stefan Sulzer
Evangelikale Atheisten
Text Stefan Sulzer
Evangelikale Atheisten
Die inflationäre Anzahl von Büchern, welche die endgültige moralische sowie intellektuelle Vorherrschaft des Atheismus über den perniziösen Einfluss der Religion proklamieren, beweist ein äusserst zeitgenössisches Phänomen: die agonistische Haltung fundamentaler Atheisten gegenüber allem was sich in irgend einer Form dem Bereich des Glaubens zuordnen lässt.
Generell dienen die Texte des englischen politischen Philosophen John Gray als wohltuendes Korrektiv gegenüber jeglicher Form des unreflektierten Utopismus, egal wo er sich dem Zeitgeist entsprechend gerade finden lässt. Dass er sich der obigen Erscheinung widmet ist insofern also nicht erstaunlich. Er kritisiert Denker wie Dawkins, Hitchens, Amis und viele Andere für ihren evangelikalen Eifer, der gerade was seinen Charakter betrifft, dem eigentlichen Gegenstand ihrer Kritik entspringt: der Religion. Ein Umstand, den auch der in London lebende Schweizer Schriftsteller Alain de Botton (Religion for Atheists: a Non_Believer‘s Guide to the Uses of Religion) erfahren müsste, als er seine Pläne für einen Atheisten Tempel in der Hauptstadt vorstellte. Dabei geht es nicht darum, ob man ein solches Projekt nicht berechtigter Kritik aussetzten darf (das tat auch Gray), sondern auf welchem Niveau und mit welcher Vehemenz ihm diese bisweilen entgegenschlug.
Gray verortet das Problem eines melioristischen Glaubens (die Annahme, dass sich der stetige Fortschritt auf Gebieten des Wissens zwingend in Bereichen wie Ethik oder Politik spiegelt und vom Menschen aktiv beeinflusst werden kann) an die positivistischen Kräfte des menschlichen Handelns bei vielen radikalen Utopisten genau darin: Das es eben auch nur ein Glaube ist. Ihr Überzeugung fusst auf der Hoffnungen, dass eine zum universellen Narrativ der Gottlosigkeit bekehrte Menschheit konsequenterweise durch dasselbige von jeglichen Leiden dieser Welt geheilt würde. Nur schon Hitchens Annex an den Titel seines Buches God is not Great, „How Religion Poisons Everything“ zeugt von einem unfassbar eng gesetzten Fokus wenn es darum geht, die Problemherde unserer Zeit zu identifizieren. Als hätte der Mensch tatsächlich je der Rechtfertigungen eines Glaubens bedürft, um in lustvoller Manier Verderben zu säen.
Als ein Beispiel dieses utopischen Fortschrittsglaubens dient Gray das seit der Aufklärung angestrebte Vorhaben, die Folter aus ihrer institutionalisierten Verankerung zu lösen. Neben bekannten philosophischen Positionen wie Montaigne, Montesquieu oder Voltaire richteten auch religiöse Persönlichkeiten ihre Kritik gegen die „entsetzliche Verirrung und Barbarei“ der Folter. So äussert sich der reformierte Pfarrer Anton Praetorius schon 1602 in seinem „Gründlichen Bericht Von Zauberey und Zauberern“ zur umstrittenen Praxis: „Folter ist schändlich, weil sie vieler und großer Lügen Mutter ist.“
Nach hunderten von Jahren der angeblichen Weiterentwicklung definiert sich ebendiese jedoch weiterhin über einen institutionell sanktionierten Rahmen, der sich im ewig währendem Kampf gegen den Terror unter der Kontrolle einiger selbsternannter Hüter der Demokratie und des Fortschritts immer weiter ausgedehnt. Mit dem Resultat, dass die Angst des Terrors zum Terror der Angst wird, wie Hito Steyerl es beschreibt.
Dabei ist Gray erklärterweise selbst Atheist. Mit dem bedeutenden Unterschied dass für ihn das Phänomen Religion „zu komplex ist als dass es einzig entlang der Grenze von Glauben und Nichtglauben diskutiert werden sollte“1. Der zu „neo-atheistischen Fatwas“1 führende sektiererische Eifer der intellektuellen Tyrannei, wie ihn Gray bei Dawkins oder Hitchens ausmacht, ist für ihn ein weiterer Beweis der Similarität der beiden vermeintlichen Antagonismen. Folglich usurpiert laut Gray eine kleine Gruppe scheinbar fortschrittlicher Intellektueller das Recht auf normatives, substantiierendes Wissen den geschwächten Armen einer sich im Rückzug befindenden Religion. Ein Umstand, den er besonders was ihre nicht radikalisierten, vernunftorientierten Positionen betrifft, unverhältnismässig und gefährlich findet.
Hätte die kontinuierliche Wissensanreicherung nicht genau das Gegenteil lehren sollen: das ungeachtet davon wie gesichert und unwiderruflich das Wissen einer bestimmten Epoche scheint, es immer die Möglichkeit gibt, dass ganze Wissenskomplexe vollkommen neu reflektiert werden müssen, obschon sie eben noch unverrückbar in den Wissenskanon eingereiht waren? Der Gedanke, den der romantische Dichter John Keats unter dem Begriff Negative Capability prägte, suggeriert ein Denken und damit eine Haltung, in der es die Möglichkeit geben muss im Zweifel, der Unsicherheit und der Instabilität zu verharren, und dass ohne dem natürlichen Drang des konklusiven Verstehens zu erliegen.
Mit seinen anspruchsvollen, grösstenteils in den Zeitungen The Guardian und New Statesman publizierten Essays entzieht sich Gray den bekannten (langweiligen) binären Schemata wie links/rechts und konservativ/progressiv. Die Fähigkeit, die eigene politische Haltung und ideologische Sicht in seine Untersuchungen einzubeziehen und die Welt nicht aus einer Position der moralischen Überlegenheit zu beurteilen, ist einer der Gründe, warum John Grays Denken interessanter, und letztendlich auch hilfreicher ist, als das vieler radikalen Zeitgenossen.
1 Bryan Appleyard in The God wars, The New Statesman 28. Feb. 20122 „I mean Negative Capability, that is when man is capable of being in uncertainties, mysteries, doubts, without any irritable reach after facts and reason.“
Weiterführende Lektüre:
John Gray: The atheist delusion www.guardian.co.uk/books/2008/mar/15/society
John Gray: Gray’s Anatomy: Selected Writings / Straw Dogs: Thoughts on Humans and Other Animals / Al Qaeda and What it Means to be Modern
Alain de Botton: Religion for Atheists: a Non_Believer’s Guide to the Uses of Religion
Richard Dawkins: The God DelusionSam Harris: The End of Faith
Daniel Dennett: Breaking the Spell
Christoper Hitchens: God Is Not Great: How Religion Poisons Everything
Text Spiegel Online
Tipp Ivan Weiss
Wenn Crystal Meth den Pinsel führt
Text Spiegel Online
Tipp Ivan Weiss
Wenn Crystal Meth den Pinsel führt
Experimente mit Kunst unter Drogeneinfluss gab es zahlreiche, besonders in den sechziger Jahren. Kaum ein Künstler aber war zuletzt so konsequent wie Bryan Saunders. Seit mehr als 17 Jahren zeichnet oder malt der Amerikaner jeden Tag ein Selbstporträt – die meisten davon sind unter Drogen entstanden. Der Künstler hat nach eigenen Angaben so ziemlich alles genommen: Kokain, Crystal Meth, Speed – nur eine Auswahl der Substanzen, die er sich im Lauf der Jahre einverleibt haben will.
Immerhin ist der 43-Jährige überhaupt noch am Leben. Einige der Drogen hätten ihm physisch und psychisch heftig zugesetzt, sagte er der australischen Nachrichtenseite theage.com.au – „zugleich war es künstlerisch wundervoll und spannend, mich auf diese neue Art zu sehen“.
Mit den Dämonen in seinem Inneren kämpft Saunders schon lange: Sein Psychiater habe ihm Antipsychotika und starke Beruhigungsmittel verschrieben. „Ich habe alles genommen, was mir gegeben wurde“, so Saunders. Später hätten ihm Leute illegale Drogen angeboten, in einer Phase im Jahr 2001 habe er 18 Substanzen in elf Tagen genommen. So entstanden die ersten Bilder der Serie „Drugs“. „In der Zeit hatte ich emotionale Probleme, Kunst und Drogen waren eine Art produktive Ausflucht“, so Saunders.
Der Effekt der Substanzen sei sehr unterschiedlich gewesen – und keineswegs immer positiv: Viele der Drogen und Medikamente hätten einen sehr unangenehmen Effekt gehabt, „mein Gehirn hat sicher etwas Schaden genommen“, sagte Saunders. Nach zwei Wochen habe er heftige Ausfallerscheinungen gehabt, Freunde hätten ihn dann gestoppt.
Heute nehme er nur noch gelegentlich Drogen, „nur wenn mir jemand etwas Neues anbietet“. Künstlerisch beschäftigt Saunders sich mit anderen Projekten: Er nimmt seine Gespräche im Schlaf auf – oder erstellt Editionen aus Fotos von Fuß-Operationen. Darauf allerdings wäre man nicht einmal in den sechziger Jahren gekommen.
www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/kuenstler-bryan-saunders-malt-bilder- von-seinen-drogen-trips-a-852828.html
MEHR IM INTERNET
„The Age“: „Portrait Of The Artist As A Walking Drug Experiment“
www.theage.com.au/entertainment/art-and-design/portrait-of-the-artist- as-a-walking-drug-experiment-20120828-24y6r.html SPIEGEL ONLINE ist nicht verantwortlich für die Inhalte externer Internetseiten.
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Text Stefan Sulzer
Auditory slip-ups
Text Stefan Sulzer
Auditory slip-ups
Die Affäre um Edward Snowden und das weltweite Entsetzen um die Herausgabe delikater Informationen bezüglich der Überwachungsmethoden der National Security Agency (NSA) wird von Ding-Dong zum Anlass genommen, auf einige vergangene Highlights des auditiven Mitschnitts zu verweisen.
Nixon’s rauchende Kanone
Die untern dem Namen «smoking gun tape» bekannte Aufnahme bewies eindeutig, dass Nixon seine Macht missbrauchen wollte, um laufende Untersuchungen seitens des FBI’s zum Watergate Skandal zu behindern. Auch wenn bereits vor Nixon’s Präsidentschaft Aufnahmevorrichtungen in gewissen Räumen des White House installiert wurden, so kam erst unter ihm ein «voice activated» (sprachaktiviertes) System zum Einsatz. Nur vier Tage nach der Veröffentlichung dieser Aufnahme trat Präsident Nixon am 9. August 1974 von seinem Amt zurück. Bis heute ist Nixon der einzige Präsident in der Geschichte der Vereinigten Staaten, der vor Beendigung seiner Amtszeit aus seinem Amt schied.http://www.youtube.com/watch?v=_oe3OgU8W0s
Die totale Überwachung: kein neuzeitliches Problem. Trailer zu Francis Ford Coppola’s The Conversation aus dem Jahr 1974: http://www.youtube.com/watch?v=VD_CAJHIIQE
Gordon Brown und die «bigotte» Gillian Duffy: Ein nicht abgeschaltetes Mikrofon gewährt aufschlussreichen Einblick: Was sagen Spitzenpolitiker wenn sie in ihre Limousinen steigen?http://www.youtube.com/watch?v=jFl_evwML2M
Leveson Inquiry: Benannt nach Sir Brian Henry Leveson, einem Englischen Richter, untersuchte ein Ausschuss unter obigen Namen die rechtswidrigen Machenschaften englischer Boulevard Blätter, welche sich Zugang zu Telefon Nachrichten, Email Konten und Wohnungen verschafften um «News» zu generieren.Wer vorhat die nächsten drei Wochen krank im Bett zu verbringen, hier eine Alternative zu Breaking Bad, The Wire oder Homeland; an vielen Stellen nicht weniger spannend. Stundenlanges Befragen von Opfern und Tätern:www.youtube.com/results
Text Stefan Sulzer
Ghost Train
Text Stefan Sulzer
Ghost Train
Die Besprechung eines Problems, welches in jedem, sich mit dem Thema der Sozialen Etikette beschäftigenden Medium bereits dutzendfach besprochen und verhandelt wurde, scheint müssig, ja geradezu verschwenderisch. Wie soll das gehen ohne missionarisch oder verbittert zu wirken? Wie lässt sich ein gesunder Optimismus bewahren (what does an optimist say when he jumps of a building? «So far so good»). in Anbetracht der inflationären Verrohung zwischenmenschlicher Umgangsformen? Bleibt am Schluss lediglich die Konversion zum devoter Jünger der Misanthropie? Mein zutiefst persönlicher Impuls diese Zeilen zu verfassen, fusst weder auf dem Glauben an Veränderung, noch auf einer mir angeborenen präzisen Beobachtungsgabe sozialer Phänomene und Verwerfungen, sondern wurzelt in schlichter, tiefgreifend archaischer Wut.Es ist so: Ich hasse Leute die im Zug telefonieren. Abgrundtief und ohne Ausnahme. Dabei geht es nicht einzig um die Tatsache, dass mich jemand mit der Hälfte eines Gesprächs belästigt, nach dessen Inhalt ich mich nicht erkundigt habe; ebenfalls drängt sich mir unfreiwillig die Gedankenwelt so erbärmlicher und uninspirierter Existenzen wie folgender auf: «Ja, ja, ja, ja genau. ja das isch guet. Ah, Aha so, dem ghört, ja, ja , ja ja jog, ja, ja , ja so ja ja, soscht halt, ja, ja, ja, ja isch klar, so isch es, ja, ja. yo, soscht alles in ordnig. Isch okay so für mich. Nein, ja, ja, isch perfekt. Im Verglich zum Vorjahr zwar nöd riesig, aber jo, genau. Ja, ja, das isch es yo. yog, yog, ja, ja, ja sicher, ich han immer dänkt…, ja so lauft das halt, gäll. yo, denn würd ich mich mälde, ja genau, wär doch lässig, und guet, nüt tstanke, machs guet, tschau Gloria, tschautschautschautschau.»
All das geschah in Echtzeit, gerade eben, Wort für Wort.? Auch äussert sich hier nicht die vakante Seele eines mit kläglichem Selbstmitleid behafteten Teenagers, sondern eine anzugtragende Gestalt mit nicht undistinguiertem Geschmack in der ersten Klasse (ich kann Ihnen versichern, die Seuche wütet klassenübergreifend und ist in der 1. Klasse genauso virulent wie in Coach). Auch bedurfte dieser kurze Auszug keiner mehrtägigen Feldstudie, nein, sobald sich die Magnetic Fields aus meinen Ohren durch Herausziehen meiner noise canceling in ear headphones verabschiedet haben, ist er da: der sein Umfeld ostentativ mit Geschmacklosigkeiten penetrierende Unhold.Noch nie in der Geschichte des Natels (Nationales Autotelefon) hat jemand auch nur ein marginal interessantes Halbgespräch eines Mitfahrenden im Zug erlebt. Denn ebensolche sind selten spannender als Salsa tanzende Nordeuropäer. Oder sind sie schon mal neben Bradley, sechzehn, gesessen und dachten «oh, so habe ich Leibniz’ Monadentheorie im Verhältnis zu Spinoza noch nie betrachtet». Eben. Allerdings beteuerten zwei mir befreundete klinische Psychiater unabhängig voneinander, dass sie Händygespräche im Zug nicht im geringsten stören. Im Gegenteil, die Möglichkeit des konspirativen Mithörens mache die Fahrt erst wirklich amüsant. Ungläubig schockiert habe ich mich nicht weiter gefragt, ob diese pervertierte Form der professionellen Deformation daher rührt, dass sie nach 8 Stunden des gespannten Zuhörens und Diagnostizierens* noch nicht tief genug in den Abgrund menschlichen Elends geschaut haben oder, ob sie selbst der delinquierenden Majorität angehören, welche das Zugabteil mit ihrem Wohnzimmer verwechselt. Bis jetzt hat diese eklatante Dissonanz unserer persönlichen Überzeugungen noch keinen nennenswerten Effekt auf unsere Freundschaft gehabt. Die beiden fahren allerdings auch nicht 1. Klasse.Im TGV, dem Zug, der gemäss einem aktuellen Ranking des World Economic Forum durch eines der gastunfreundlichsten Länder par excellence tingelt (Platz 80 von insgesamt 140 untersuchten Nationen), wird man sinnigerweise darauf hingewiesen, Gespräche in den eher unwirtlichen Zwischenbereichen der Züge zu führen. ?Natürlich kann jemand einwenden, dass man (zumindest in der 1. Klasse) noch sogenannte Ruheabteile hat. Hierzu zwei Dinge: Die Stimmung ist nirgends so angespannt wie in diesen sogenannten Ruheabteilen. Das hat einerseits mit den Ruheabteil-Nazis zu tun, die jeden Fahrgast in aggressivster Weise zurechtweisen, sobald sein dreijähriges Kind einmal hustet. Andererseits gibt es immer wieder Gäste die nicht realisieren, dass sie sich in einem Ruheabteil befinden. Wenn man Schweizer vielleicht noch höflich darauf aufmerksam machen darf, sollte bei Touristen dies tunlichst unterlassen werden. Als würden wir international nicht eh schon als bieder und verkrampft gelten. Das Wort «Bünzli» ist nicht zufällig eine rein schweizerische Wortschöpfung.Unnötig zu erwähnen, dass ich im Zug prinzipiell nie telefoniere oder dann ausserhalb des Abteils mit einer maximalen cut-off Limite von 90 Sekunden. Ich tue dies allerdings nicht aus Rücksicht auf mein Umfeld, welches diese Rücksichtnahme eh nicht verdient hätte (siehe oben). Ich tue es, weil ich das Telefonieren immer noch als höchst intimen Akt der zwischenmenschlichen Interaktion erachte (ich belästige meine Mitfahrenden auch nicht ölfaktorisch aufgrund nachlässiger Duschroutinen oder frittierten Essens).Da sich frühere Befürchtungen, ein übermässiger Handy Gebrauch werde zu schwersten neurologischen Schäden und zahlreichen Hirntumoren führen, leider nie wirklich bewahrheitet haben, sind all die Kommunikationszombis ‚alive and kicking‘. Natürlich bedarf eine solch ausgewachsene Reiseneurose probaterer Mittel, als sie sich in einer kleinen Ding-Dong Glosse von der Seele zu schreiben. Hier bietet die österreichische Firma Handyblocker im grenznahen Bregenz Abhilfe (auch erhältlich bei Harrods oder Selfridges in London). Sie vertreibt Geräte, welche alle Funksignale im Radius von 20m des Auslösers kappt. Das ganze soll illegal sein. Das ist das Foltern eines Mitmenschen jedoch auch, so who cares. Der einzige Grund warum der Extinguisher 4000 nicht schon lange Teil meines Tascheninventars ist hat mit der Annahme zu tun, dass sobald ausgelöst, ich für den Rest der Fahrt mit ungeduldigen «Hallo? Gloria? Ghörsch mi no? Gloria?» Oder «Entschuldigung, händ sie au kei Empfang meh?» belästigt würde. Mir bleibt also lediglich die Hoffnung auf das epidemische Auftreten zerebraler Insulte, Hämorrhagien und Glioblastome, welche in Kürze mehrere Generationen mitteilungsbedürftiger Versager dahinraffen und uns hoffentlich vor allem eins bescheren werden: Ruhe.
* Mein Favorit unter den Angstdiagnosen ist übrigens die Anatidaephobie (Die Angst von Enten beobachtet zu werden). Sicherlich muss es auch Leute geben die unter Antidaephilie leiden (Der Lust von Enten beobachtet zu werden)
Text Stefan Sulzer
Ghost Plane
Text Stefan Sulzer
Ghost Plane
«Der Zustand der Welt ist krank. Wenn ich Arzt wäre und man mich fragte: Was rätst Du? Ich würde antworten: Schaffe Schweigen!» Jean-Jacques RousseauLeserInnen meiner unter dem Titel «Ghost Train» in diesem Magazin publizierten Zeilen sind sich meiner Aversion gegenüber jeglichen, sich in der Sphäre des Öffentlichen befindlichen Rüpel, bewusst. Dazu gehören sich im Zugabteil durch ostentatives Langzeittelefonieren bemerkbar machende Personen, die ihr, von etwelchen Inhibitionen befreites Selbst, weder sich, noch der Welt vorenthalten. Analog Ihrer, werte Leserschaft, individuellen Konfliktfreude, bietet der Zug allerdings gewisse Angriffs- und Rückzugsszenarien. Von einer verbalen, von mir aus gern auch physischen Attacke, bis zur Kapitulation vor dem tumben Subjekt in Form einer geografischen Dislokation. Der Zug bietet eine angemessene Anzahl möglicher Reaktions- (und Interaktions-) Möglichkeiten. Nun stellen Sie sich vor, ein kommunikativer Kretin setzt sich nicht im Zug von Bümpliz nach Biglen, sondern auf dem Flug von Belp nach Baku neben Sie.Sämtliche Entscheidungs- und Handlungsparameter würden sich damit schlagartig ändern. Würden? Die amerikanische FCC (Federal Communications Commision) steht vor dem Schritt, Telefonieren während des Flugs zu erlauben. Ihr Europäisches Pendant wird, so die Vermutungen der hiesigen News Postillen, nicht lange mit der Implementierung desselben Schrittes warten. Nachdem man für einen Flug nach New York entsprechend der jeweiligen Klasse entweder 700.-(Coach) 4000.- (Business) oder 12000.- (First) bezahlt hat, besteht also die Möglichkeit, zweimal siebeneinhalb Stunden neben jemandem zu sitzen, dessen Höflichkeitsempfinden nur noch durch seinen IQ unterboten wird. Das passiert natürlich heute schon. Doch jene unter uns, die sich der unnötigen Marotte des trivialen Sitznachbargesprächs (TSNG) verweigern, fällten solche Urteile bis anhin aufgrund bequemer Pauschalisierungen und kruder Vorurteile. Sollte obige Regelung traurige Realität werden – seitens der Passagiere gibt es riesige Protestwellen – dann werden Sie sich nicht mehr auf instabile Vermutungen verlassen müssen, um die Einfältigen unter uns zu identifizieren. Letztere werden sich ganz unbescheiden selbst Gehör verschaffen.Woher rührt diese unreflektierte Huldigung des technischen Imperativs? Weshalb muss jedmögliche Errungenschaft auf technischem Gebiet eine zu kapitalisierende – das Telefonieren in unbekannten Höhen ist nicht gratis – Anwendung finden? Warum ist das Mögliche, in kausaler Stringenz zwingend das Richtige, das zu Bevorzugende?Möglicherweise finden wir es in Kürze raus.
Zum Abschluss eine Szene aus Curb your Enthusiasm. Möge in uns der Mut wachsen, den unhöflichen Deppen dieser Welt auf ähnliche Weise beizukommen wie dies Larry David tut.
Mehr zum Thema:
www.nzz.ch/aktuell/wirtschaft/uebersicht/weg-frei-fuers-telefonieren-mit-dem-handy-im-flugzeug-1.703505
http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/unternehmen/amerikanische-inlandsfluege-handy-nutzung-im-flugzeug-rueckt-naeher-12709216.html
Text Stefan Sulzer
Trash Diaries
Text Stefan Sulzer
Trash Diaries
Nicht-Besitzer eines TV Geräts mögen erstaunt sein über Formate in welchen das reizlose Leben als offene Wunde dem Publikum als Realität präsentiert wird, die es so nicht gibt, noch nie gab. Aus Musiksendern sind längst Klatsch-Kanäle geworden, das Privatfernsehen führt Schicksale minderbemittelter (pseudo-realer) Familien vor wie in einer viktorianischen Freak Show. Die Privatisierung des Öffentlichen hat im Gegenzug zu einer Öffentlichmachung des Privaten geführt. Der Vorwurf des moralischen Übergewichts lässt sich bei einer minimal-kritischen Betrachtung des auf den Kanälen privater Fernsehanstalten gängigen Harz IV TV’s einfach etablieren. Sofort klingt eine Kritik desselben verbittert, reaktionär, kultursnobistisch. Sie läuft Gefahr zu einem besserwisserischen Pamphlet des Gewissens zu verkommen. Wissensdünkel steht nur ganz wenigen gut, angestrengter Wissensdünkel gar keinem. «You try too hard, you fail too easy». Gerade deshalb sind jene Polemiken und Kritiken spannend, die sich nicht durch ein überzeichnetes Mass an Schlaumeierei disqualifizieren. Das Intime bezeichnet keine gültige Grenze mehr vor deren Überschreiten ein bedachtes (quotenschädigendes) Innehalten stattfindet. Getreu Russell Brand’s Motto (das sich bei ihm allerdings auf seine Kommentare des öffentlichen Lebens bezieht, und nicht auf das Zuschautragen peinlicher Initmitäten): «I don’t know where the line is until I’ve overstepped it. And anyway, most of the time that line is drawn in after I have crossed it.» Ohne gezielt zu suchen begegnen wir gefilmten Tagebüchern neureicher Prolls, folgen spätpubertierenden Halb-Machos durch die Nacht in L’loret oder sehen bei Shows wie «Jersey Shore» oder dem englischen «The Only Way is Essex» Menschen beim inszenierten Alltag zu. Mit kardashianischer Offenheit stellen sogenannte «real people» ein Leben zur Schau, welches der Aura des Trivialen huldigt und die angeblich zutiefst menschlichen Auswüchse unserer Zeitepoche zur bestimmenden Essenz eines Formats erheben. Untenstehend drei Clips. Von einem wünschte man sich er könnte so in einer Reality Show passieren, den Inhalt der anderen beiden hat man vergessen bevor der weisse Punkt das erlösende Ende der youtuberoten timeline erreicht.
http://www.youtube.com/watch?v=EQAr_AjZt-E
http://www.youtube.com/watch?v=91GzB9DHAAM
http://www.youtube.com/watch?v=FCjeky6jAfI
Text Stefan Sulzer
Really Andy?
Text Stefan Sulzer
Really Andy?
Okay, Andy meinte vielleicht Supermärkte an sich und nicht die sie besetzenden Waren, möglicherweise spezifische, die der 60er und 70er Jahre – who knows. Doch weist seine Behauptung: „Schliess heute ein Warenhaus zu, öffne die Tür nach 100 Jahren, und du hast ein Museum moderner Kunst. (1985)“ etwelche Gültigkeit auf? Ohne sich hier in allzu abwegigen Interpretationen versteigen zu wollen, kann die direkte Antwort einfach so lauten: Nein. Denn nichts ist tatsächlich zeitlos. Und wenn, dann höchstens im Sinne der anhaltenden Affekte, welche einem Objekt über den materiellen Zerfall hinaus erhalten bleiben mögen. Die Attribute der zeitlichen Entstehung desselben, lassen sich aber nicht durch eine Form des ikonologischen Exorzismus vertreiben. Die Zukunft, wie wir sie aus Filmen der 70er Jahre kennen, ist und bleibt die Zukunft wie sie einzig und allein in den 70er Jahren existierte. Schönstes Beispiel hierzu ist Woody Allen’s Meisterwerk „Sleeper“, in dem er ein umwerfend komisches Bild des Jahres 2173 entwirft. Und selbst Zaha Hadid’s fantastisches Performing Arts Centre in Abu Dhabi wird irgendwann sooo 2014 sein (sollte es denn je gebaut werden). Der Versuch, die Zeitlichkeit ihrer Objekte auf eine kommende Ära des organischen Futurismus zu richten, wird in (mittel-) ferner Zukunft, so klar an unsere Zeit gebunden sein, wie die Krise, welche die Fertigstellung ihres Objekts möglicherweise verhindert.So no, Andy, if you open a supermarket after a hundred years of closure, it won’t look like a museum of modern art, it’ll just look like an outdated supermarket that needs dusting.
Die Bilder zeigen 100-jährige Produkte, die laut Andys Theorie heute als zeitgenössische Kunstobjekte in Museen zu sehen sein müssten.
Text Stefan Sulzer
Wir sind Krise
Text Stefan Sulzer
Wir sind Krise
Der vielbeschworene Markt. Von seinen Jüngern stetig als wohlwollende Entität beschrieben, deren Macht als ausgleichendes Korrektiv der Bestimmung von Verlierenden und Gewinnenden dient. Eine uns zum Nirvana des freien Handels hinführende Epiphanie. Der Frederic Jameson und Slavoj Zizek zugeschriebene Leitsatz, es sei einfacher sich das Ende der Welt, als jenes des Kapitalismus vorzustellen, wird in dem im Jahr 2009 publizierten Buch Capitalist Realism: Is there no alternative? von Mark Fisher ausgiebig diskutiert. Er nimmt sich darin der seit mehreren Jahrzehnten uneingeschränkten Erstarkung des kapitalen K’s an. Der Text beschreibt den momentanen Zustand fehlender Alternativen zu einer kapitalistischen Weltordnung. Der darniederliegende Patient wird nur noch palliativ behandelt, an Heilung glauben nur noch träumende Idealisten. Wie auch, wenn selbst die bereitgestellte Abhilfe Teil der Maschinerie ist, welche sie zu bekämpfen sucht? Wird das Geld nur am richtigen Ort ausgegeben, so eröffnen sich uns Wege, zur Verbesserung des allgemeinen Leids beizutragen. Im Bewusstsein um die ökologischen Schäden der fossil betriebenen Transportgesellschaft, outsourcen wir beispielsweise die Bekämpfung derselben gern in Entwicklungsländer, eine Gutfühlstrategie, die uns weismachen will, dass es möglich ist Gutes zu tun, ohne die geringsten Einschränkungen der eigenen Lebensführung, in Kauf nehmen zu müssen. Okay, ich fliege zwar oft, dafür baut ein Bio Bauer irgendwo in Südostasien gestützt durch meine freiwilligen Abgaben eine Windanlage. Einschneidende Veränderungen der persönlichen Lebenshaltung werden dadurch bequem ausgeschlossen. Nichts darf die eigene uneingeschränkte Freiheit tangieren. Ich will zwar dass der Übergewichtige, eben erst zugestiegene und unappetitlich riechende Typ, irgendwo im Zug einen freien Platz kriegt, solange es nicht genau der neben mir ist.
Die vielzitierte Krise, welche im Sommer 2007 ihren unrühmlichen Anfang nahm, hallt, den unzähligen Stimulus Paketen zum Trotz, täglich nach. Vor direkten Auswirkungen grösstenteils verschont, mögen manche hierzulande indes nur aus der Zeitung wissen, dass gerade Krise ist. Allerdings hat sich beispielsweise der Preis für das Eintrittsticket in die soziale Mobilität (Bildung) auch in westlichen Ländern erhöht. Etwas was im schweizerischen Bildungssektor gerade diskutiert wird. Eine harte Realität, so man sie denn am eigenen Leib erfährt.
Die Ereignisse des Jahres 2008 bescherten Kapitalismuskritikern die Hoffnung, gefolgt von der, das Potenzial der Hoffnung übersteigenden Ernüchterung, nach fundamentaler Veränderung. Zizek’s Mantra fand sozialpolitische und ökonomische Bedingungen vor, welche eine Re-Evaluation dringlich erscheinen liessen. Wie Mark Fisher in seinem (von Zizek übrigens hochgelobten) Buch schreibt, sind die Konditionen, ein System einem fundamentalen „Reality Check“ zu unterziehen, dann am besten, wenn ebendieses schwächelt, oder gar zu kollabieren droht. Das war 2008 offensichtlich der Fall. Allerdings folgte in Form von Rettungspaketen, in bisher unbekannten Höhen, umgehend die unverkennbare Bestätigung, dass unserer Welt nicht ohne, genau das eben noch am Boden liegende Konstrukt einer kapitalistischen Ordnung, leben kann. Welch weitreichendere Bestätigung könnte sich ein System denn wünschen, als von den Menschen gerettet zu werden, welche es eben erst in den Ruin trieb? Wie unverzichtbar muss einen solche Struktur erscheinen? Wie unvorstellbar valable Alternativen?
Mark Fisher’s Vorschläge zur Überwindung des Kapitalismus wirken mit Blick auf die Übermacht seines ideologischen Feindes eher bescheiden, wenig einschneidend und durchaus verhalten. Trotzdem lohnt es sich seiner Suche nach einem möglichen Gegenentwurf zu folgen, selbst wenn für viele alleine der Wunsch nach einem solchen, als Beweis eines unzureichenden Realitätssinns dienen mag.
Mehr zum Thema:
Spannendes Interview mit Slavoj Zizek in der WOZ
http://www.woz.ch/1248/slavoj-zizek/lasst-doch-die-reichen-reich-sein
Tipp Stefan Sulzer
Buchtipp: Confessions of a Poor Collector
Tipp Stefan Sulzer
Buchtipp: Confessions of a Poor Collector
Das grossartige Büchlein „Confessions of a Poor Collector“ von Edition Taube. Das perfekte Geschenk für Leute die gleichermassen an Kunst, Geld und Prestige interessiert sind.